Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 87



123 I 87

11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 25.
April 1997 i.S. B. gegen Notariatskommission Graubünden (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Notariatsaufsicht.

    Der Entzug einer Bewilligung zur Ausübung des freien Notariats ist
eine zivilrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (E. 2a).

    Die staatsrechtliche Beschwerde kann hier die Funktion einer
gerichtlichen Beurteilung nicht übernehmen (E. 3).

    Anforderungen an ein "Gericht" im Sinne von Art. 6 Ziff. 1
EMRK. Vorliegend nicht erfüllt (E. 4).

    Folgen der Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (E. 5).

Sachverhalt

    Dr. iur. B. erlangte 1989 das Bündner Notariatspatent und ist
seither in Chur als Notar tätig. Mit Schreiben vom 18. März 1996
eröffnete ihm die Notariatskommission Graubünden, dass gegen ihn im
Zusammenhang mit der Gründung zweier Gesellschaften der Verdacht der
Verletzung von notariatsrechtlichen Amtspflichten bestehe und deshalb
gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde. Nach verschiedenen
Untersuchungshandlungen teilte die Notariatskommission am 25. Oktober
1996 B. mit, sie habe beschlossen, über alle Beurkundungsgeschäfte seit
15. Oktober 1991 eine Inspektion vorzunehmen. Diese Inspektion wurde
durch das instruierende Mitglied der Notariatskommission, Notar Dr. Z.,
an mehreren Tagen im Laufe des Monats November 1996 durchgeführt. Am
27. November 1996 befragte Z. B. als Angeschuldigten. Im Anschluss an
diese Einvernahme stellte B. mit Schreiben vom 2. Dezember 1996 mehrere
Verfahrensanträge, unter anderem ein Ausstandsbegehren gegen die bisher
an der Untersuchung mitwirkenden Mitglieder der Notariatskommission,
gegen Notar H. und Notar Z., sowie eine Anzahl von Beweisanträgen.

    Mit Beschluss vom 20. Dezember 1996 wies die Notariatskommission die
Ausstandsbegehren und Beweisanträge ab und entzog B. das Notariatspatent
für die Dauer von zwei Jahren seit Publikation des Beschlusses im
Kantonsamtsblatt.

    B. erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Beschluss
der Notariatskommission aufzuheben und der Beschwerde aufschiebende
Wirkung zu erteilen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK.

    a) Der - wenn auch befristete - disziplinarische Entzug der
Bewilligung zur Ausübung eines freien Berufes stellt eine zivilrechtliche
Streitigkeit im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK dar (Urteile des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte Le Compte et al vom 23. Juni 1981, Série A
Nr. 43, § 48 f.; Albert und Le Compte vom 10. Februar 1983, Série A Nr. 58,
§ 28 f.; Diennet vom 26. September 1995, Série A Nr. 325-A, § 27; BGE 122
II 464 E. 3b S. 467; 109 Ia 217 E. 4a S. 229; RUTH HERZOG, Art. 6 EMRK und
kantonale Verwaltungsrechtspflege, Diss. Bern 1995, S. 48 f., 202). Das
gilt auch für die Bewilligung zur Ausübung des Notariats, wenn dieses,
wie im Kanton Graubünden, einen freien Beruf darstellt (nicht publiziertes
Urteil des Bundesgerichts i.S. W. vom 22. November 1993, E. 2c). Der
Beschwerdeführer kann sich daher auf die Garantien berufen, die Art. 6
Ziff. 1 EMRK für das Verfahren in zivilrechtlichen Streitigkeiten vorsieht.

    b) Nach der Praxis des Bundesgerichts muss die Rüge der Verletzung von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK bereits vor der letzten kantonalen Instanz vorgebracht
werden, andernfalls ein Verzicht auf diese Rüge angenommen wird (BGE 120
Ia 19 E. 2c/aa S. 24, mit Hinweisen).

