Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 289



123 I 289

30. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 17. Oktober 1997 i.S. X. gegen Kanton Zürich und Kanton Thurgau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 46 Abs. 2 BV (Verbot der Doppelbesteuerung; Steuerdomizil),
Art. 89 OG (Beginn der Beschwerdefrist).

    Die Frist für die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 46 Abs. 2 BV beginnt mit der Zustellung des kantonalen
Steuerdomizilentscheids. Erwächst dieser unangefochten in
Rechtskraft, kann auf die Frage des Steuerdomizils im nachfolgenden
Veranlagungsverfahren nicht zurückgekommen werden (Bestätigung der
Rechtsprechung). Der Steuerdomizilentscheid betrifft die Zeit bis zum
Ende der im Zeitpunkt des Entscheids laufenden Veranlagungsperiode (E. 1).

    Steuerdomizil von verheirateten Personen mit Beziehungen zu mehreren
Orten (E. 2).

Sachverhalt

    X. ist seit 1981 Eigentümer eines Einfamilienhauses in der Gemeinde
A. (Kanton Thurgau), das er bis zur Scheidung von seiner damaligen Ehefrau
im Jahre 1987 bewohnte. Danach meldete er sich nach B. (Kanton Zürich)
ab. Per 1. Januar 1989 meldete er sich als Wochenaufenthalter in A. an.

    Mit Steuerrechnungen vom 11. Mai 1989, 16. Mai 1990, 16. Mai 1991,
25. Mai 1992, 18. Februar und 18. Mai 1993, 24. Mai 1994, 22. Mai 1995
und 22. Mai 1996 hat das Gemeindesteueramt der Gemeinde B. von X. und
dessen Ehefrau die Staats- und Gemeindesteuern für die Steuerjahre 1989
bis 1996 bezogen. Die Veranlagungen des Kantons Zürich zu den Steuern
1989 bis 1996 sind rechtskräftig geworden.

    Das Steueramt der Gemeinde A. nahm für X. ab 1989 zunächst eine
interkantonale Steuerausscheidung vor, wobei sie für 1989, 1991 und 1992
zu einem im Kanton Thurgau steuerpflichtigen Einkommen und Vermögen von
Fr. 0.-- gelangte.

    Der Steuerkommissär der Kantonalen Steuerverwaltung Thurgau kam in
der Folge zum Schluss, die Eheleute X. hätten ihren steuerrechtlichen
Wohnsitz im Kanton Thurgau, und nahm mit Verfügung vom 2. Dezember 1993
rückwirkend ab dem 1. Januar 1989 ihnen gegenüber das Besteuerungsrecht
für den Kanton Thurgau in Anspruch. Die Eheleute X. erhoben dagegen
erfolglos Einsprache. Die Steuerrekurskommission des Kantons Thurgau
wies ihren Rekurs mit Beschluss vom 2./8. Dezember 1994 ab. Auch das
Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau kam zum Schluss, die Eheleute
X. hätten Wohnsitz im Kanton Thurgau, und bestätigte den Beschluss
der Rekurskommission mit Entscheid am 8. Februar 1995. Das Urteil des
Verwaltungsgerichts blieb unangefochten.

    Am 17. und 20. Juni 1996 veranlagte das Steueramt A. X. und
seine Ehefrau definitiv zu den Kantons- und Gemeindesteuern für die
Steuerjahre 1989 bis 1996, wobei es sie entsprechend dem Entscheid des
Verwaltungsgerichts vom 8. Februar 1995 der unbeschränkten Steuerpflicht
im Kanton Thurgau unterwarf.

    X. hat mit Eingabe vom 15. Juli 1996 im Anschluss an die Veranlagungen
der Gemeinde A. vom 17. und 20. Juni 1996 staatsrechtliche Beschwerde
gegen den Kanton Zürich und den Kanton Thurgau wegen Doppelbesteuerung
erhoben. Er macht geltend, sein Lebensmittelpunkt befinde sich in B.

