Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 283



123 I 283

29. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 20.
Oktober 1997 i.S. Stürm gegen Staatsanwaltschaft und Kantonsgericht des
Kantons Wallis (Revisionsgesuch) Regeste

    Art. 139a OG; Revision wegen Verletzung der Europäischen
Menschenrechtskonvention.

    Massgebender Zeitpunkt für den Beginn des Fristenlaufs nach Art. 141
Abs. 1 lit. c OG (E. 2).

    Verhältnis von Art. 139a OG zu Art. 50 EMRK (E. 3a).

    Die vom Ministerkomitee des Europarates im vorliegenden Fall
zugesprochene Entschädigung betrifft den durch die Konventionsverletzung
entstandenen Schaden sowie die Kosten des innerstaatlichen und des
Strassburger Verfahrens. Es bleibt daher kein Raum, um auf dem Weg über
die Revision eine Entschädigung für allfällige weitere Verfahrenskosten
zu verlangen (E. 3b).

Sachverhalt

    Walter Stürm legte gegen vier Urteile der I.  öffentlichrechtlichen
Abteilung des Bundesgerichts, mit welchen seine staatsrechtlichen
Beschwerden gegen die Fortdauer der Haft abgewiesen worden waren,
Beschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission in Strassburg
ein. Ausserdem focht er zwei Urteile des Kassationshofes des Bundesgerichts
mit einer Beschwerde in Strassburg an. Diese Entscheide betrafen ein Urteil
des Walliser Kantonsgerichts, das gegen Walter Stürm eine Zuchthausstrafe
von zehneinhalb Jahren ausgesprochen hatte.

    Die Europäische Menschenrechtskommission stellte in ihrem
Bericht vom 16. Januar 1996 betreffend die vier gegen die Urteile
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung gerichteten Beschwerden fest,
es liege eine Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK (übermässige Dauer der
Untersuchungshaft) und von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (übermässige Dauer des
Strafverfahrens) vor; hingegen seien Art. 5 Ziff. 4 und Art. 5 Ziff. 5
EMRK nicht verletzt worden.

    Mit Eingabe vom 20. November 1996 stellte Walter Stürm ein Begehren
um Revision der sechs von ihm in Strassburg angefochtenen Urteile des
Bundesgerichts. Dessen I. öffentlichrechtliche Abteilung weist das
Revisionsgesuch ab, soweit sie darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das vorliegende Gesuch stützt sich auf den in Art. 139a
OG vorgesehenen Revisionsgrund der Verletzung der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Nach Art. 141 Abs. 1 lit. c OG muss ein solches
Begehren "binnen 90 Tagen, nachdem das Bundesamt für Justiz den Entscheid
der europäischen Behörde den Parteien zugestellt hat", beim Bundesgericht
anhängig gemacht werden.

    Die Anwältin des Gesuchstellers reichte das Revisionsbegehren
am 20. November 1996 dem Bundesgericht ein. Sie führte aus, der
Generalsekretär des Ministerkomitees habe ihr mit Schreiben vom
17. Oktober 1996 mitgeteilt, dass die unter den Nrn. 20231/92, 20545/92,
23117/93 und 23223/94 registrierten Beschwerden am 13. September 1996 vom
Ministerkomitee gutgeheissen worden seien. Die Frist von 90 Tagen sei somit
gewahrt. Das Bundesamt für Justiz habe den Entscheid des Ministerkomitees
noch nicht zugestellt.

    Gemäss Art. 141 Abs. 1 lit. c OG ist das Revisionsgesuch innerhalb
von 90 Tagen, von dem Tag an gerechnet, an dem das Bundesamt für
Justiz den Parteien den Entscheid der europäischen Behörde, d.h. des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder des Ministerkomitees
des Europarates, zustellte, dem Bundesgericht einzureichen. Massgebend
für den Fristenlauf ist demnach die Mitteilung durch das Bundesamt für
Justiz. Ob der Beschwerdeführer allenfalls schon früher vom Strassburger
Urteil Kenntnis erhalten hat, ist gleichgültig (ARTHUR HAEFLIGER,
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, Bern 1993,
S. 352). Die offizielle Zustellung des Entscheids des Ministerkomitees
durch das Bundesamt kann erst erfolgen, wenn die Schlussresolution des
Ministerkomitees vorliegt. Nach Art. 32 Ziff. 1 EMRK entscheidet, sofern
in einer Beschwerdesache kein Begehren um Beurteilung durch den Gerichtshof
gestellt worden ist, das Ministerkomitee, ob die Konvention verletzt wurde.
Wenn es diese Frage bejaht, hat es nach Art. 32 Ziff. 2 EMRK eine Frist
zu bestimmen, binnen welcher der betroffene Staat die im Entscheid
vorgesehenen Massnahmen zu treffen hat. Es ist etwa daran zu denken,
dass der Staat dazu veranlasst werden kann, dem Beschwerdeführer eine
Entschädigung auszurichten oder ihm auf andere Art Satisfaktion zu leisten
(HAEFLIGER, aaO, S. 338). Trifft ein Vertragsstaat innert der vom Komitee
bestimmten Frist keine befriedigenden Massnahmen, so beschliesst es, auf
welche Weise sein Entscheid durchgesetzt werden soll, und veröffentlicht
den Bericht der Menschenrechtskommission (Art. 32 Ziff. 3 EMRK). Erst wenn
das Ministerkomitee über die zu treffenden Massnahmen nach Art. 32 Ziff. 2
oder Ziff. 3 EMRK entschieden hat, liegt eine Schlussresolution vor.

