Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 189



123 V 189

35. Auszug aus dem Urteil vom 22. Oktober 1997 i.S. WH. gegen Kantonale
Pensionskasse Solothurn und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
Regeste

    Art. 4 Abs. 2 BV, Art. 49 BVG: Witwerrente. Kennen die Statuten einer
öffentlichrechtlichen Vorsorgeeinrichtung das Institut der Witwerrente
überhaupt nicht, kann eine solche nicht gestützt auf Art. 4 Abs. 2 BV
zugesprochen werden.

Sachverhalt

    A.- AH., geb. 1928, war seit 1972 Lehrerin an der Schule X und als
solche seit dem 16. Oktober 1981 bei der Kantonalen Pensionskasse Solothurn
(PKS) (früher: Staatliche Pensionskasse Solothurn) vorsorgeversichert. Mit
Schreiben vom 9. Januar 1989 kündigte sie ihre Stelle krankheitshalber
auf Anfang des Schuljahres 1989. Das Erziehungsdepartement ersuchte in
der Folge die PKS, die Versicherte vorzeitig auf den 1. August 1989 zu
pensionieren. Die PKS eröffnete AH. mit Verfügung vom 1. September 1989,
dass ihr - vorbehältlich der Zustimmung der Verwaltungskommission - ab 1.
August 1989 eine Invalidenrente von monatlich Fr. 1'477.-- zustehe. Das
mitversandte Anmeldeformular zum Leistungsbezug gelangte am 26. September
1989 unterzeichnet an die PKS zurück, nachdem die Renten für August und
September 1989 bereits überwiesen worden waren. Am 30. September 1989
verschied AH. in der Klinik, wo sie sich im Anschluss an ihren am 21. Juli
1989 erfolgten Eintritt in das Spital A. aufgehalten hatte.

    Am 12. November 1992 ersuchte WH., der überlebende Ehegatte der
Versicherten, die PKS um Prüfung seines Anspruchs auf eine Witwerrente. Mit
Schreiben vom 1. Februar 1993 verneinte die PKS ihre Leistungspflicht
mit dem Hinweis, die anwendbare statutarische Ordnung kenne das Institut
der Witwerrente nicht.

    B.- Am 11. April 1994 reichte WH. beim Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn Klage ein mit dem Begehren, die PKS habe ihm einen Betrag in
Höhe der seiner verstorbenen Ehegattin zustehenden Freizügigkeitsleistung
(samt Zins) oder - eventualiter - eine Witwerrente zuzuerkennen. Das
Gericht wies die Klage mit Entscheid vom 8. März 1995 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert WH. seine im kantonalen
Verfahren gestellten Rechtsbegehren. Die PKS schliesst auf Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das
Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) beantragt Abweisung des Haupt-,
jedoch Gutheissung des Eventualbegehrens.

    D.- Am 22. Oktober 1997 hat das Eidg. Versicherungsgericht eine
parteiöffentliche Beratung durchgeführt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf
eine Witwerrente hat. Zur Begründung dieses Begehrens wird in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde lediglich vorgebracht, die entsprechenden
Erwägungen im angefochtenen Gerichtsentscheid liefen der Rechtsprechung
zuwider.

    b) Die PKS, eine Vorsorgeeinrichtung des kantonalen öffentlichen
Rechts, kennt in ihren Statuten vom 2. Dezember 1968 wohl eine
Witwenpension für die überlebende Ehegattin eines pensionsversicherten
Mitgliedes oder des Bezügers einer Alters- und Invalidenpension (§§
8 Abs. 1 lit. a und 35), hingegen keinen vergleichbaren Anspruch
für den überlebenden Ehegatten einer weiblichen Versicherten oder
Leistungsbezügerin. Diese Ungleichbehandlung entspricht der vom
Bundesgesetzgeber für den Bereich der obligatorischen beruflichen Vorsorge
getroffenen Regelung (Art. 19 Abs. 1 BVG). Sie ist im Rahmen einer auf
den 1. Januar 1993 in Kraft gesetzten Revision der PKS-Statuten behoben
worden; eingeführt wurde eine geschlechtsunabhängig ausgestaltete
"Rente des überlebenden Ehegatten" (§ 28). Die rückwirkende
Anwendung dieser Bestimmung auf die vor dem 31. Dezember 1992
eingetretenen Versicherungsfälle fällt gemäss Übergangsordnung (§ 64)
unbestrittenermassen ausser Betracht.