    c) Das gilt insbesondere für die Rüge der Verletzung des
Öffentlichkeitsprinzips (BGE 122 V 47 E. 3a S. 55; 121 I 30 E. 5f S. 37 f.;
121 II 219 E. 2a S. 221, mit Hinweis). Der Beschwerdeführer, dem bekannt
sein musste, dass die Notariatskommission üblicherweise nicht öffentlich
entscheidet, reichte am 2. Dezember 1996 eine ausführliche Stellungnahme
mit mehreren Verfahrensanträgen ein, ohne jedoch einen Antrag auf eine
öffentliche Verhandlung zu stellen. Unter diesen Umständen ist das Recht
auf eine öffentliche Verhandlung verwirkt.

    d) Der Beschwerdeführer rügt ferner eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1
EMRK, indem keine unbeschränkte gerichtliche Prüfung des Entscheids der
Notariatskommission möglich sei und das Verfahren vor der Kommission
den Anforderungen an ein Zivilrechtsverfahren nicht entspreche. Auch
die Rüge, der Anspruch auf gerichtliche Beurteilung sei verletzt, muss
grundsätzlich bereits im kantonalen Verfahren vorgebracht werden, und zwar
in denjenigen Fällen, in denen über die Anwendbarkeit von Art. 6 Ziff. 1
EMRK eine gefestigte Rechtsprechung besteht, selbst dann, wenn als letzte
kantonale Instanz eine nichtrichterliche Behörde entscheidet und geltend
gemacht wird, gegen deren Entscheid sollte eine richterliche Beurteilung
möglich sein, die nach der massgebenden kantonalen Gesetzgebung noch
nicht besteht (BGE 120 Ia 19 E. 2c/bb S. 25 f.; Urteil vom 8. August
1994 i.S. S., publiziert in RDAT 1995 I 45 109, E. 2c/d). Vorliegend
hat der Beschwerdeführer in seiner Eingabe vom 2. Dezember 1996 an die
Notariatskommission vorgebracht, das Verfahren verletze Art. 6 EMRK,
indem keine Trennung von Untersuchung und Erkenntnis vorgenommen
werde. Zwar hat er daraus nicht abgeleitet, dass der Entscheid
der Notariatskommission einer Überprüfung durch eine gerichtliche
Rechtsmittelinstanz unterliegen müsse, sondern nur den Ausstand des
untersuchenden Mitglieds beantragt. Doch hat der Beschwerdeführer
dadurch mit hinreichender Deutlichkeit bereits im Verfahren vor der
Notariatskommission eine entsprechende Verletzung von Art. 6 Ziff. 1
EMRK gerügt; die Kommission hat sich denn auch in ihrem Entscheid mit
dem Vorbringen auseinandergesetzt. Die Rüge ist daher nicht verspätet.

Erwägung 3

    3.- a) Über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen muss von
einem Gericht entschieden werden, das die Anforderungen gemäss Art. 6
Ziff. 1 EMRK erfüllt. Der Entscheid einer Verwaltungsbehörde, die selber
diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist zulässig, wenn dagegen ein
Rechtsmittel an ein Gericht zulässig ist, welches eine umfassende Kognition
in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hat (BGE 118 Ia 473 E. 6a/c
S. 481 ff.; Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Albert und Le Compte vom 10. Februar 1983, Série A Nr. 58, § 29, mit
Hinweisen). Nicht verlangt wird eine Ermessenskontrolle durch ein Gericht
(BGE 120 Ia 19 E. 4c S. 30; 117 Ia 497 E. 2d/e S. 501 ff.; mit Hinweisen).

