Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 V 150



123 V 150

26. Urteil vom 27. Mai 1997 i.S. Öffentliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt
gegen S. und Kantonale Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung
Basel-Stadt Regeste

    Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG, Art. 104 lit. a OG. Die Verwaltungspraxis,
wonach der Versicherte bei unwahren Angaben betreffend Nachweis
persönlicher Arbeitsbemühungen in der Regel an der oberen Grenze schweren
Verschuldens in der Anspruchsberechtigung eingestellt wird, ist als
Ermessensmissbrauch zu qualifizieren.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 2. Februar 1996 stellte die Öffentliche
Arbeitslosenkasse Basel-Stadt S. ab 3. Januar 1996 für die Dauer von 60
Tagen in der Anspruchsberechtigung ein mit der Begründung, er habe der
Kasse gegenüber unwahre Angaben betreffend der Stellensuche gemacht.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess die Kantonale
Schiedskommission für Arbeitslosenversicherung Basel-Stadt teilweise gut
und setzte die Einstellung in der Anspruchsberechtigung von 60 auf 45
Tage herab (Entscheid vom 22. August 1996).

    C.- Die Öffentliche Arbeitslosenkasse Basel-Stadt führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, bezüglich der festgesetzten
Einstellungsdauer sei der Entscheid der Kantonalen Schiedskommission für
Arbeitslosenversicherung aufzuheben und die Verfügung der Arbeitslosenkasse
wieder herzustellen.

    S. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen
und stellt das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit lässt sich nicht vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG ist der Versicherte in der
Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn er unwahre oder unvollständige
Angaben gemacht oder in anderer Weise die Auskunfts- oder Meldepflicht
verletzt hat.

    b) Der Einstellungstatbestand von Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG ist
stets erfüllt, wenn der Versicherte die der Kasse, dem Arbeitsamt oder
der kantonalen Behörde einzureichenden Formulare nicht wahrheitsgemäss
oder unvollständig ausfüllt. Eine Melde- oder Auskunftspflichtverletzung
ist darüber hinaus aber auch schon gegeben, wenn der Versicherte seine
Pflichten gemäss Art. 96 Abs. 1 und 2 AVIG verletzt. Laut Abs. 1 dieser
Bestimmung müssen die Leistungsempfänger den Kassen und den zuständigen
Behörden des Bundes und der Kantone alle erforderlichen Auskünfte erteilen
und die nötigen Unterlagen vorlegen. Solange der Versicherte Leistungen
bezieht, muss er aufgrund von Art. 96 Abs. 2 AVIG der Kasse überdies
unaufgefordert alles melden, was für die Anspruchsberechtigung oder für
die Leistungsbemessung von Bedeutung ist, namentlich was den Anspruch
auf Kinder- oder Ausbildungszulagen betreffen könnte sowie Änderungen
des erzielten Verdienstes oder Zwischenverdienstes. Der Einstellungsgrund
von Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG umfasst somit jede Verletzung der Pflicht
des Versicherten zu wahrheitsgemässer und vollständiger Auskunft sowie
zur Meldung aller leistungsrelevanten Tatsachen. Unerheblich ist,
ob die falschen oder unvollständigen Angaben für die Ausrichtung der
Versicherungsleistungen oder deren Bemessung kausal sind (ARV 1993/1994
Nr. 3 S. 21 Erw. 3b).

    c) Die Einstellung in der Anspruchsberechtigung gemäss  Art. 30
AVIG hat nicht den Charakter einer Strafe im Sinne des Strafrechts,
sondern denjenigen einer verwaltungsrechtlichen Sanktion mit dem Zweck,
der Gefahr missbräuchlicher Inanspruchnahme der Arbeitslosenversicherung
zu begegnen. Als solche kann sie ungeachtet der Regel des Art. 68 StGB
wiederholt verfügt werden (ARV 1993/1994 Nr. 3 S. 22 Erw. 3d).

    d) Die Dauer der Einstellung bemisst sich nach dem Grad des
Verschuldens (Art. 30 Abs. 3 AVIG) und beträgt 1 bis 12 Tage bei leichtem,
13 bis 25 Tage bei mittelschwerem, 26 bis 60 Tage bei schwerem Verschulden
und mindestens 45 Tage bei wiederholtem mittelschwerem oder schwerem
Verschulden (Art. 45 Abs. 2 lit. a-d AVIV in der im Jahr 1996 geltenden,
hier anwendbaren Fassung).