    Bei dem als "interim resolution" (résolution intérimaire)
bezeichneten Entscheid des Ministerkomitees vom 13. September 1996,
den der Generalsekretär des Komitees im vorliegenden Fall der Anwältin
des Gesuchstellers mit Schreiben vom 17. Oktober 1996 zustellte,
handelt es sich nicht um die Schlussresolution, sondern um den gemäss
Art. 32 Ziff. 1 EMRK zu treffenden "Zwischenentscheid" über die Frage
der Konventionsverletzung. Der Entwurf der Schlussresolution wurde
vom Ministerkomitee am 5. September 1997 beraten und ohne Änderungen
angenommen. Die mit dem Text des Entwurfs wörtlich übereinstimmende
endgültige Fassung des Entscheids des Ministerkomitees "Résolution
finale DH (97) 477 Walter Stürm II (W.S.) c. la Suisse" datiert vom
17. September 1997, weil nach der Annahme des Resolutionsentwurfs durch
das Ministerkomitee dem betroffenen Staat eine Frist von 10 Tagen zustand,
um rein redaktionelle Änderungen am Resolutionsentwurf zu beantragen. Da
die Schweiz im vorliegenden Fall keine solchen Änderungen verlangte,
hat das Bundesamt für Justiz - um Zeit zu gewinnen - den Anwälten des
Gesuchstellers die betreffende Resolution des Ministerkomitees bereits
am 5. September 1997 zugestellt. Es ist nach dem Gesagten verfehlt, wenn
der Gesuchsteller in seiner Eingabe vom 10. September 1997 behauptet,
der Entscheid des Ministerkomitees vom 13. September 1996 sei "durch
das Bundesamt für Justiz willkürlich fast 11 Monate lang zurückgehalten
worden".

    Erst mit der Zustellung der Schlussresolution des Ministerkomitees
durch das Bundesamt für Justiz begann die in Art. 141 Ziff. 1 lit. c OG
vorgesehene 90tägige Frist für die Einreichung eines Revisionsgesuches
nach Art. 139a OG zu laufen. Der Gesuchsteller hat sein Begehren vom
20. November 1996 mithin verfrüht eingereicht. Das hat für ihn jedoch
keine Nachteile zur Folge (JEAN-FRANÇOIS POUDRET, Commentaire de la loi
fédérale d'organisation judiciaire, Bern 1992, Band V, Art. 136-171,
N. 1.2 zu Art. 141 Abs. 1 lit. c OG, S. 61).

Erwägung 3

    3.- a) Der Revisionsgrund nach Art. 139a Abs. 1 OG setzt voraus, dass
eine Individualbeschwerde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
oder vom Ministerkomitee des Europarates wegen Verletzung eines von der
EMRK garantierten Rechts gutgeheissen worden ist und dass keine andere
Möglichkeit der Wiedergutmachung (als jene der Revision) besteht. In den
Materialien zu Art. 139a OG wird mit Bezug auf die zweite Voraussetzung
ausgeführt, in manchen Fällen werde das Urteil bzw. der Entscheid der
europäischen Behörden, allenfalls zusammen mit der Leistung einer Geldsumme
als Schadenersatz oder Genugtuung, genügen. Nur wenn dies nicht zutreffe,
solle das schweizerische Verfahren wieder aufgerollt werden (Botschaft
des Bundesrates vom 18. März 1991 zur Änderung des Bundesgesetzes über
die Organisation der Bundesrechtspflege, BBl 1991 II, S. 529).

    In der Rechtslehre wird darauf hingewiesen, Art. 50 EMRK und Art. 139a
OG könnten einander in die Quere kommen, da nach der erstgenannten
Regel der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Entschädigung
zuspricht, wenn die innerstaatlichen Gesetze nur eine unvollkommene
Wiedergutmachung gestatten, und nach der zweiten Bestimmung die Revision
nur zulässig ist, wenn keine andere Möglichkeit der Wiedergutmachung
besteht (HAEFLIGER, aaO, S. 353; POUDRET, aaO, S. 49/50). Es wird die
Meinung vertreten, die Revision sei stets zuzulassen, wenn sie den Eingriff
in die Rechte des Privaten wiedergutmachen könne; der Entschädigung sei die
Funktion des letzten Mittels zu überlassen, die ihr Art. 50 EMRK zuweise
(POUDRET, aaO, S. 50; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention [EMRK], Zürich 1993, Rz. 256, S. 158; PAOLA
DE ROSSI, Auswirkungen der Teilrevision des Bundesgesetzes über die
Organisation der Bundesrechtspflege im Bereich der Zivilrechtspflege,
in: Mitteilungen aus dem Institut für zivilgerichtliches Verfahren in
Zürich, Heft Nr. 15, Dezember 1992, S. 25). Ob der nationalen Vorschrift
(Art. 139a OG) bzw. der internationalen Norm (Art. 50 EMRK) subsidiärer
Charakter zukommt, hängt von den konkreten Umständen des einzelnen Falles
ab. Wenn - wie das hier zutrifft - nur materielle Interessen auf dem Spiel
stehen und die Konventionsverletzung mit einer Entschädigung vollständig
gutgemacht werden kann, wird mit Recht erklärt, die Revision nach Art. 139a
OG sei in einem solchen Fall nicht zu bewilligen (HAEFLIGER, aaO, S. 353).