    b) Nach der Praxis des Bundesgerichts kann die staatsrechtliche
Beschwerde die Funktion einer solchen gerichtlichen Überprüfung
übernehmen, wenn der Sachverhalt nicht bestritten ist und wenn die sich
aus der Verfassungskontrolle ergebende Beschränkung bei der Überprüfung
der gesetzlichen Grundlage nicht zum Zuge kommt (BGE 122 I 360, nicht
publizierte E. 3; 120 Ia 19 E. 4c S. 30, mit Hinweisen). Vorliegend
sind sowohl Sachverhaltsfragen als auch die Auslegung des kantonalen
Notariatsrechts umstritten. Wenn auch grundsätzlich das Bundesgericht bei
einer schweren Beeinträchtigung von Grundrechten, wie sie hier vorliegt,
die Anwendung und Auslegung kantonalen Rechts frei überprüft (WALTER KÄLIN,
Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl. Bern 1994, S. 175
ff., mit Hinweisen), so kann es doch nicht Aufgabe des Bundesgerichts
als Verfassungsgericht sein, im einzelnen die Anwendung des kantonalen
Notariatsrechts, das sich zudem noch in teilweise nicht geschriebenen
Standesregeln und -gebräuchen konkretisiert, frei zu überprüfen. Es ist
daher davon auszugehen, dass vorliegend die staatsrechtliche Beschwerde
die Funktion einer gerichtlichen Beurteilung nicht übernehmen kann.

    c) Die bündnerische Regelung, wonach der Entscheid der Notariatskammer
nicht bei einer kantonalen gerichtlichen Instanz angefochten werden
kann, verletzt somit Art. 6 Ziff. 1 EMRK, sofern das Verfahren vor der
Notariatskammer selber den Anforderungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht
entspricht. Das ist im folgenden zu prüfen.

Erwägung 4

    4.- Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangt, dass über zivilrechtliche Ansprüche
in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist
durch ein unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes
Gericht entschieden wird. Es fragt sich, ob die Notariatskommission
als unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne dieser Bestimmung
bezeichnet werden kann.

    a) Ein Gericht im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist eine Behörde, die
nach Gesetz und Recht in einem justizförmigen, fairen Verfahren begründete
und bindende Entscheidungen über Streitfragen trifft (BGE 119 Ia 81
E. 3 S. 83; 115 Ia 183 E. 4a S. 186; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar,
2. Aufl. Kehl 1996, Rz. 122 zu Art. 6; ARTHUR HAEFLIGER, Die
Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1993, S. 127;
MIEHSLER/VOGLER, IntKomm EMRK, Art. 6 Rz. 287; PETTITI/DÉCAUX/IMBERT,
La Convention européenne des droits de l'homme, Paris 1995, S. 259
ff.; THOMAS SCHMUCKLI, Die Fairness in der Verwaltungsrechtspflege,
Diss. Freiburg 1990, S. 63 ff.). Es braucht nicht in die ordentliche
Gerichtsstruktur eines Staates eingegliedert zu sein, aber es muss
organisch und personell, nach der Art seiner Ernennung, der Amtsdauer, dem
Schutz vor äusseren Beeinflussungen und nach dem äusseren Erscheinungsbild
unabhängig und unparteiisch sein, sowohl gegenüber anderen Behörden als
auch gegenüber den Parteien (BGE 119 Ia 81 E. 3 S. 83 f., mit Hinweisen;
Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Campbell und
Fell vom 28. Juni 1984, Série A Nr. 80, § 78; ALFRED KÖLZ, Kommentar BV,
N. 41 und 47 zu Art. 58; FROWEIN/PEUKERT, aaO, Rz. 124 f. zu Art. 6;
HAEFLIGER, aaO, S. 127, 136; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention, Zürich 1993, S. 243 ff.). Dass Vertreter
eines bestimmten Berufsstandes Mitglied sind, verletzt Art. 6 EMRK an
sich nicht, jedenfalls soweit es sich dabei nicht um weisungsgebundene
Funktionäre handelt (BGE 119 Ia 81 E. 3 S. 84, mit Hinweisen; Urteil des
Bundesgerichts vom 23. Dezember 1994 i.S. D., publiziert in RUDH 1996
S. 188, E. 3b; FROWEIN/PEUKERT, aaO, Rz. 126 f. zu Art. 6; VILLIGER, aaO,
S. 244, mit Hinweisen).

