Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 IV 84



123 IV 84

13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember 1996 i.S. G.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 2 Abs. 2 StGB; Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 90 Ziff. 1 SVG und
Art. 102 Ziff. 1 SVG; Aufhebung einer Geschwindigkeitsbeschränkung;
Grundsatz der lex mitior.

    Die Aufhebung einer Geschwindigkeitsbeschränkung führt nicht dazu,
dass eine vor der Aufhebung erfolgte Missachtung nicht mehr bestraft
werden dürfte (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- G. fuhr am 10. April 1995 am Steuer seines Personenwagens auf der
Autobahn N2 im Gemeindegebiet Emmen in Richtung Basel und überschritt
dabei die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 27 km/h
(nach Abzug der Sicherheitsmarge von 6 km/h).

    Die hier gegebene Geschwindigkeitsbeschränkung beruht auf folgender
Grundlage: Am 26. Mai 1992 verfügte der Regierungsrat des Kantons Luzern
im Raum Luzern auf bestimmten Streckenabschnitten der Nationalstrassen
N2 und N14 Geschwindigkeitsbeschränkungen, unter anderem die hier in
Frage stehende. Am 25. Juni 1992 genehmigte das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement die Verfügung, worauf sie am 4. Juli 1992 im
Luzerner Kantonsblatt veröffentlicht wurde. Allfälligen Beschwerden
wurde die aufschiebende Wirkung entzogen. Gegen die Verfügung des
Kantons Luzern erhoben zahlreiche juristische und natürliche Personen
fristgerecht Beschwerde beim Schweizerischen Bundesrat. Ein Antrag auf
Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung wurde vom Eidgenössischen
Finanzdepartement als Instruktionsinstanz mit Verfügung vom 1. September
1992 abgewiesen. Am 4. Dezember 1992 erliess der Regierungsrat des Kantons
Luzern eine neue Verfügung über Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den
Nationalstrassen N2 und N14 im Raum Luzern. Die hier in Frage stehende
Geschwindigkeitsbeschränkung wurde beibehalten.

    Am 19. Juni 1995 hob der Schweizerische Bundesrat die Verfügungen
des Regierungsrates des Kantons Luzern vom 26. Mai und vom 4. Dezember
1992 auf.

    Bereits am 12. April 1995 hatte der Bundesrat in einer
Pressemitteilung bekanntgegeben, dass die von den Luzerner Behörden
verfügten Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht mehr gerechtfertigt
seien. Aufgrund dieser Pressemitteilung beschloss die Staatsanwaltschaft
des Kantons Luzern am 3. Mai 1995, nur noch die bis und mit 11. April 1995
wegen Verstosses gegen die angefochtene Höchstgeschwindigkeit fehlbaren
Fahrzeuglenker strafrechtlich zu verfolgen.

    B.- Das Amtsgericht Hochdorf bestrafte G. am 7. März 1996 wegen
Überschreitens der signalisierten Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn
in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG (SR 741.01) mit einer Busse von
Fr. 280.--.

    C.- Das Obergericht des Kantons Luzern wies am 25. September 1996
eine Kassationsbeschwerde des G. ab, soweit es darauf eintrat.

    D.- G. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den
Entscheid des Obergerichtes und das Urteil des Amtsgerichtes aufzuheben; er
sei vom Vorwurf des Überschreitens der signalisierten Höchstgeschwindigkeit
auf der Autobahn freizusprechen bzw. die Sache sei zur Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung
von Art. 4 BV geltend, weil die Vorinstanz ihn wegen einer
Geschwindigkeitsüberschreitung, begangen am 10. April 1995, bestrafte,
obwohl entsprechende Geschwindigkeitsüberschreitungen mit Wirkung ab
12. April nicht mehr verfolgt wurden. Darin liege eine vor der Verfassung
nicht haltbare Ungleichbehandlung.

    Auf die Beschwerde ist auch insoweit nicht einzutreten. Denn die Frage,
ob der Beschwerdeführer aus Gründen der Gleichbehandlung ebenfalls nicht
hätte verfolgt werden dürfen, ist nicht ein Frage des eidgenössischen
Rechtes; sie hätte dem Bundesgericht mit staatsrechtlicher Beschwerde
vorgelegt werden müssen (vgl. BGE 115 Ia 81 betreffend Gleichbehandlung
im Unrecht).

    b) Die Beschwerde wäre im übrigen in diesem Punkte, auch wenn man
sie insoweit als staatsrechtliche Beschwerde entgegennehmen würde,
unbegründet, da die Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf sachlichen
Gründen beruht. Wenn die Öffentlichkeit durch die Presse am 12. April
1995 über den Entscheid des Bundesrates orientiert wurde, dann war es
sachlich gerechtfertigt, auf dieses Datum abzustellen, wenn man bereits
vor der formellen Aufhebung der Geschwindigkeitsbeschränkung und der
Entfernung der Signaltafeln von einer Strafverfolgung absehen wollte. Ob
es im übrigen angebracht war, vor der Entfernung der Signaltafeln auf
eine Verfolgung von Geschwindigkeitsüberschreitungen zu verzichten, und
ob nicht im Interesse der Rechtssicherheit damit bis zum Vollzug des
Beschwerdeentscheides des Bundesrates hätte zugewartet werden müssen,
kann bei dieser Sachlage offenbleiben.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer bringt vor, seine Bestrafung verletze den
Grundsatz der lex mitior (Art. 2 Abs. 2 StGB).

    a) Nach Art. 102 Ziff. 1 SVG sind die allgemeinen Bestimmungen des
Strafgesetzbuches auch auf das Strassenverkehrsgesetz anwendbar, soweit
dieses keine abweichenden Vorschriften enthält. Da dies nicht der Fall
ist, findet Art. 2 StGB Anwendung (vgl. BGE 116 IV 258 E. 3b). Nach Abs. 2
dieser Bestimmung ist das neue mildere Recht auf Taten anzuwenden, die noch
vor Inkrafttreten des neuen Rechtes begangen wurden. Eine zum Zeitpunkt
ihrer Begehung strafbare Verhaltensweise kann also strafrechtlich nicht
mehr erfasst werden, wenn ihre strafrechtliche Beurteilung erst nach der
Abschaffung der Strafbestimmung erfolgt.

