Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 264



123 I 264

25. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26.
September 1997 i.S. E. und V. gegen Kanton Tessin und Kanton Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 46 Abs. 2 BV (Verbot der Doppelbesteuerung; Besteuerung der
Nacherbschaft).

    Der Nacherbe erwirbt die Erbschaft des Erblassers, weshalb die
Besteuerung der Nacherbschaft dem Kanton des letzten Wohnsitzes des
Erblassers zur Besteuerung zusteht (E. 2).

Sachverhalt

    Am 20. Januar 1986 starb G., geb. 1896, wohnhaft gewesen in Zürich. Mit
letztwilliger Verfügung hatte er seine Ehefrau F., geboren 1901, als
Vorerbin bezeichnet, seine Nichten E. und V. als Nacherbinnen. F. erbte von
ihrem Ehemann ein Vermögen von Fr. 3'270'000.--. Sie starb am 26. Januar
1989 mit letztem Wohnsitz in Ascona. Die Nacherbschaft von E. und V. betrug
je Fr. 1'271'025.65. Der Kanton Tessin auferlegte den beiden Nacherbinnen
für die Erbschaft von G. Erbschaftssteuern von je Fr. 279'620.--.

    Am 8. September 1994 gelangte das Kantonale Steueramt Zürich an
die Tessiner Veranlagungsbehörde und machte die Steuerhoheit für die
Nacherbschaft geltend. Der Kanton Tessin stellte sich auf den Standpunkt,
die Vorerbin sei nicht zur Sicherstellung der Nacherbschaft verpflichtet
gewesen, weshalb der Kanton Tessin berechtigt gewesen sei, die Erbschaft
zu besteuern. Der Steueranspruch des Kantons Zürich sei zudem verwirkt.

    Mit Verfügung vom 27. März 1995 verpflichtete die Finanzdirektion
des Kantons Zürich E. und V. zur Bezahlung von Erbschaftssteuern von
insgesamt Fr. 774'410.--.

    Am 25. April 1995 bzw. 26. April 1995 haben E. (Verfahren 2P.155/1995)
und V. (Verfahren 2P.157/1995) staatsrechtliche Beschwerde an das
Bundesgericht wegen Verletzung des Doppelbesteuerungsverbots (Art. 46
Abs. 2 BV) erhoben. In beiden Beschwerden wird beantragt, die Verfügung
der Finanzdirektion des Kantons Zürich vom 27. März 1995 aufzuheben,
eventuell die Beschwerde gegen den Kanton Tessin gutzuheissen und dessen
Einspracheentscheid vom 28. Dezember 1989 aufzuheben.

    Die Finanzdirektion des Kantons Zürich beantragt, die staatsrechtlichen
Beschwerden gegen den Kanton Zürich abzuweisen. Die Divisione delle
contribuzioni des Kantons Tessin stellt Antrag auf Gutheissung der
Beschwerden gegen den Kanton Zürich und Abweisung des Eventualantrags
der Beschwerdeführerinnen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Eine gegen Art. 46 Abs. 2 BV verstossende Doppelbesteuerung
liegt vor, wenn eine steuerpflichtige Person von zwei oder mehreren
Kantonen für das gleiche Steuerobjekt und für die gleiche Zeit zu Steuern
herangezogen wird (aktuelle Doppelbesteuerung) oder wenn ein Kanton in
Verletzung der geltenden Kollisionsnormen seine Steuerhoheit überschreitet
und eine Steuer erhebt, zu deren Erhebung ein anderer Kanton zuständig wäre
(virtuelle Doppelbesteuerung) (BGE 116 Ia 127 E. 2a S. 130). Vorliegend
ist eine aktuelle Doppelbesteuerung gegeben, da die Beschwerdeführerinnen
für den Nachlass des G. sowohl an dessen letztem Wohnsitz im Kanton Zürich
als auch am letzten Wohnsitz der Vorerbin im Kanton Tessin belastet werden.

    b) Zugänge beweglichen Vermögens aus Erbschaft unterliegen nach
ständiger Praxis der Erbschaftssteuer im Kanton des letzten Wohnsitzes des
Erblassers (BGE 95 I 26 E. 2 S. 29; 108 Ia 252 E. 3 S. 254; ERNST HÖHN,
Interkantonales Steuerrecht, 3. Aufl. 1993, N. 13 zu § 17 S. 241).

    Es ist unbestritten, dass die Erbschaft, soweit sie direkt von der
verstorbenen F. stammt, im Kanton Tessin zu versteuern ist. Hingegen
beansprucht der Kanton Zürich die Steuerhoheit für die Vermögenswerte,
die von G., dessen letzter Wohnsitz Zürich war, stammen und die dessen
Ehefrau nur als Vorerbin erhalten hatte. Der Kanton Tessin hat denn diese
Vermögenswerte in seiner Veranlagungsverfügung und im Einspracheentscheid
auch ausdrücklich als vom Onkel herkommend ("quota ricevuta dallo zio")
bezeichnet.