    b) Ob eine erstinstanzliche berufsständische Disziplinarbehörde
als Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK betrachtet werden könne, liess der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in den Urteilen Le Compte et
al vom 23. Juni 1981, Série A Nr. 43, § 51, sowie Albert und Le Compte
vom 10. Februar 1983, Série A Nr. 58, § 29 und 32, offen, da deren
Entscheid an eine Appellationsinstanz innerhalb der Berufsorganisation
und anschliessend an ein staatliches Gericht weitergezogen werden
konnte. Ebenso wurde im Entscheid Diennet vom 26. September 1995
(Série A Nr. 325-A) eine französische Aufsichtsregelung über Ärzte
konventionsrechtlich nicht beanstandet, in welcher der Entscheid der
erstinstanzlichen berufsständischen Disziplinarbehörde an eine obere
Instanz der Berufsorganisation und anschliessend an den Conseil d'Etat
weitergezogen werden kann.

    c) Das Bundesgericht hat entschieden, dass eine kantonale
Aufsichtskommission über die Gesundheitsberufe, welche vom
Departementsvorsteher präsidiert wird und aus Beamten und Medizinalpersonen
besteht, nicht als Gericht im Sinne von Art. 6 EMRK betrachtet werden kann
(Urteil vom 23. Dezember 1994 i.S. D., publiziert in RUDH 1996 S. 188,
E. 3b). Offensichtlich nicht erfüllt sind die Anforderungen, wenn die
Kantonsregierung als Aufsichtsbehörde über Notare entscheidet (nicht
publiziertes Urteil des Bundesgerichts vom 22. November 1993 i.S. W.,
E. 3b). Eine Disziplinarkammer des kantonalen Obergerichts, welche die
Amtsführung der unteren Gerichte beaufsichtigt und Disziplinarstrafen
ausfällen kann, wurde vom Bundesgericht als Verwaltungsbehörde und
nicht als Gericht betrachtet (nicht publiziertes Urteil vom 17. Juli
1995 i.S. L., E. 2a). Keine gerichtliche Behörde ist sodann eine
Prüfungskommission für Anwälte oder andere Berufe (so in den nicht
publizierten Urteilen vom 10. November 1995 i.S. D., E. 2, und vom
29. November 1996 i.S. H., E. 2, stillschweigend vorausgesetzt).

    Den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht
entsprechen demgegenüber ein Schiedsgericht, welches aus einem Vorsitzenden
und je einem Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter besteht (BGE 119
Ia 81 E. 4a S. 85 f.), sowie Schiedskommissionen wie die Eidgenössische
Schiedskommission für die Verwertung von Urheberrechten (nicht publiziertes
Urteil des Bundesgerichts vom 24. März 1995 i.S. S., E. 2a/bb-cc). In
BGE 120 Ia 184 E. 2e S. 188 wurde es als zulässig betrachtet, dass ein
und dieselbe Behörde über die Eröffnung eines Strafverfahrens und über
die Anordnung von Disziplinarmassnahmen entscheidet.

    d) Die Bündner Notariatskommission beruht auf der vom Grossen Rat
erlassenen Notariatsverordnung vom 1. Dezember 1993 (NV). Sie besteht aus
drei Mitgliedern und drei Stellvertretern und wird von Kantonsgericht und
Verwaltungsgericht gemeinsam auf eine Amtsdauer von vier Jahren gewählt
(Art. 4 Abs. 1 NV). Die Mitglieder und Stellvertreter müssen in der Regel
Inhaber des Fähigkeitsausweises für Notare sein (Art. 4 Abs. 3 NV). Der
Kommission muss mindestens ein praktizierender Notar und in der Regel
ein Mitglied des Kantons- oder des Verwaltungsgerichts angehören (Art. 4
Abs. 2 NV). Die Notariatskommission hat namentlich folgende Aufgaben:

    - Inspektionen über die Amtsführung der Kreisnotare und der
patentierten

    Notare (Art. 5 NV),

    - Erteilung des Notariatspatents (Art. 9 NV),

    - Erteilung des Fähigkeitsausweises für Notare (Art. 14 NV),

    - Entscheid über die Zulassung zur Notariatsprüfung und über das
Ergebnis
   der Prüfung (Art. 15 und 17 NV),