    c) Das kantonale Gericht hat die Ausgestaltung des
Hinterlassenenrentenanspruchs in der hier anwendbaren Fassung der
PKS-Statuten im Lichte von Art. 4 Abs. 2 BV als verfassungswidrig
bezeichnet. Des weiteren hat es erwogen, der kantonale Gesetzgeber habe die
ihm einzuräumende Übergangsfrist zur Anpassung an die verfassungsmässige
Ordnung nicht genutzt, womit die von der Rechtsprechung (BGE 116 V 215
Erw. 3b; vgl. ferner BGE 117 V 323 Erw. 4c) umrissenen Voraussetzungen
für ein richterliches Eingreifen in zeitlicher Hinsicht gegeben wären. Von
einem Eingriff hat die Vorinstanz jedoch unter Hinweis auf BGE 117 V 326
Erw. 6b abgesehen, weil mit der Anerkennung eines Witwerrentenanspruchs
eine neue Leistungsart eingeführt würde, was für die PKS mit weitgehenden
finanziellen Folgen verbunden wäre, die sich im Rahmen fallbezogener
gerichtlicher Beurteilung nicht abschätzen liessen.

    d) Das BSV geht in seiner Vernehmlassung ebenfalls von der
Verfassungswidrigkeit der hier in Frage stehenden Ordnung aus. Im
Unterschied zum kantonalen Gericht erachtet es hingegen die Folgen,
die mit der Anerkennung einer in den Statuten nicht vorgesehenen
Witwerrente einhergingen, als überschaubar. Dies werde gerade durch die
auf den 1. Januar 1993 erfolgte Einführung eines geschlechtsunabhängig
ausgestalteten Hinterlassenenrentenanspruchs bestätigt.

    e) Das Eidg. Versicherungsgericht hatte sich schon wiederholt
mit Leistungsansprüchen zu befassen, die unter Berufung auf das
verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot von Mann und Frau (Art. 4
Abs. 2 BV) erhoben wurden. Dabei ging es verschiedentlich auch um die
Frage des Witwerrentenanspruchs.

    In BGE 116 V 198 war der Fall einer öffentlichrechtlichen
Vorsorgeeinrichtung zu beurteilen, deren Statuten zwar eine
Witwerrente vorsahen, diesen Anspruch indes im Vergleich zur
Witwenrente von erschwerten Voraussetzungen abhängig machten. Da
sich diese Ungleichbehandlung weder durch biologische noch durch
funktionale Verschiedenheiten rechtfertigen liess, schloss das Eidg.
Versicherungsgericht auf eine Verletzung von Art. 4 Abs. 2 BV und
sprach dem Versicherten in Nichtanwendung der verfassungswidrigen
Anspruchsvoraussetzung eine Witwerrente zu (BGE 116 V 211 f., 216 Erw. 3b).

    Laut BGE 117 V 318 verletzt ein unterschiedliches Pensionierungsalter
für weibliche und männliche Beamte im Rahmen einer kantonalen Pensionskasse
Art. 4 Abs. 2 BV. Das Eidg. Versicherungsgericht beschränkte sich indes
auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit unter Verzicht auf die
Herstellung des verfassungsmässigen Zustandes; es verwies insbesondere auf
die limitierte funktionelle Eignung des Richters, einen Regelungsbereich
grundlegend neu zu normieren (BGE 117 V 323 ff.; vgl. ferner 119 V 282
Erw. 4b und SZS 1995 S. 141).

