Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 175



123 V 175

32. Auszug aus dem Urteil vom 31. Juli 1997 i.S. B. gegen IV-Stelle des
Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 59 Abs. 2 IVG, Art.
72bis IVV: Unabhängigkeit der medizinischen Abklärungsstellen der
Invalidenversicherung (MEDAS). Die nach Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK vorausgesetzte Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gutachter
der MEDAS war bereits in der Zeit vor Inkrafttreten des neuen Statuts der
medizinischen Abklärungsstellen der Invalidenversicherung (am 1. Juni 1994)
gewährleistet. Die Einflussnahme des Bundesamtes für Sozialversicherung
beschränkte sich auf administrativ-organisatorische Belange. Mit dem
neuen Statut wurde die schon zuvor bestehende fachlich-inhaltliche
Weisungsunabhängigkeit der begutachtenden Ärzte institutionell verankert.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Das kantonale Gericht gelangte im wesentlichen gestützt auf das
Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 28. Juni 1993
sowie in Würdigung der im Verlaufe des Beschwerdeverfahrens eingeholten
Arztberichte zur Auffassung, dass der Beschwerdeführer mit Rücksicht
auf die Gesundheitsschädigung seinen früheren Beruf als Autospengler im
Umfang von 60% ausüben und ein dieser Leistungsfähigkeit entsprechendes
Erwerbseinkommen erzielen könnte.

    Der Beschwerdeführer macht geltend, die Expertise der MEDAS sei
unvollständig, da von einer neuropsychologischen Untersuchung abgesehen
worden sei. Das Gutachten könne aber auch deshalb nicht als massgebend
erachtet werden, weil der MEDAS aufgrund ihrer besonderen Nähe zur
Invalidenversicherung die erforderliche Unabhängigkeit fehle, was sich
insbesondere auch aus deren zum Zeitpunkt der Untersuchung im Juni
1993 in Kraft gewesenem Statut (vom 3. April 1978) ergebe. Daraus
sei ersichtlich, dass die Ärzte der MEDAS auch bezüglich ihrer
medizinischen Gutachtertätigkeit der Weisungsbefugnis des Bundesamtes
für Sozialversicherung (BSV) unterstünden, welches ihnen Instruktionen
erteilen und sie zu Konferenzen einladen könne. Diese funktionellen
und organisatorischen Gegebenheiten seien geeignet, Zweifel an der
Unparteilichkeit der Gutachter zu wecken. Das Weisungsrecht des BSV
gegenüber den Ärzten der Abklärungsstelle verletze sodann die von Art. 6
Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien.

    d) Wie das Eidg. Versicherungsgericht in einem neuesten, die
Unfallversicherung betreffenden Urteil bestätigt hat, kann auch
den Berichten und Gutachten versicherungsinterner Ärzte Beweiswert
beigemessen werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar
begründet sowie in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen
ihre Zuverlässigkeit bestehen. Die Tatsache allein, dass der befragte
Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht,
lässt nicht schon auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit
schliessen. Es bedarf vielmehr besonderer Umstände, welche das Misstrauen
in die Unparteilichkeit der Beurteilung objektiv als begründet erscheinen
lassen. Im Hinblick auf die erhebliche Bedeutung, welche den Arztberichten
im Sozialversicherungsrecht zukommt, ist an die Unparteilichkeit
des Gutachters allerdings ein strenger Massstab anzulegen (BGE 122 V
161 unten f.). Im nämlichen Urteil (S. 163 ff. Erw. 2) hat das Eidg.
Versicherungsgericht im weiteren festgestellt, dass es auch im Lichte der
von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien im Rahmen
der freien Beweiswürdigung grundsätzlich zulässig ist, den Entscheid
ausschlaggebend oder gar ausschliesslich auf verwaltungsinterne Abklärungen
zu stützen. Aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK und der zugehörigen Rechtsprechung
ergeben sich diesbezüglich keine weitergehenden Anforderungen, als sie
das Bundesrecht kennt.