    - Anordnung von Disziplinarmassnahmen gegen Notare (Art. 44 NV),

    - Entzug des Notariatspatents bei Wegfall der Voraussetzungen (Art. 12

    Abs. 1 Ziff. 3 NV),

    - Beurteilung von Beschwerden gegen die Amtsführung von Notaren
(Art. 46

    NV).

    e) Die Notariatskommission ist somit organisatorisch und
personell aufgrund ihrer Wahlart, Amtsdauer und sonstigen Stellung von
nicht-gerichtlichen Behörden unabhängig. Hingegen ergeben sich aus ihrer
Aufgabe und Funktion Zweifel hinsichtlich der gerichtlichen Natur.

    Das Wesen eines gerichtlichen Verfahrens ist die Streitentscheidung
zwischen verschiedenen Parteien. Diese Konstellation, die für die streitige
Zivilgerichtsbarkeit im herkömmlichen Sinne typisch ist, ergibt sich in der
Verwaltungsgerichtsbarkeit - soweit diese über "zivilrechtliche" Ansprüche
im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK urteilt - aus einer Gegenüberstellung
zwischen der Verwaltung, die eine Verfügung erlassen hat, und demjenigen,
der diese anficht. Die Verwaltung und der von der Verfügung Betroffene
stehen sich hier als Parteien gegenüber, während das unabhängige Gericht
zwischen ihnen entscheidet. Dabei nimmt typischerweise die Verwaltung
das öffentliche Interesse wahr, während der Beschwerdeführer seine
Privatinteressen verteidigt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde gerade
eingeführt und wird in "zivilrechtlichen" Angelegenheiten von Art. 6 EMRK
gefordert, um dem Bürger eine unabhängige Beurteilung zwischen dem von der
Verwaltung geltend gemachten öffentlichen Interesse und dem Privatinteresse
zu ermöglichen.

    Demgegenüber hat die Bündner Notariatskommission generelle und
umfassende Aufsichtsbefugnisse; sie entscheidet über die Berufszulassung
der Notare, prüft von Amtes wegen deren allgemeine Berufsausübung,
führt Inspektionen durch und beschliesst allenfalls die Einleitung
eines Disziplinarverfahrens, das sie selber durchführt und mit einem
Disziplinarentscheid abschliesst. Eine Behörde mit solchen Aufgaben und
Befugnissen ähnelt funktionell eher einer Verwaltungsbehörde als einer
gerichtlichen Instanz. Sie wahrt in einem umfassenden Sinn das öffentliche
Interesse an einer ordnungsgemässen Ausübung des Notariats. Wenn sie
gegenüber einem Notar eine Inspektion durchführt und ihn allenfalls
disziplinarisch bestraft, nimmt sie selber das öffentliche Interesse
wahr. Sie steht insoweit dem Notar, der die Rechtmässigkeit dieser
Aufgabenwahrnehmung bestreitet, als Gegenpartei und nicht als "rechter
Mittler" gegenüber.

    Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden,
die Tatsache, dass eine Behörde nebst disziplinarischen auch allgemeine
Untersuchungsaufgaben wahrnehme, schliesse nicht notwendigerweise die
Qualifikation als Gericht aus. So wurde im Urteil Campbell und Fell
vom 28. Juni 1984 (Série A Nr. 80, § 81) ein Board of visitors, welches
die Gefängnisse beaufsichtigt und Disziplinarstrafen verhängen kann,
als unabhängiges Gericht betrachtet; dabei war jedoch ausschlaggebend,
dass diese Behörde eine Mittlerstelle zwischen den Gefängnisinsassen und
dem Personal darstellte. Im Entscheid H. vom 30. November 1987 (Série A
Nr. 127-B, § 50) hielt der Gerichtshof dafür, dass der belgische Conseil de
l'Ordre des avocats, der ähnlich wie die bündnerische Notariatskommission
Verwaltungs-, Aufsichts- und Disziplinarkompetenzen kumuliert, nicht allein
deswegen nicht als Gericht betrachtet werden kann; im konkreten Fall ging
es aber nicht um eine vom Ordre von Amtes wegen verhängte Disziplinarstrafe
(die nach der belgischen Regelung bei einer zweiten Instanz innerhalb
der Berufsorganisation hätte angefochten werden können), sondern um ein
vom Gesuchsteller eingereichtes Gesuch um Wiederzulassung zum Anwaltsberuf.