Erwägung 2

    2.- Streitig und zu prüfen ist, ob die von der Vorinstanz auf 45 Tage
reduzierte Dauer der Einstellung in der Anspruchsberechtigung im Sinne des
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestellten Rechtsbegehrens wieder auf
60 Tage zu erhöhen ist. Dabei ist die von der Verwaltung befolgte Praxis,
bei unwahren Angaben (Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG) betreffend Nachweis
persönlicher Arbeitsbemühungen den Versicherten in der Regel an der oberen
Grenze schweren Verschuldens in der Anspruchsberechtigung einzustellen,
zu überprüfen. Es fragt sich, ob die Verwaltung mit der von ihr befolgten
Praxis das ihr zustehende Ermessen im Rahmen des schweren Verschuldens
(26-60 Einstellungstage) sachgerecht und mithin rechtsfehlerfrei oder
missbräuchlich ausübt. Bei der Unangemessenheit (Art. 132 lit. a OG) geht
es um die Frage, ob der zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach dem
ihr zustehenden Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien
in einem konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders
hätte ausfallen sollen. Allerdings darf der Sozialversicherungsrichter sein
Ermessen nicht ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung
setzen, das Gericht muss sich somit auf Gegebenheiten abstützen können,
welche seine abweichende Ermessensausübung als naheliegender erscheinen
lassen. Auch ist den Bestrebungen der Verwaltung bzw. der Versicherer
Rechnung zu tragen, die darauf abzielen, durch interne Weisungen,
Richtlinien, Tabellen, Skalen usw. eine rechtsgleiche Behandlung der
Versicherten zu gewährleisten (BGE 114 V 316 Erw. 5a mit Hinweisen).
Ermessensmissbrauch (Art. 104 lit. a OG) ist gegeben, wenn die Behörde
zwar im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt, sich aber von
unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden Erwägungen
leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot von Willkür
und von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu und Glauben sowie
den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE 116 V 310 Erw. 2,
114 V 87 Erw. 4b, 110 V 365 Erw. 3b, 108 Ib 205 Erw. 4a und 98 V 131
f. Erw. 2; ZAK 1989 S. 254 Erw. 4b; RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband zur 6. Aufl., Nr. 67 B II/a
S. 211).

Erwägung 3

    3.- a) Bei Vorliegen von unwahren Angaben im Bereich des Nachweises
der persönlichen Bemühungen ist es ständige Praxis der Öffentlichen
Arbeitslosenkasse Basel-Stadt, eine Einstellungsdauer an der oberen Grenze
des schweren Verschuldens zu verfügen, was für Sachverhalte ab 1. Januar
1996 im Regelfall zu einer Einstellungsdauer von 60 Tagen führte. Die
Arbeitslosenkasse führt aus, diese Praxis sei in anderen Fällen durch
die Vorinstanz bestätigt worden. Von dieser Regeleinstellungsdauer
werde allenfalls bei Vorliegen von Milderungsgründen wie z.B. Alter
(Jugendliche oder ältere Versicherte aufgrund ihrer schwierigen Situation
auf dem Arbeitsmarkt), weitgehende Unerfahrenheit im Umgang mit Formularen,
Ämtern usw. oder Geringfügigkeit des verursachten Schadens abgewichen.

    b) Die Verwaltungspraxis, in der Regel eine maximale Einstellungsdauer
zu verfügen, hält einer gerichtlichen Überprüfung auf pflichtgemässe
Ermessensausübung nicht stand. Freies Ermessen erlaubt kein Entscheiden
nach Belieben ohne überprüfbare sachliche Begründung. Wenn die
rechtsanwendende Verwaltung das ihr eingeräumte Ermessen bei der
Beurteilung des Verschuldens bei unwahren Angaben im Zusammenhang mit
dem Nachweis der persönlichen Arbeitsbemühungen in der Weise handhabt,
dass sie als Regel die obere Grenze des Ermessensspielraums wählt,
so stellt dies einen Ermessensfehler dar, welcher als Rechtsverletzung
der richterlichen Korrektur bedarf. Eine solche - rechtsfehlerhafte -
Ermessensbetätigung verkennt die dem Ermessen inhärenten Schranken und
ist mit der Vorschrift, wonach sich die Dauer der Einstellung nach dem
Grad des Verschuldens bemisst (Art. 30 Abs. 3 AVIG), nicht vereinbar.

    c) Als sachgemässer Ausgangspunkt für die individuelle
Verschuldensbeurteilung im Bereich des schweren Verschuldens ist ein
Mittelwert in der von 26 bis 60 Tagen reichenden Skala zu wählen,
d.h. eine durchschnittliche Dauer von ca. 43 Einstellungstagen. Unter
Berücksichtigung der gegebenen Umstände des konkreten Einzelfalls
ermöglicht diese Vorgehensweise einerseits eine Verschärfung der
verwaltungsrechtlichen Sanktion, wie dies auch durch Art. 45 Abs. 2
lit. d AVIV angeordnet wird, wenn das Verschulden des Versicherten
besonders schwer wiegt, z.B. im Wiederholungsfall bei bereits erfolgter
strafrechtlicher Verurteilung. Eine Verschärfung der Sanktion in krasseren
Fällen als dem vorliegenden ist nicht mehr möglich, wenn bereits der
durchschnittliche Fall mit der maximal zulässigen Sanktion belegt
wird. Anderseits erlauben Milderungsgründe, den Durchschnittswert von
ca. 43 Einstellungstagen nach Massgabe des in milderem Licht erscheinenden
Verschuldens auch in der Kategorie schweren Verschuldens angemessen zu
reduzieren, wobei der Bereich von 26 bis 42 Tagen auszuschöpfen ist,
ohne das Ermessen zu unterschreiten. Sachgerechte Ermessensbetätigung
erfordert, den gesamten Ermessensspielraum nach oben und unten in einer
dem jeweiligen Verschulden entsprechenden Weise zu nutzen.