    b) Im vorliegenden Fall hiess das Ministerkomitee die vier Beschwerden
des Gesuchstellers wegen Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 EMRK (übermässige
Dauer der Untersuchungshaft) und Art. 6 Ziff. 1 EMRK (übermässige Dauer
des Strafverfahrens) gut und gestattete die Veröffentlichung des Berichts
der Menschenrechtskommission. Ausserdem sprach es dem Gesuchsteller nach
Art. 32 Ziff. 2 EMRK zu Lasten der Schweizerischen Eidgenossenschaft
einen Gesamtbetrag ("somme globale") von Fr. 10'000.-- zu als "gerechte
Entschädigung" im Sinne der Regel Nr. 9 und der Ziff. 2bis des Anhangs
der "Regeln des Ministerkomitees für die Anwendung von Art. 32 EMRK"
(letztmals revidiert am 19. Dezember 1991).

    aa) Mit dem Revisionsgesuch wird beantragt, die Entscheide des
Bundesgerichts seien wegen Verletzung von Art. 5 Ziff. 3 und Art. 6
Ziff. 1 EMRK aufzuheben und diese Verletzung sei "durch eine angemessene
Strafmilderung zu heilen". Der Gesuchsteller ist der Meinung, die vom
Kantonsgericht Wallis am 1. Juni 1994 gegen ihn ausgefällte Zuchthausstrafe
von zehneinhalb Jahren sei "aufgrund des Entscheides des Ministerkomitees
derart zu reduzieren, dass sie zumindest vollständig verbüsst" sei,
"wenn nicht mehr, und entsprechend eine Entschädigung mit Genugtuung
geschuldet" sei.

    Das Strafurteil des Walliser Kantonsgerichts vom 1. Juni 1994
bildete nicht Gegenstand der vier hier in Frage stehenden Urteile der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. Auf das Revisionsgesuch
kann deshalb nicht eingetreten werden, soweit mit ihm eine Strafmilderung
verlangt wird.

    bb) Im weiteren beantragt der Gesuchsteller, es sei ihm eine
"angemessene Entschädigung für die innerstaatlichen Verfahren sowie
für die Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen
Ministerkomitee zuzusprechen".

    Wie erwähnt, hat das Ministerkomitee dem Gesuchsteller gemäss
Art. 32 Ziff. 2 EMRK zu Lasten der Schweizerischen Eidgenossenschaft
einen Gesamtbetrag von Fr. 10'000.-- als "gerechte Entschädigung"
(satisfaction équitable) zugesprochen. Diese Entschädigung betrifft den
ihm durch die Konventionsverletzung entstandenen Schaden sowie die Kosten
des innerstaatlichen und des Strassburger Verfahrens. Die Strassburger
Organe bestimmen die angemessene Entschädigung und haben in diesem
Rahmen auch über die Entschädigung für die Kosten des innerstaatlichen
und des Strassburger Verfahrens zu befinden (vgl. VILLIGER, aaO, S. 139,
Ziff. II). Es muss deshalb davon ausgegangen werden, der Betrag von Fr.
10'000.-- stelle eine Pauschalsumme dar. Das ist um so mehr der Fall, als
dem Gesuchsteller auf nationaler Ebene die unentgeltliche Rechtspflege für
alle vier bundesgerichtlichen Verfahren gewährt wurde. Die Entrichtung
einer pauschalen Entschädigung entspricht im übrigen auch der Praxis
des Ministerkomitees in ähnlichen Fällen (vgl. die Résolution finale DH
[95] 199 vom 11. September 1995 im Falle R. gegen die Schweiz, publ. in
VPB 60/1996, Nr. 130, S. 940 f., wo ein Gesamtbetrag "somme totale" von
Fr. 4'000.-- als angemessene Entschädigung zugesprochen wurde). Es bleibt
daher kein Raum, um auf dem Weg über die Revision eine Entschädigung
für allfällige weitere Kosten der innerstaatlichen Verfahren und des
Verfahrens vor den Konventionsorganen zu verlangen. Das Revisionsbegehren
ist in diesem Punkt abzuweisen.