    f) Vorliegend kommt hinzu, dass ein Mitglied der Notariatskommission
selber die Untersuchung leitet, der Kommission Antrag stellt und
anschliessend an der Entscheidfällung mitwirkt. Im Bereich des Strafrechts
ist es nach gefestigter Praxis unzulässig, wenn ein Untersuchungsrichter
an der Beurteilung mitwirkt (BGE 112 Ia 290 und seitherige Praxis,
s. BGE 117 Ia 157 E. 2b S. 161). Der Grund für diese Rechtsprechung
liegt darin, dass diejenige Person, welche die Untersuchung geführt hat,
nicht mehr mit der erforderlichen Unbefangenheit dem Streitgegenstand
und dem Angeschuldigten gegenübersteht; auch wenn subjektiv der
Untersuchungsrichter die notwendige Unabhängigkeit weiterhin aufbringt,
ist eine solche Behördenorganisation geeignet, objektiv Misstrauen
hinsichtlich der Unbefangenheit zu begründen (BGE 120 Ia 184 E. 2b
S. 187; 117 Ia 157 E. 3c S. 165; 115 Ia 217 E. 4c S. 219; 114 Ia 50
E. 3b S. 55). Die im Strafrecht entwickelten Grundsätze sind freilich
nicht unbesehen auf zivilrechtliche Streitigkeiten übertragbar. So ist
es im Zivilprozess allgemein üblich und konventionsrechtlich nicht zu
beanstanden, dass - auch bereits vor erster Instanz - das instruierende
Gerichtsmitglied an der Entscheidfällung mitwirkt. Dabei ist aber die
Prozesslage anders als im vorliegenden Fall: im Zivilprozess tritt das
Gericht von Anfang an als Schlichter zwischen zwei Parteien auf, von
denen die eine die andere einklagt; in einer Lage wie der vorliegenden,
in welcher die Notariatskommission selber das Verfahren in die Wege
leitet, gleicht jedoch die Tätigkeit des untersuchenden Mitglieds eher
derjenigen eines Untersuchungsrichters im Strafverfahren. Zwar ist es
im Lichte von Art. 4 BV nicht zu beanstanden, wenn das die Untersuchung
führende Mitglied einer Disziplinarbehörde auch am Entscheid teilnimmt
(nicht publiziertes Urteil vom 17. Juli 1995 i.S. L., E. 2c/cc), doch
ist diese Praxis nicht anwendbar, soweit die strengeren Anforderungen
von Art. 6 EMRK zum Tragen kommen.

    g) Schliesslich ist zu beachten, dass die Mitglieder der
Notariatskommission in der Regel Inhaber des Notariatspatents und
mindestens teilweise frei praktizierende Notare sind (Art. 4 NV). Sie sind
damit zwar einerseits fachkundig, um die sich in einem Disziplinarverfahren
stellenden notariatsrechtlichen Fragen zu beurteilen; andererseits sind
sie aber auch zumindest potentielle Konkurrenten des zu Disziplinierenden,
was geeignet ist, den Anschein der Voreingenommenheit zu begründen (ROBERT
ZIMMERMANN, Les sanctions disciplinaires et administratives au regard de
l'article 6 CEDH, RDAF 1994 S. 335-377, 355 f.). Solche berufsständisch
zusammengesetzte Entscheidungsgremien sind konventionsrechtlich
unbedenklich, wenn gegen ihren Entscheid ein Rechtsmittel an eine
gerichtliche Instanz möglich ist (vgl. vorne E. 4b). Auch ist nicht von
vornherein ausgeschlossen, dass ein berufsständisch oder paritätisch
zusammengesetztes Organ selber als unabhängiges und unparteiisches
Gericht betrachtet werden kann, wenn es funktionell, organisatorisch
und verfahrensmässig die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt (vorne
E. 4a/c). Vorliegend führt jedoch das Zusammenwirken der bisher genannten
Faktoren dazu, dass die Notariatskommission nicht als unabhängiges Gericht
betrachtet werden kann.