    Eine zahlenmässige Schwerpunktbildung an der oberen Grenze
des Ermessensspielraums ist auch insofern nicht sachgerecht, als der
Gesetzgeber mit der auf den 1. Januar 1996 in Kraft getretenen Neuregelung
von Art. 30 Abs. 3 AVIG den Sanktionsrahmen von 40 auf 60 Einstellungstage
je Einstellungsgrund erhöht hat. Es geht somit nicht etwa darum, überholte
reformbedürftige Normen durch besonders strenge Anwendung aktuellen
Bedürfnissen anzupassen. Vielmehr gilt es, den erweiterten Rahmen
unter gebührender Beachtung des individuellen einstellungsrechtlichen
Verschuldensgrades angemessen und nicht einseitig zulasten des Arbeitslosen
auszuschöpfen. Die verwaltungsrechtliche Sanktion darf nicht zufolge
undifferenzierter Verschuldensbeurteilung faktisch standardisiert werden.
Schliesslich verletzt die erwähnte Verwaltungspraxis auch das Verbot
rechtsungleicher Behandlung. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb die
ganze Kategorie der Versicherten, deren Verhalten wegen unwahrer Angaben
beim Nachweis persönlicher Arbeitsbemühungen mit einer Einstellung zu
ahnden ist, im Regelfall mit der schärfsten Sanktion belegt und damit im
Vergleich zu anderen schweren Einstellungstatbeständen strenger behandelt
wird. Eine derartige schematische Wertung des Verschuldens beim hier
zur Diskussion stehenden Tatbestand findet weder im Gesetz noch in der
Verordnung eine Grundlage. Eine solche Festlegung der Einstellungsdauer
übergeht das massgebliche gesetzliche Bemessungskriterium des individuellen
Grades des Verschuldens (Art. 30 Abs. 3 AVIG) und muss insofern als von
sachfremden Motiven geleitet bezeichnet werden. Auch der Normzweck -
die Missbrauchsverhütung und -bekämpfung - steht einer Festsetzung der
Einstellungsdauer nach dem Verschuldensgrad keineswegs entgegen.

    d) Auch die konkreten Umstände des vorliegenden Falles bilden keinen
hinreichenden Anlass, auf 60 Einstellungstage zu erkennen. Festzuhalten
ist, dass die unwahren Angaben des Beschwerdegegners als erstellt
zu gelten haben. Es sind jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich,
welche eine Verschärfung der Sanktion über einen mittleren Wert, der
gemäss vorinstanzlichem Entscheid bei 45 Tagen liegen kann, aufdrängen
oder rechtfertigen würden. Aufgrund der bestehenden Aktenlage hat
die Verwaltung die Richtigkeit der Angaben erstmals für den Monat
Januar 1996 überprüft, obwohl der Beschwerdegegner seit November 1994
stempelte und keine Stelle fand. Es ist somit davon auszugehen, dass kein
Wiederholungsfall vorliegt. Die Verwaltung sah sich auch nicht veranlasst,
ein Strafverfahren gegen den Beschwerdegegner einzuleiten. Es geht
daher nicht an, ihm gleichwohl vorzuwerfen, sein Verhalten erfülle den
Übertretungsstraftatbestand nach Art. 106 AVIG. Nach dem Gesagten genügt
es für die Anordnung der maximalen Einstellungsdauer nicht, dass es an
Milderungsgründen fehlt. Auch das Argument in der Einstellungsverfügung
vom 2. Februar 1996, es könne nicht im Sinn der Prämienzahlenden -
der arbeitenden Bevölkerung - sein, fehlende Arbeitsmotivation zu
unterstützen, stellt keine haltbare Begründung für die Einstellung von
60 Tagen dar. Schliesslich wirft die Kasse dem Beschwerdegegner in der
erwähnten Verfügung vor, in vier Fällen unwahre Angaben gemacht zu haben
bei insgesamt neun Bewerbungen im Januar 1996. Auch dieses Verhältnis
spricht gegen die verfügte maximale Einstellungsdauer.

    e) Zusammenfassend erweist sich die von der Verwaltung verfügte
Einstellungsdauer nicht nur als unangemessen, wie die Vorinstanz annahm,
sondern auch als ermessensmissbräuchlich.

Erwägung 4

    4.- (Parteientschädigung)