Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 I 25



123 I 25

4. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
12. März 1997 i.S. R. D. gegen Regierungsrat des Kantons Solothurn
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 18 Abs. 1 der Verfassung vom 8. Juni 1986 des Kantons Solothurn
(KV/SO); Anspruch auf richterliche Beurteilung im Kanton bei Verweigerung
einer Aufenthaltsbewilligung?

    Zulässiges Rechtsmittel und Beschwerdelegitimation bei
Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung (E. 1).

    Art. 18 Abs. 1 KV/SO, wonach jeder "Anspruch auf Rechtsschutz" hat,
garantiert nicht in allen Verwaltungsstreitsachen den Zugang zu einem
Gericht (E. 2).

Sachverhalt

    Der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende D. R. erhielt
im Februar 1992 auf Gesuch seiner Ehefrau eine bis 31. Januar 1996
befristete Aufenthaltsbewilligung. Am 19. März 1996 stellte die Abteilung
Ausländerfragen des Departements des Innern des Kantons Solothurn fest,
dass mit der Trennung der Ehegatten am 31. Juli 1995 der Grund für seine
Zulassung dahingefallen sei, weshalb die Aufenthaltsbewilligung nicht
mehr verlängert werde.

    D. R. gelangte hiergegen an den Regierungsrat des Kantons Solothurn. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht verlangte er gestützt auf Art. 18 der
Kantonsverfassung (Verfassung vom 8. Juni 1986 des Kantons Solothurn,
KV/SO; SR 131.221), dass der Fall durch ein solothurnisches Gericht
beurteilt werde. Am 5. November 1996 wies der Regierungsrat die Beschwerde
ab und verneinte einen Anspruch auf richterlichen Rechtsschutz: Gemäss
§ 50 Abs. 1 des Gerichtsorganisationsgesetzes vom 13. März 1977 sei
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Verfügungen und Entscheide
des Kantonsrats und des Regierungsrats grundsätzlich unzulässig. In
Aufenthalts- und Niederlassungssachen schliesse § 50 Abs. 2 lit. c
des Gerichtsorganisationsgesetzes die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ausdrücklich aus. Der Anspruch auf Rechtsschutz gemäss Art. 18 KV/SO
verpflichte nicht dazu, gegen die Verweigerung fremdenpolizeilicher
Bewilligungen den Zugang zu einem Gericht vorzusehen.

    Gegen diesen Entscheid hat D. R. staatsrechtliche Beschwerde
erhoben. Er macht geltend, ihm sei das sich aus Art. 18 KV/SO ergebende
verfassungsmässige Recht auf Beurteilung durch ein Gericht verweigert
worden. Der Beschluss vom 5. November 1996 sei deshalb aufzuheben und
die Angelegenheit zu neuer Beurteilung unter Wahrung der Verfahrensrechte
an den Regierungsrat zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab aus

Auszug aus den Erwägungen:

                     folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Ehegatten D. R. wohnen nicht mehr zusammen, weshalb
der Rechtsanspruch des Beschwerdeführers auf Erteilung einer
Aufenthaltsbewilligung erloschen ist (Art. 17 Abs. 2 des Bundesgesetzes
vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, ANAG;
SR 142.20). Ohne einen solchen ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an
das Bundesgericht ausgeschlossen (Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG; BGE 122 II
385 E. 1a S. 388), und es fehlt dem Betroffenen in der Sache ein rechtlich
geschütztes Interesse (Art. 88 OG), den entsprechenden Entscheid mit
staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung des Willkürverbots (Art. 4
BV) anzufechten (BGE 121 I 267 E. 2 S. 269, mit Hinweis). Er kann jedoch
die Verletzung von Verfahrensvorschriften rügen, deren Missachtung eine
formelle Rechtsverweigerung darstellt (grundlegend: BGE 114 Ia 307 E. 3c
S. 312 ff.). Der Beschwerdeführer beruft sich in diesem Zusammenhang auf
Art. 18 KV/SO. Nach dessen Abs. 1 hat jeder "Anspruch auf Rechtsschutz";
Abs. 2 räumt den Parteien einen Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht,
Behörden und Verwaltung sowie auf einen begründeten Entscheid innert
angemessener Frist ein. Zu den verfassungsmässigen Rechten im Sinne von
Art. 113 Abs. 1 Ziff. 3 BV und Art. 84 Abs. 1 lit. a OG, deren Verletzung
mit staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden kann, gehören auch durch
die Kantonsverfassung gewährleistete Rechte, soweit ihnen der Charakter
von Freiheitsrechten, d.h. von individualrechtlichen Garantien zum Schutze
des Bürgers zukommt (BGE 121 I 267 E. 3a S. 269, mit Hinweisen). Dies
ist hier der Fall, weshalb der Beschwerdeführer geltend machen kann,
der angefochtene Beschluss verletze ihn in seinen durch Art. 18 KV/SO
garantierten prozessualen Rechten. Auf die staatsrechtliche Beschwerde
ist deshalb einzutreten.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Ansicht des Beschwerdeführers garantiert Art. 18 KV/SO
in sämtlichen Streitigkeiten Zugang zu einem Gericht und Anspruch auf
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung. Er beruft sich hierfür auf
die Lehrmeinung von ANDREAS KLEY-STRULLER (Der richterliche Rechtsschutz
gegen die öffentliche Verwaltung, Zürich 1995, S. 101 ff.; derselbe,
Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt,
Zürich 1993, S. 99 f.), wonach der in Art. 18 KV/SO verwendete Begriff
"Rechtsschutz" in der schweizerischen Terminologie Zugang zu einem Gericht
bedeute und Synonym für Rechtsweggarantie und Gerichtsschutz sei (Der
richterliche Rechtsschutz, S. 4; Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie,
S. 1). Der Solothurner Verfassungsgeber habe den Ausdruck dem Entwurf
1977 der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision
der Bundesverfassung entnommen; dort sei Rechtsschutz als Gerichtsschutz
verstanden worden (Der richterliche Rechtsschutz, S. 100 f.). Für einen
Anspruch auf Zugang zu einem Gericht in allen Verwaltungsstreitsachen
sprächen zudem die "deutlichen" Materialien (Der richterliche Rechtsschutz,
S. 101 Anm. 150). Eine verwaltungsinterne Rechtspflege könne schliesslich
auch nicht als effektives Verfahren bezeichnet werden, welches diese
Bestimmung anstrebe (Der richterliche Rechtsschutz, S. 101; Art. 6 EMRK
als Rechtsschutzgarantie, S. 99).

    b) Die vier Argumente, die KLEY-STRULLER für seine Auffassung
einer allgemeinen Garantie richterlichen Rechtsschutzes in sämtlichen
Verwaltungsstreitsachen im Kanton Solothurn anführt, überzeugen nicht und
halten einer Überprüfung anhand der von ihm genannten Belege nicht stand:

    aa) Unter den Begriff des Rechtsschutzes fällt in der schweizerischen
Terminologie auch die verwaltungsinterne Rechtspflege, soweit sie nicht
bloss Rechtsbehelf (beispielsweise Aufsichtsbeschwerde) ist, sondern
als Rechtsmittel einen verfahrensrechtlichen Anspruch auf geordnete
Prüfung und Beurteilung des ins Recht gelegten Begehrens verschafft
(vgl. FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983,
S. 219; vgl. auch RHINOW/KOLLER/KISS, Öffentliches Prozessrecht und
Justizverfassungsrecht des Bundes, Basel/Frankfurt a.M. 1996, Rz. 25
ff.). Zu den Rechtsmitteln, welchen Rechtsschutzfunktion zukommt, gehört
sowohl die Verwaltungsbeschwerde wie die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
(GYGI, aaO, S. 218; RHINOW/KOLLER/KISS, aaO, Rz. 1209 ff.). Nach KURT
EICHENBERGER kann der schweizerische Rechtsschutz in Verwaltungssachen nur
unter Einbezug der verwaltungsinternen Rechtspflege richtig verstanden
werden (KURT EICHENBERGER, Die aargauische Verwaltungsgerichtsbarkeit
im System der schweizerischen Verwaltungsrechtspflege, in Aargauische
Rechtspflege im Gang der Zeit, Aarau 1969, S. 295). Auch der Autor,
auf den sich der Beschwerdeführer beruft, spricht verschiedentlich von
"richterlichem Rechtsschutz", wenn er den Zugang zu einem Gericht meint
(so schon der Titel seines Werks). In bezug auf die Verfassung des
Kantons Uri (SR 131.214), die in ihrem Art. 13 - gleichlautend wie
die solothurnische - bestimmt, dass jeder "Anspruch auf Rechtsschutz"
habe, räumt Kley-Struller ein, dass der Verfassungsrat an der damals
noch fehlenden Verwaltungsgerichtsbarkeit nichts habe ändern wollen
(Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie, S. 99 f. FN 4). Er anerkennt
damit aber selber, dass der "Rechtsschutz" nicht bereits von der Sache
her begriffsnotwendig ein richterlicher sein muss. Das Solothurner
Gesetz vom 15. November 1970 über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen
regelt neben der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch die verwaltungsinterne
Rechtspflege. Es trifft somit offensichtlich weder für die schweizerische
Literatur (vgl. auch CHRISTOPH ROHNER, Probleme des Rechtsschutzes, ZSR
107/1988 II 229; Rainer Schweizer, Auf dem Weg zu einem schweizerischen
Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht, ZBl 91/1990 S. 196)
noch für den Sprachgebrauch des solothurnischen Gesetzgebers zu, dass
Rechtsschutz Synonym für Gerichtsschutz wäre.

    bb) Art. 18 KV/SO mag dem Entwurf 1977 für eine Totalrevision der
Bundesverfassung nachgebildet sein. Der Begriff des Rechtsschutzes hat
aber auch dort nicht die Bedeutung, wie sie ihm vom Beschwerdeführer und
von Kley-Struller im Zusammenhang mit Art. 18 KV/SO beigemessen wird:
Im Bericht der Expertenkommission (S. 50) wird der in Art. 20 Abs. 1
des Entwurfs verankerte Anspruch auf Rechtsschutz als allgemeiner,
den gesamten Artikel beherrschender Grundsatz bezeichnet. Abs. 4 sieht
einen Anspruch auf rechtliches Gehör und auf einen begründeten Entscheid
innert angemessener Frist "in allen Verfahren" vor. Der Begriff des
Rechtsschutzes bezieht sich damit insoweit nicht nur auf die Gerichte,
sondern auch auf Entscheide anderer Behörden. Art. 18 Abs. 1 KV/SO
garantiert dementsprechend einen Rechtsschutz in allgemeiner Weise; Abs. 2
hält dagegen fest, dass die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör
"vor Gerichten, Behörden und der Verwaltung" haben. Dieses Recht ist
Ausfluss von Absatz 1 und gilt nicht nur vor Gerichten. Wohl wollte die
Expertenkommission bei der Totalrevision der Bundesverfassung die Kantone
zur Einführung unabhängiger Verwaltungsgerichte verpflichten. Art. 20
Abs. 5 des Entwurfs bestimmte deshalb: "Gegen Verfügungen der Verwaltung
kann der Betroffene in letzter Instanz bei einem Gericht Beschwerde führen;
das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen". Das Erfordernis eines richterlichen
Rechtsschutzes in Verwaltungssachen (allerdings ausdrücklich mit Ausnahmen)
folgte somit aus Art. 20 Abs. 5 und nicht bereits aus dem Anspruch auf
Rechtsschutz nach Abs. 1 des Entwurfs, an dem sich der Verfassungsrat
des Kantons Solothurn orientiert haben soll.