    h) Aus diesen Gründen ergibt sich, dass das Disziplinarverfahren vor
der Notariatskommission den Anforderungen an ein Gericht im Sinne von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht genügt (vgl. ZIMMERMANN, aaO, S. 349). Daran
würde sich auch nichts ändern, wenn das die Untersuchung führende Mitglied
der Kommission bei der Beschlussfassung in den Ausstand träte. Da gegen
den Entscheid der Notariatskommission kein Rechtsmittel an ein Gericht
möglich ist, welches seinerseits diesen Anforderungen entspricht, erweist
sich die bündnerische Regelung somit als konventionswidrig.

Erwägung 5

    5.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher insoweit begründet, als
eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gerügt wird. Der Beschwerdeführer
hat die Aufhebung des Beschlusses der Notariatskommission beantragt. Die
staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich rein kassatorisch;
davon werden jedoch Ausnahmen gemacht, wenn die blosse Aufhebung des
angefochtenen Entscheides nicht geeignet ist, die verfassungsmässige
Lage wieder herzustellen (KÄLIN, aaO, S. 400 ff.). Der angefochtene
Entscheid ist nicht deswegen konventionswidrig, weil das Verfahren vor
der Notariatskommission an sich unzulässig wäre, sondern allein deshalb,
weil gegen deren Entscheid kein Rechtsmittel an ein Gericht besteht,
welches die Anforderungen gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK erfüllt. Unter
diesen Umständen rechtfertigt es sich nicht, den Beschluss der
Notariatskommission einfach aufzuheben. Das ginge einerseits weiter,
als zur Herstellung der verfassungsmässigen Lage erforderlich ist, wäre
andererseits aber auch nicht genügend, um diese herzustellen. Vielmehr
ist stattdessen der Kanton Graubünden anzuweisen, dem Beschwerdeführer
eine gerichtliche Beschwerdeinstanz im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur
Verfügung zu stellen (vgl. BGE 120 Ia 19 E. 5 S. 31). Da eine solche
Instanz im geltenden bündnerischen Recht bisher nicht vorgesehen ist
(vgl. Art. 13 Abs. 1 lit. c des Verwaltungsgerichtsgesetzes, in der Fassung
vom 25. Juni 1995, wonach die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gestützt auf
Art. 6 Ziff. 1 EMRK oder Art. 98a OG nur gegen Entscheide der Regierung
oder kantonaler Departemente, nicht aber der Notariatskommission,
vorgesehen ist), kann das Bundesgericht die Angelegenheit nicht selber
an die zuständige Instanz überweisen. An sich obliegt es dem kantonalen
Gesetzgeber, eine solche Instanz festzulegen. Da aber Art. 6 Ziff. 1 EMRK
unmittelbar anwendbar ist, hat der Kanton nötigenfalls auf dem Wege der
Verordnungsgebung eine solche Instanz zu bezeichnen, an die alsdann die
Angelegenheit zu überweisen sein wird (BGE 121 II 219 E. 2c S. 222; 120
Ia 209 E. 6d S. 215; 119 Ia 88 E. 7 S. 98). Da der angefochtene Entscheid,
solange er nicht bei einer gerichtlichen Instanz angefochten werden kann,
auf einer insoweit konventionswidrigen Lage beruht, kann er bis zu einer
gegenteiligen Anordnung des zuständigen kantonalen Gerichts (sei es als
Sachurteil, sei es als vorsorgliche Massnahme) keine Wirkungen entfalten.