Erwägung 4

    4.- a) Gemäss Art. 72bis IVV trifft das Bundesamt mit Spitälern
oder anderen geeigneten Stellen Vereinbarungen über die Errichtung
von medizinischen Abklärungsstellen, welche die zur Beurteilung von
Leistungsansprüchen erforderlichen ärztlichen Untersuchungen vornehmen. Es
regelt Organisation und Aufgaben dieser Stellen und die Kostenvergütung.

    Im Juni 1993, als der Beschwerdeführer in der MEDAS untersucht wurde,
stand noch das vom BSV am 3. April 1978 erlassene Statut in Kraft, welches
mit Wirkung ab 1. Juni 1994 durch eine neue Regelung ersetzt wurde. Beim
fraglichen Statut handelt es sich um eine gestützt auf Art. 72bis
IVV erlassene Weisung (MEYER-BLASER, Der Einfluss der Europäischen
Menschenrechtskonvention auf das schweizerische Sozialversicherungsrecht,
in: ZSR 113 1994, I. Halbband, S. 402 Fn. 76).

    Ziff. 1 des im vorliegenden Fall massgeblichen Statuts in der Fassung
vom 3. April 1978 umschrieb die Aufgaben der Abklärungsstellen wie folgt:

    1.1 Die MEDAS beurteilen im Auftrag der IV-Kommissionen den gesamten

    Gesundheitszustand von Versicherten, wenn die in diesem Bereich
   erforderliche Abklärung besonders schwierig ist und auf andere Weise
   nicht durchgeführt werden kann. Die Abklärungen haben den IV-Organen
   die für die

    Beurteilung des Anspruches auf Leistungen erforderlichen medizinischen

    Angaben zu beschaffen. Insbesondere gehören dazu Angaben über
vorliegende

    Gesundheitsschäden und deren Auswirkungen auf die Arbeits- und

    Erwerbsfähigkeit sowie die Möglichkeit und die Zumutbarkeit von

    Eingliederungsmassnahmen aus medizinischer Sicht ...

    1.2 ...

    1.3 ...

    1.4 ...

    Nach Ziff. 2.2 erfolgt die Errichtung von Abklärungsstellen durch
Vertrag des BSV mit Trägerorganisationen, die bereit sind, eine MEDAS
gemäss Statut, das integrierender Bestandteil des Vertrages ist,
zu errichten.

    Gemäss Ziff. 2.3 werden die Kosten für die Einrichtung und den Betrieb
der MEDAS im Rahmen einer vernünftigen und wirtschaftlichen Betriebsführung
durch die Invalidenversicherung getragen.

    Unter dem Titel "Organisation" fand sich in Ziff. 3 des Statuts sodann,
soweit vorliegend von Belang, folgende Regelung:

    3.1 Die Anstellung des Personals und die Bereitstellung der
   erforderlichen

    Einrichtungen erfolgen durch die Trägerorganisation im Einvernehmen
mit dem

    BSV. Der Vertrag mit der Trägerorganisation regelt die Einzelheiten.

    3.2 Die MEDAS steht unter der Leitung eines vollamtlich tätigen Arztes,
   dem ein bis zwei weitere Ärzte und das nötige Hilfspersonal beizugeben
   sind. Die Obliegenheiten des Personals sind in Pflichtenheften zu
   umschreiben. Pflichten und Rechte des Personals sind in

    Einzelarbeitsverträgen festzulegen. Pflichtenhefte und Verträge
der Ärzte
   bedürfen der Genehmigung des BSV.

    3.3 ...