    Die sog. Nacherbeneinsetzung regelt zwei aufeinanderfolgende Erbgänge
in der Weise, dass der Vorerbe durch Verfügung des Erblassers verpflichtet
wird, die Erbschaft zu einem späteren Zeitpunkt (meist beim Tod des
Vorerben, Art. 489 Abs. 1 ZGB) dem Nacherben auszuliefern. Vorerbe
und Nacherbe sind beide unmittelbare Erben desselben Erblassers
(vgl. Art. 491 Abs. 1 und Art. 492 Abs. 1 ZGB; ESCHER, Zürcher Kommentar,
N. 1 zu Art. 491 ZGB, N. 1 und 2 zu Art. 492 ZGB). Der Nacherbe gilt
insbesondere nicht als Erbe des Vorerben (THOMAS CHRISTEN, Nacherbfolge
aus steuerrechtlicher Sicht, ASA 63 S. 258). Da der Nacherbe die Erbschaft
zivilrechtlich direkt vom Erblasser erwirbt (EUGEN HUBER, Erläuterungen
zum Vorentwurf ZGB, Bern 1914, S. 396 f.), liegt die Steuerhoheit am
letzten Wohnsitz des Erblassers und nicht an demjenigen des Vorerben
(CHRISTEN, aaO, S. 275). Es steht somit fest, dass die Steuerhoheit für
die Nacherbschaft dem Kanton Zürich zusteht.

    c) Die Beschwerdeführerinnen und der Kanton Tessin machen geltend,
der Kanton Zürich habe seinen Steueranspruch verwirkt, da er mit dessen
Geltendmachung ungebührlich lange zugewartet habe.

    Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verwirkt ein Kanton,
der die für die Steuerpflicht massgebenden Tatsachen kennt oder kennen
kann, das Recht auf Besteuerung, wenn er gleichwohl mit der Erhebung
des Steueranspruchs ungebührlich lange zuwartet und wenn überdies ein
anderer Kanton - bei Gutheissung dieses erst nachträglich erhobenen
Steueranspruchs - zur Rückerstattung von Steuern verpflichtet werden
müsste, die er formell ordnungsgemäss, in guten Treuen und in Unkenntnis
des kollidierenden Steueranspruchs bezogen hat (BGE 94 I 318 E. 4b
S. 321, mit Hinweisen; ASA 56 85 E. 4b; 64 167 E. 5a; Peter Locher, Das
interkantonale Doppelbesteuerungsrecht, § 2 IV D, namentlich Nr. 35). Diese
Einrede, die nicht nur auf die periodischen Steuern auf dem Einkommen
und dem Vermögen, sondern auch auf die Erbschaftssteuer anwendbar ist
(BGE 74 I 267 E. 2 S. 271), kann nur von anderen Kantonen, nicht aber
vom Steuerpflichtigen selber erhoben werden (BGE 94 I 318 E. 4a S. 321,
mit Hinweisen).

    Die Einrede des Kantons Tessin dringt im vorliegenden Fall nicht
durch. Wohl scheint zuzutreffen, dass der Tod der Vorerbin dem Notariat
W., dem Zivilstandsamt der Stadt Zürich und dem Tagblatt der Stadt Zürich
mitgeteilt worden ist. Doch mussten diese Mitteilungen nicht dazu führen,
dass der Kanton seinen Steueranspruch hätte kennen können. Beim Notariat
W. musste der Ehe- und Erbvertrag angefordert werden, im Tagblatt der Stadt
Zürich wurde eine Todesanzeige veröffentlicht, und dem Zivilstandsamt
der Stadt Zürich wurde der Tod der Vorerbin gemeldet, die Bürgerin
dieser Stadt war. Die Finanzdirektion des Kantons Zürich macht aber zu
Recht geltend, dass in aller Regel weder die Einforderung eines Ehe-
und Erbvertrags noch die Meldung des Todes eines Bürgers der Stadt
Zürich mit ausserkantonalem Wohnsitz zu einem Steueranspruch des Kantons
führt. Deshalb kann dem Kanton auch nicht angelastet werden, dass solche
Meldungen nicht systematisch an die Steuerbehörde weitergeleitet werden.
Der Kanton Zürich überprüft offenbar in periodischen Abständen die
Steuerverfahren, bei denen im Falle des Versterbens des Vorerben ein
Anspruch auf Besteuerung der Nacherbschaft besteht. Es leuchtet ein,
dass die Überprüfung, ob der Vorerbe noch lebt, aufwendig sein kann,
wenn dieser seinen Wohnsitz nicht im Kanton hat. Unter diesen Umständen
lässt sich nicht sagen, dass der Kanton Zürich seinen Anspruch früher
hätte geltend machen müssen, zumal die Steuerbehörden des Kantons Tessin
denjenigen des Kantons Zürich keine entsprechende Mitteilung gemacht haben.

    d) Schliesslich wirft die Finanzdirektion des Kantons
Zürich die Frage auf, ob die Beschwerdeführerinnen das Recht zur
Doppelbesteuerungsbeschwerde gegenüber dem Kanton Tessin verwirkt haben.

    Dieses Recht verwirkt der Steuerpflichtige nach der bundesgerichtlichen
Praxis, wenn er in Kenntnis des kollidierenden Steueranspruchs eines
anderen Kantons die Besteuerungsbefugnis ausdrücklich oder stillschweigend
vorbehaltlos anerkennt, so etwa durch ausdrückliche Erklärung, Abgabe der
Steuererklärung, Unterlassen der Einsprache oder weiteren Rechtsmitteln und
Bezahlung des veranlagten Steuerbetrags (vgl. BGE 101 Ia 384 E. 1 S. 386;
ASA 57 582 E. 2b; 58 538 E. 2c; LOCHER, aaO, § 12 III D). Die Verwirkung
wird jedoch nicht von Amtes wegen berücksichtigt, sondern nur auf Einrede
des Kantons, dessen Steueranspruch dermassen anerkannt wurde (ASA 57 582
E. 2b). Da der Kanton Tessin sich gegenüber den Beschwerdeführerinnen
nicht auf die Verwirkung ihres Beschwerderechts beruft, stellt sich diese
Frage nicht.