    Das Bundesgericht tritt auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht
ein, soweit sie die Steuern für 1989 bis 1994 betrifft. Soweit sie die
Steuern für 1995 und 1996 betrifft, weist es die Beschwerde gegen den
Kanton Thurgau ab und heisst sie gegen den Kanton Zürich gut. Es hebt die
Veranlagungen des Kantons Zürich zu den Steuern für 1995 und 1996 auf
und verpflichtet den Kanton Zürich, dem Beschwerdeführer die für diese
Zeit zuviel bezahlten Steuern verzinst zurückzuerstatten.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Bei staatsrechtlichen Beschwerden wegen Verletzung des
Doppelbesteuerungsverbots (Art. 46 Abs. 2 BV) muss der kantonale
Instanzenzug nicht ausgeschöpft werden (Art. 86 Abs. 2 OG). Mit
der Doppelbesteuerungsbeschwerde gegen die Steuerveranlagung des
zweitverfügenden Kantons kann innert der Beschwerdefrist auch die bereits
rechtskräftige Steuerveranlagung des erstverfügenden Kantons angefochten
werden (Art. 89 Abs. 3 OG).

    Bestreitet eine zur Veranlagung herangezogene Person die Steuerhoheit
des Kantons, muss aufgrund von Art. 46 Abs. 2 BV zuerst in einem
Vorentscheid über die Steuerpflicht rechtskräftig entschieden werden,
bevor das Veranlagungsverfahren fortgesetzt werden darf, es sei denn,
das Bundesgericht habe bereits in einem früheren staatsrechtlichen
Verfahren bei gleicher Sachlage die Steuerhoheit des Veranlagungskantons
bejaht (BGE 115 Ia 73 E. 3; ASA 61 678 E. 2a, mit Hinweisen). Gegen den
Vorentscheid über die Steuerhoheit (sog. Steuerdomizilentscheid) kann
die in Anspruch genommene Person zunächst kantonale Rechtsmittel erheben
oder nach Art. 86 Abs. 2 OG auch direkt mit staatsrechtlicher Beschwerde
ans Bundesgericht gelangen.

    Die Frist für die staatsrechtliche Beschwerde beginnt nach ständiger
Praxis bereits mit der Zustellung des letzten kantonalen Entscheids
über die Steuerpflicht bzw. über das Steuerdomizil. Will die in Anspruch
genommene Person den kantonalen Entscheid über den Steuerwohnsitz beim
Bundesgericht anfechten, kann sie deshalb nicht zuwarten, bis die
kantonale Veranlagung abgeschlossen ist. Ist der Vorentscheid über
den steuerrechtlichen Wohnsitz nach kantonalem Recht in Rechtskraft
erwachsen, kann darauf im nachfolgenden Veranlagungsverfahren nicht mehr
zurückgekommen werden. Mit der staatsrechtlichen Beschwerde im weiteren
Veranlagungsverfahren können nur neue, noch nicht beurteilte Fragen des
Doppelbesteuerungsrechts überprüft werden. Soweit die steuerpflichtige
Person in der staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Veranlagung die
im Vorentscheid bzw. im Steuerdomizilverfahren bereits rechtskräftig
beurteilte Frage des Steuerwohnsitzes wieder aufgreift, kann darauf
demnach nicht eingetreten werden (BGE 115 Ia 73 E. 3; ASA 61 678 E. 2a,
mit Hinweisen).

    b) Das Verwaltungsgericht hat mit Entscheid vom 8. Februar 1995 die
unbeschränkte Steuerpflicht des Beschwerdeführers im Kanton Thurgau ab
dem 1. Januar 1989 festgestellt. Die Frist für die staatsrechtliche
Beschwerde, mit welcher der Beschwerdeführer die Frage seines
steuerrechtlichen Wohnsitzes wieder aufgreift, hat nach dem Ausgeführten
mit der Zustellung des Entscheids des Verwaltungsgerichts zu laufen
begonnen. Der Beschwerdeführer hat diesen Entscheid aber unangefochten
in Rechtskraft erwachsen lassen und die staatsrechtliche Beschwerde
erst am 15. Juli 1996 im Anschluss an die definitiven Veranlagungen der
Gemeinde A. vom 17. und 20. Juni 1996 für die Steuerjahre 1989 bis 1996
eingereicht. Es ist demnach zu prüfen, für welchen Zeitraum die Frage
des Steuerwohnsitzes durch das Urteil des Verwaltungsgerichts bereits
rechtskräftig entschieden ist.