    3.4 Die Ärzte der MEDAS unterstehen hinsichtlich der medizinischen

    Gutachtertätigkeit dem ärztlichen Dienst des BSV, der ihnen Weisungen
   erteilen und sie zu Instruktionen und Konferenzen einladen kann.

    b) In den unveröffentlichten Urteilen Z. vom 12. April 1994 und
D. vom 6. Juni 1994 hat das Eidg. Versicherungsgericht unter Hinweis
auf Art. 72bis IVV festgestellt, dass es sich bei der MEDAS um die
spezialisierte Abklärungsstelle handelt, die weder den Durchführungsorganen
noch der Aufsichtsbehörde in irgendeiner Art weisungspflichtig noch
sonstwie untergeordnet ist, sondern auf tarifvertraglicher Grundlage
medizinische Abklärungen vornimmt, die einzig und allein nach bestem
ärztlichen Wissen und Gewissen zu erstatten sind. Im Urteil F. vom
4. August 1995 (AHI 1997 S. 120) wurde sodann erkannt, dass das
vom BSV gestützt auf Art. 72bis IVV erlassene, am 1. Juni 1994 in
Kraft getretene neue Statut der medizinischen Abklärungsstellen in der
Invalidenversicherung die erforderliche Unabhängigkeit der MEDAS bei der
Erfüllung von Gutachteraufträgen garantiert.

    Aus den beiden erstgenannten Urteilen ergibt sich, dass das Eidg.
Versicherungsgericht die erforderliche Unabhängigkeit der MEDAS bereits
vor Inkrafttreten des neuen Statuts bejaht hat, das in dieser Hinsicht
insofern eine Neuerung aufweist, als in Ziff. 4.2.4 nunmehr ausdrücklich
festgehalten ist, dass der Chefarzt und die Ärzte der MEDAS ihren
gutachterlichen Auftrag unabhängig und in ihrem freien Ermessen erfüllen
und in ihrer Meinungsbildung keinerlei Einfluss seitens der Aufsichtsorgane
unterstehen. Damit wurde die schon zuvor bestehende fachlich-inhaltliche
Weisungsunabhängigkeit der begutachtenden Ärzte institutionell verankert
(vgl. dazu MEYER-BLASER, aaO, S. 401). Ungeachtet des Umstandes, dass das
alte Statut keine analoge Bestimmung kannte, lässt sich die nach Art. 4 BV
und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vorausgesetzte Unabhängigkeit und Unbefangenheit
der Abklärungsstelle auch für die Zeit vor Inkrafttreten des revidierten
Statuts nicht ernstlich in Zweifel ziehen. Wenn selbst aus der Tatsache,
dass ein Arzt in einem Anstellungsverhältnis zum Versicherungsträger steht,
nicht auf mangelnde Objektivität und auf Befangenheit zu schliessen ist,
kann dieser Vorwurf um so weniger gegenüber den Ärzten der MEDAS erhoben
werden, welche nicht durch den Versicherungsträger selber, sondern
durch die jeweilige Trägerorganisation angestellt werden. Entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers kann aus Ziff. 3.4 des früheren Statuts
nicht abgeleitet werden, dass das BSV auf die inhaltliche Seite der
Gutachtertätigkeit Einfluss nehmen konnte. Aus der Systematik des Statuts
ergibt sich vielmehr, dass sich die Weisungsbefugnis des Bundesamtes
einzig auf die organisatorischen und administrativen Belange bezogen hat,
trug doch Ziff. 3 die Überschrift "Organisation".

    Schliesslich ist auch nicht entscheidend, dass die Kosten für die
Einrichtung und den Betrieb der MEDAS durch die Invalidenversicherung
getragen werden (Ziff. 2.3 des Statuts). Denn der Umstand, dass
Abklärungsdienste, Gutachterstellen usw. mit Mitteln des Sozialversicherers
finanziert werden, steht der Annahme eines fairen Abklärungsverfahrens
nicht im Wege (MEYER-BLASER, aaO, S. 401 f.).

    Nach dem Gesagten liegen keine Gründe vor, die auf mangelnde
Objektivität und auf Voreingenommenheit der Ärzte der MEDAS schliessen
liessen, was Zweifel am Beweiswert ihrer Gutachten rechtfertigen
könnte. Diese sind vielmehr im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu prüfen
und bei der Beurteilung des streitigen Rechtsanspruchs zu berücksichtigen.