    So konnte beispielsweise ein zum Zeitpunkt der Begehung strafbarer
Ehebruch gemäss Art. 214 aStGB nach Aufhebung dieser Bestimmung am
1. Januar 1990 nicht mehr bestraft werden. Entsprechendes gilt für den im
alten Recht weiter gefassten Tatbestand der unzüchtigen Veröffentlichungen
gemäss Art. 204 aStGB: Verhaltensweisen, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung
noch von Art. 204 aStGB erfasst waren, konnten mit dem Inkrafttreten
des neuen Sexualstrafrechtes nur noch bestraft werden, wenn sie auch
nach neuem Recht unter die Strafbestimmung der Pornographie gemäss
Art. 197 StGB fielen. Wer also im September 1992 eine nach dem damals
noch gültigen alten Recht strafbare unzüchtige Veröffentlichung vornahm,
konnte mit dem Inkrafttreten des neuen Rechtes am 1. Oktober 1992 nicht
mehr bestraft werden, wenn die Verhaltensweise nicht unter die neue
Pornographiebestimmung fiel.

    b) Art. 2 Abs. 2 StGB ist auf die vorliegende Konstellation nicht
anwendbar. Der Beschwerdeführer wurde bestraft wegen Verletzung von
Verkehrsregeln nach Art. 90 Ziff. 1 SVG. Danach macht sich strafbar,
wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften
des Bundesrates verletzt. Der Beschwerdeführer wurde bestraft, weil er
eine signalisierte Höchstgeschwindigkeit missachtet hat (Art. 27 Abs. 1
SVG). Die Pflicht, Signale zu befolgen, wurde durch den Beschwerdeentscheid
des Bundesrates, mit welchem die angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung
aufgehoben wurde, nicht in Frage gestellt. Ebenso wurde mit dem Entscheid
des Bundesrates die Verfügung des Regierungsrates des Kantons Luzern
nicht rückwirkend aufgehoben, nachdem insbesondere das Eidgenössische
Finanzdepartement Begehren um aufschiebende Wirkung abgewiesen
hatte. Im vorliegenden Zusammenhang kann im übrigen offenbleiben, ob die
Verkehrsteilnehmer verpflichtet waren, bis zur Entfernung der Signalisation
die ursprünglich angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung zu beachten oder
ob die Missachtung der Signalisation nach dem Entscheid des Bundesrates
strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden konnte, wogegen immerhin spricht,
dass sich alle Verkehrsteilnehmer grundsätzlich auf die Gültigkeit von
signalisierten Höchstgeschwindigkeiten verlassen dürfen (BGE 113 IV 123).

    Die Aufhebung einer Verkehrsbeschränkung bedeutet deshalb nicht, dass
eine vor der Aufhebung erfolgte Missachtung der Beschränkung nach der
Aufhebung in Anwendung der lex mitior nicht mehr bestraft werden dürfte.

    Grundgedanke des lex-mitior-Prinzips ist, dass die Tat zufolge
Änderung der Rechtsanschauung nicht mehr bzw. weniger strafwürdig
erscheint (BGE 89 IV 113 E. 1a), wie dies bei den oben erwähnten
Beispielen der Aufhebung der Strafbestimmung betreffend den Ehebruch und
der Änderung der Pornographiebestimmung gezeigt wurde. Die Aufhebung
einer Geschwindigkeitsbeschränkung ändert nichts daran, dass nach
der Rechtsanschauung eine von der gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit
abweichende signalisierte Höchstgeschwindigkeit beachtet werden muss.

    c) Auch aus der vom Beschwerdeführer angerufenen Rechtsprechung
ergibt sich nichts anderes. So wurde in BGE 116 IV 258 E. 4e ausdrücklich
bestätigt, dass nur eine geänderte Rechtsauffassung zur Anwendung von
Art. 2 Abs. 2 StGB führen kann. Aus diesem Grunde wurde angenommen,
der Verstoss gegen eine nur vorübergehend geltende Sondervorschrift
betreffend die Anwendbarkeit des Warenumsatzsteuerbeschlusses bleibe auch
dann strafbar, wenn zum Zeitpunkt der Beurteilung die Sondervorschrift
wieder aufgehoben war. Auch aus BGE 97 IV 233 lässt sich nichts anderes
herleiten. Wenn das Bundesgericht in jener Entscheidung angenommen hat,
eine Einschränkung des Anwendungsbereiches der Ausverkaufsverordnung
führe dazu, dass ein vor der Änderung begangener Verstoss gegen die
Ausverkaufsverordnung nun nach dem neuen milderen Recht zu beurteilen
sei, dann offenbar deshalb, weil es davon ausgegangen ist, diese Änderung
beruhe auf einer Änderung der Rechtsanschauung.