    c) Der Steuerdomizilentscheid des Steuerkommissärs vom 2. Dezember
1993, mit dem der Kanton Thurgau das Besteuerungsrecht rückwirkend
ab dem 1. Januar 1989 in Anspruch genommen hat, kann Wirkung bis zum
Ende der im Zeitpunkt des Entscheides laufenden Veranlagungsperiode
entfalten. Der Entscheid, der in der Steuerperiode 1993/94 erging,
betrifft somit die Zeit vom 1. Januar 1989 bis zum 31. Dezember 1994.
Der Steuerdomizilentscheid der Veranlagungsbehörde kann demnach bis zum
Ende der Veranlagungsperiode auch bereits überblickbare künftige Umstände
miteinbeziehen. Die Rechtsmittelinstanz, die den Steuerdomizilentscheid
später überprüft, hat zudem die weiteren, bis zu ihrem Entscheid
überblickbaren Verhältnisse zu berücksichtigen.

    d) Durch den Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 8. Februar 1995,
der den Steuerdomizilentscheid vom 2. Dezember 1993 zum Gegenstand
hatte, ist somit über das Steuerdomizil für die Zeit vom 1. Januar
1989 bis zum 31. Dezember 1994 entschieden worden. Insoweit kann auf die
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verspätung nicht eingetreten werden. Eine
neue Frist hätte nach Art. 89 Abs. 3 OG nur zu laufen begonnen, wenn
nach dem Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 8. Februar 1995 eine neue,
die Steuerhoheit für die Jahre 1989 bis 1994 betreffende Verfügung eines
anderen Kantons ergangen wäre (vgl. LOCHER, Doppelbesteuerung, § 12 III
B 2 Nr. 27). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Die Gemeinde B. hat die
Steuerveranlagungen für diese Jahre bereits früher, nämlich zwischen dem
11. Mai 1989 und dem 24. Mai 1994 zugestellt. Der Beschwerdeführer hat
diese nicht angefochten.

    e) Somit ist, soweit es um die Steuerjahre 1989 bis 1994 geht, auf die
vorliegende staatsrechtliche Beschwerde nicht einzutreten. Dagegen ist auf
die Beschwerde in bezug auf die Steuerjahre 1995 und 1996 einzutreten,
da der Steuerdomizilentscheid des Steuerkommissärs und entsprechend der
Entscheid des Verwaltungsgerichts diese Jahre nicht betraf.

Erwägung 2

    2.- a) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 46 Abs. 2
BV ist der steuerrechtliche Wohnsitz (Steuerdomizil) einer unselbständig
erwerbenden Person derjenige Ort, wo sich die betreffende Person mit
der Absicht dauernden Verbleibens aufhält (vgl. auch Art. 3 Abs. 2 des
Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten
Steuern der Kantone und Gemeinden [Steuerharmonisierungsgesetz; StHG, SR
642.14], Art. 3 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die
direkte Bundessteuer [DBG; SR 642.11] und Art. 23 Abs. 1 ZGB) bzw. wo sich
der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen befindet (Urteile vom 20. Januar
1994, E. 2a, StR 49/1994 580 ff. und ASA 63 836). Dem polizeilichen
Domizil, wo die Schriften hinterlegt sind oder die politischen Rechte
ausgeübt werden, kommt dagegen keine entscheidende Bedeutung zu. Das sind
bloss äussere Merkmale, die ein Indiz für den steuerrechtlichen Wohnsitz
bilden können, wenn auch das übrige Verhalten der Person dafür spricht
(BGE 108 Ia 252 E. 5a S. 255; ASA 63 836 E. 2a).