    In BGE 120 V 312 ging es um eine privatrechtliche Vorsorgeeinrichtung,
die laut Reglement und Vorsorgevertrag keinen Anspruch auf Witwerrente
kannte. Das Eidg. Versicherungsgericht liess die Frage nach der
Verfassungsmässigkeit dieser Regelung ausdrücklich offen. Es anerkannte
zwar die Geltung von Art. 4 Abs. 2 BV gegenüber privatrechtlich
organisierten Vorsorgeträgern im Sinne indirekter Drittwirkung;
entscheidend war aber, dass hinsichtlich der streitigen Rechtsfrage
weder Reglement noch Vorsorgevertrag eine Lücke aufwiesen oder eine
Bestimmung enthielten, die nach Massgabe des Verfassungsrechts zu füllen
oder entsprechender Auslegung zugänglich gewesen wäre (BGE 120 V 316 f.).

    f) Selbst wenn die Verfassungswidrigkeit der hier in Frage stehenden
Beschränkung des Hinterlassenenrentenanspruchs auf die überlebenden
Ehegatten männlicher Versicherter oder Leistungsbezüger angesichts der
bisherigen Rechtsprechung kaum zweifelhaft zu sein scheint (vgl. BGE
120 V 314 Erw. 2b; ferner FEHLMANN, Neues Eherecht und Gleichheit in
der Personalvorsorge, SPV 1988 S. 322 f., und SCHULZ, Effets et manque
d'effets de l'art. 4 al. 2 Cst., AJP 1993 Nr. 11 S. 1316), kann eine
abschliessende Beurteilung unterbleiben. Dem gestellten Begehren ist
dabei nicht unter Berufung auf die unabsehbaren finanziellen Folgen und
die sachlichen Grenzen richterlichen Eingreifens entgegenzutreten. Denn
die hier allein interessierende Einführung des als Risikoleistung
vergleichsweise eher selten aktuell werdenden Witwerrentenanspruchs
erwiese sich in verschiedener Hinsicht als weit weniger folgenschwer
als die für eine Vielzahl der Versicherten bedeutsame Neuordnung
des Pensionierungsalters. Deshalb dürften seine Anerkennung auf dem
Wege der Rechtsprechung und die damit verwirklichte Durchsetzung
der verfassungsmässigen Ordnung jedenfalls nicht an der beschränkten
funktionellen Eignung gerichtlicher Verfahren scheitern.

    Entscheidend kann auch nicht sein, dass es sich bei der hier
beteiligten Vorsorgeeinrichtung um eine solche des kantonalen öffentlichen
Rechts handelt, gegenüber welcher der grundrechtliche Gehalt von Art. 4
Abs. 2 BV - im Unterschied zum privatrechtlichen Regelungsbereich (BGE 120
V 316 Erw. 3b) - nicht nur im Sinne indirekter Drittwirkung (horizontal),
sondern wesensgemäss in seiner ganzen Tragweite (vertikal) durchschlägt
(BGE 114 Ia 331 Erw. 2b, vgl. ferner BGE 117 Ia 112 Erw. 5b). Vielmehr
ist ausschlaggebend, dass Art. 4 Abs. 2 BV nicht dazu dienen kann,
Leistungsansprüche einzuführen, welche die anwendbare statutarische
Ordnung - in Übereinstimmung mit der bundesgesetzlichen Regelung im
Bereich der obligatorischen Vorsorge - nicht kennt (vgl. WALSER, Aktuelle
rechtliche Probleme im Hinblick auf den Vollzug des BVG, SZS 1988 S. 311;
derselbe, Gleichstellung von Mann und Frau, Akzente und Konsequenzen
der Rechtsprechung, Schweizerische Arbeitgeber-Zeitung 1992 Nr. 15/16
S. 386). In diesem Sinne und entsprechend der vom Gesetz grundsätzlich
verfolgten Gleichstellung der verschiedenen Trägerformen (vgl. Art. 49
BVG) hat für die öffentlichrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen dasselbe zu
gelten wie für die privatrechtlichen (vgl. BGE 120 V 317 Erw. 3b).

    g) Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche Verneinung des geltend
gemachten Anspruchs auf eine Witwerrente im Ergebnis nicht zu beanstanden,
da die hier anwendbaren PKS-Statuten in der Fassung vom 2. Dezember 1968
diese Leistung überhaupt nicht vorsehen und die mit der Statutenrevision
geschaffene neue Ordnung unbestrittenermassen nicht zur Anwendung gelangt.