    cc) Etwas anderes ergibt sich - entgegen den Ausführungen von
KLEY-STRULLER (Der richterliche Rechtsschutz, S. 101 FN 150) - auch
nicht aus den Solothurner Verfassungsmaterialien. Wohl sah der Entwurf
für eine neue Kantonsverfassung einen richterlichen Schutz aller Rechte
und damit eine richterliche Rechtsschutzgarantie vor (Verhandlungen des
Verfassungsrats des Kantons Solothurn 1981-1986, S. 513); nicht jedoch
der verabschiedete Verfassungstext. Daraus, dass einmal von einem
richterlichen Schutz aller Rechte die Rede war, kann nicht geschlossen
werden, der schliesslich verwendete Begriff des "Rechtsschutzes"
entspreche dieser Formulierung. Dem Protokoll des Verfassungsrats
lassen sich für diese Behauptung keine Belege entnehmen. Im Gegenteil:
In einer Zusammenfassung der Ergebnisse des Vernehmlassungsverfahrens
hielt der Präsident des Verfassungsrats fest, für die Regierung und das
Obergericht gehe ein richterlicher Schutz aller Rechte zu weit und hätte
eine tiefgreifende Änderung im Rechtssystem zur Folge (Verhandlungen
des Verfassungsrats, S. 1068, zweiter Absatz in fine). Diese Kritik hat
offenbar im auf Grundlage des Vernehmlassungsverfahrens überarbeiteten
Antrag der zuständigen Kommission (Verhandlungen des Verfassungsrats,
S. 1061) ihren Niederschlag gefunden, welche nunmehr nur noch einen
Anspruch auf Rechtsschutz beantragte und nicht mehr auf "richterlichen
Schutz". Die Protokolle der zuständigen Sachkommission A (Grundrechte)
und der Bericht dieser Kommission an das Plenum des Verfassungsrats
für die 2. Lesung im Anschluss an das Vernehmlassungsverfahren halten
ausdrücklich fest: "Mit der neuen Formulierung wird stichhaltigen
Einwänden Rechnung getragen. Der Begriff 'richterlicher Schutz' ist im
Rahmen der solothurnischen Rechtspflegeordnung zu eng, da in gewissen
Fällen letztinstanzlicher Rechtsschutz im Verfahren vor dem Regierungsrat
gewährt wird. Es besteht keine Veranlassung, in diesem Punkt die geltende
Ordnung zu ändern" (Bericht und Antrag der Sachkommission A vom 19.
Juli 1985, S. 11; vgl. auch Protokolle der Sachkommission A vom 28. Mai
1985, S. 148, und vom 25. Juni 1985, S. 156, sowie des Ausschusses vom
20. Juli 1985). Die Materialien belegen damit klar das Gegenteil dessen,
was der Beschwerdeführer gestützt auf Kley-Struller daraus ableiten will.

    dd) Es trifft schliesslich auch nicht zu, dass verwaltungsinterner
Rechtsschutz nur theoretisch oder formal und jedenfalls nicht effektiv
wäre, wie KLEY-STRULLER (Der richterliche Rechtsschutz, S. 101;
Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie, S. 99) meint. Die Europäische
Menschenrechtskonvention verlangt, dass für die Geltendmachung einer
Konventionsverletzung eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz
zur Verfügung steht (Art. 13 EMRK), was aber nicht gleichbedeutend
ist mit gerichtlichem Rechtsschutz (FROWEIN/PEUKERT, Europäische
Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Kehl/Strassburg/Arlington 1996, N. 3
zu Art. 13, S. 428). Einen Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz sieht
die Konvention für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sowie für
strafrechtliche Anklagen (Art. 6 EMRK) und bei Freiheitsentzug (Art. 5
Ziff. 4 EMRK) vor. Diese differenzierte Ausgestaltung macht deutlich,
dass auch der nichtgerichtliche Rechtsschutz für die Gewährleistung
von Grundrechten effektiv sein kann. Es lässt sich deshalb nicht sagen,
ein Rechtsmittel an eine kantonale Regierung sei lediglich formal und
theoretisch.

    ee) Der Entwurf für eine neue Bundesverfassung (Reformbereich Justiz)
sieht bei Rechtsstreitigkeiten einen "Anspruch auf Beurteilung durch eine
richterliche Behörde" vor, wobei durch Gesetz die richterliche Beurteilung
aber "in Ausnahmefällen" ausgeschlossen werden kann (Art. 25a; BBl 1997
I 640). Eine Rechtsweggarantie in diesem Sinne kennt heute aber weder das
Bundes- (vgl. Art. 25 und Art. 26 des Revisionsentwurfs, BBl 1997 I 593)
noch, wie dargelegt, das Solothurner Verfassungsrecht.