    b) Wenn sich eine Person abwechslungsweise an zwei Orten aufhält,
ist für die Bestimmung des Steuerwohnsitzes darauf abzustellen, zu
welchem Ort sie die stärkeren Beziehungen unterhält (BGE 101 Ia 557
E. 4a S. 559 f.; 104 Ia 264 E. 2 S. 266). Bei unselbständig erwerbenden
Steuerpflichtigen ist das gewöhnlich der Ort, wo sie für längere oder
unbestimmte Zeit Aufenthalt nehmen, um von dort aus der täglichen Arbeit
nachzugehen, ist doch der Zweck des Lebensunterhalts dauernder Natur (ASA
63 836 E. 2a; ferner LOCHER, aaO, § 3 I B 2b Nr. 7, 11, 17, 18, 19). Der
Mittelpunkt der Lebensinteressen bestimmt sich für die Steuerhoheit nach
der Gesamtheit der objektiven, äusseren Umstände, aus denen sich diese
Interessen erkennen lassen, nicht nach den bloss erklärten Wünschen
der steuerpflichtigen Person (BGE 113 Ia 465 E. 3 S. 466). Die Frage,
zu welchem der Aufenthaltsorte die steuerpflichtige Person die stärkeren
Beziehungen unterhält, ist jeweils aufgrund der Gesamtheit der Umstände
des Einzelfalles zu beurteilen.

    c) Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts in seinem Urteil
vom 8. Februar 1995, die sich weitgehend auf die Ausführungen des
Beschwerdeführers selber stützen und von diesem in der staatsrechtlichen
Beschwerde nicht ernsthaft in Frage gestellt werden, wohnt der
Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau, die er am 1. Oktober 1992 geheiratet
hat, während der Arbeitswoche in seinem eigenen Haus in A., von wo aus er
täglich mit dem Zug nach Zürich zur Arbeit fährt. In A. betätigt er sich
zudem im Männerchor. Die Wochenenden verbringt er offenbar regelmässig
mit seiner Ehefrau auf dem Bauernhof seines Bruders in B.; dort ist er
auch im Schiessverein aktiv.

    Diese Umstände weisen darauf hin, dass der Lebensmittelpunkt und
damit der Wohnsitz des Beschwerdeführers im Kanton Thurgau liegt. Der
überwiegende Aufenthalt des Beschwerdeführers zusammen mit seiner Ehefrau
während der Arbeitswoche in A. in seinem eigenen Haus hat offensichtlich
ein grösseres Gewicht als die regelmässigen Aufenthalte am Wochenende
auf dem Bauernhof seines Bruders in B., wo ihm keine eigene Wohnung
zur Verfügung steht. Der Steuerwohnsitz bestimmt sich vorab nach
diesen objektiven Umständen, nicht nach den subjektiven Empfindungen
des Pflichtigen. Das Besteuerungsrecht steht demnach dem Kanton Thurgau
zu, auch wenn der Beschwerdeführer sich emotionell mehr mit B. verbunden
fühlt und sich auch während der Woche gelegentlich dort aufhält.

    d) Der Kanton Zürich macht nicht geltend, dass der Kanton Thurgau
sein Besteuerungsrecht durch ungebührlich langes Zuwarten verwirkt habe
(vgl. BGE 94 I 318 E. 4b S. 321, mit Hinweisen; ASA 56 85 E. 4b; 64 167
E. 5a). Es kann zudem keine Verwirkung des Beschwerderechts (vgl. BGE 101
Ia 384 E. 1 S. 386; ASA 57 582 E. 2b; 58 538 E. 2c) angenommen werden,
hat doch der Beschwerdeführer die Steuererklärungen dem Kanton Thurgau
am 20. September 1995 ausdrücklich unter dem Vorbehalt eingereicht,
dass keine Doppelbesteuerung eintritt.