Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 IV 197



123 IV 197

31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. Dezember 1997 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 172ter Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 139 Ziff. 1 StGB; Taschendiebstahl;
geringfügiges Vermögensdelikt.

    Zieht der Täter einem älteren gehbehinderten Mann beim Einsteigen
ins Tram das Portemonnaie aus der Tasche, so kommt die Möglichkeit eines
Deliktsbetrags von mehr als Fr. 300.-- in Betracht und ist - ohne konkrete
Gegenindizien - der entsprechende Eventualvorsatz zu bejahen (E. 2c).

Sachverhalt

    Am 23. August 1996, um ca. 14.05 Uhr, gab S. bei der Tramhaltestelle
"Hauptbahnhof" an der Bahnhofstrasse in Zürich vor, einem älteren
gehbehinderten Mann beim Einsteigen ins Tram zu helfen. Dabei zog er dem
Mann das Portemonnaie aus der Gesässtasche.

    Am 17. Oktober 1996 verurteilte die Einzelrichterin am Bezirksgericht
Zürich S. wegen Diebstahls zu 3 Monaten Gefängnis, bedingt bei einer
Probezeit von 4 Jahren. Überdies verwies sie ihn für 3 Jahre des Landes
(unbedingt).

    Auf Berufung von S. sowie der Staatsanwaltschaft hin trat das
Obergericht des Kantons Zürich am 16. Juli 1997 auf die Anklage
nicht ein. Es kam zum Schluss, der von S. begangene Diebstahl stelle
ein geringfügiges Vermögensdelikt im Sinne von Art. 172ter Abs. 1
StGB dar. Eine Verurteilung nach dieser Bestimmung scheide mangels
Strafantrages aus.

    Die Staatsanwaltschaft führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, den Beschluss des Obergerichtes aufzuheben und die Sache
zur Neubeurteilung an dieses zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Einzelrichterin verneint ein geringfügiges Vermögensdelikt
gemäss Art. 172ter StGB. Entscheidend für die Privilegierung sei nicht der
Deliktsbetrag, sondern die Absicht des Diebes. Für die Anwendung allein
des Diebstahlstatbestandes reiche es aus, dass davon ausgegangen werden
müsse, der Beschwerdegegner habe sich einen über Fr. 300.-- liegenden
Vermögensvorteil verschaffen wollen bzw. er habe auf einen solchen gehofft.
Dies sei regelmässig anzunehmen, wenn ein Täter wie hier ein Portemonnaie
behändige, ohne dessen genauen Inhalt zu kennen.

    b) Die Vorinstanz legt dar, damit Art. 172ter StGB zur Anwendung
komme, müsse sich der Vorsatz des Täters von Anfang an auf einen geringen
Vermögenswert richten. Von Bedeutung sei somit, was der Beschwerdegegner
erwartet habe bzw. habe erwarten können.

    Eine Erwartung setze eine bestimmte Vorstellung voraus. Dass der
Beschwerdegegner ein möglichst volles Portemonnaie zu erlangen hoffte, sage
nichts darüber aus, was er realistischerweise in etwa habe erwarten können
und "dürfen". Dies und nicht eine vage, unrealistische Hoffnung könne und
müsse ihm schliesslich angelastet werden. Das sei in etwa vergleichbar
mit dem Lottospielen, wo man ebenfalls auf den grossen Treffer hoffe, aber
genau wisse, dass realistischerweise nichts zu erwarten sei. Entscheidend
sei, ob der Beschwerdegegner davon habe ausgehen können, er werde ein
Portemonnaie mit Bargeld von mehr als Fr. 300.-- wegnehmen. Wovon der
Beschwerdegegner tatsächlich ausgegangen sei, sei nicht festzustellen,
da er die Tat bestritten habe. Mangels Hinweisen dafür, dass er sich über
den Inhalt des Portemonnaies Gedanken gemacht habe, sei davon auszugehen,
dass er angenommen habe, ein durchschnittlich gefülltes Portemonnaie
zu erlangen. Da der Geschädigte nicht habe ermittelt werden können,
müsse davon ausgegangen werden, es habe sich um einen durchschnittlichen
älteren gehbehinderten Mann gehandelt, der im Begriffe war, ins Tram
einzusteigen. Ein solcher Mann habe aber realistischerweise nicht
Fr. 300.-- oder mehr bei sich. Betagte Menschen trügen in der Regel
nicht allzuviel Geld auf sich; dies angesichts der Warnungen der Polizei
vor Taschendieben gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln, der Tag und
Nacht zugänglichen Bankguthaben und der heute nicht mehr unüblichen
Kreditkarten. Der Geschädigte sei auch ins Tram gestiegen und nicht etwa
auffallend elegant gekleidet ins Taxi. Hätte der Beschwerdegegner mit
einiger Wahrscheinlichkeit eine grosse Menge Bargeld erbeuten wollen,
so hätte er sich ein anderes Objekt ausgesucht (Wohnung, Kasse, Tresor,
reich aussehender Geschäftsmann); oder er hätte Diebstähle gewerbsmässig
begangen, wofür - trotz intensiver polizeilicher Nachforschungen -
keinerlei Anzeichen vorlägen. Weil über die subjektive Vorstellung des
Beschwerdegegners nichts bekannt sei, müsse von einem Durchschnittswert
ausgegangen werden, und dieser liege unter Fr. 300.--.

    c) Die Beschwerdeführerin wendet ein, die Vorinstanz argumentiere
widersprüchlich. Einerseits gehe die Vorinstanz davon aus, der
Beschwerdegegner habe angenommen, ein durchschnittlich gefülltes
Portemonnaie zu erlangen; anderseits gehe sie davon aus, betagte Menschen
trügen in der Regel nicht allzuviel Geld auf sich. Entscheidend sei,
ob ein Taschendieb den als möglich vorausgesehenen Erfolg (hier: die
Erbeutung eines Geldbetrages von über Fr. 300.--) für den Fall des
Eintritts billige, sich mit ihm abfinde oder ihn in Kauf nehme. Dies sei
zu bejahen, wenn der Taschendieb angenommen habe, ein durchschnittlich
gefülltes Portemonnaie zu erlangen. Ein solcher Taschendieb nehme auch
einen Deliktsbetrag von mehr als Fr. 300.-- in Kauf, und zwar auch dann,
wenn es sich beim Opfer um einen älteren gehbehinderten Mann handle.
Damit aber scheide die Anwendung von Art. 172ter StGB aus.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdegegner hat sich wegen Diebstahls strafbar
gemacht. Für den Grundtatbestand des Diebstahls droht das Gesetz Zuchthaus
bis zu 5 Jahren oder Gefängnis an (Art. 139 Ziff. 1 StGB).

    Gemäss Art. 172ter Abs. 1 StGB wird der Täter, auf Antrag, lediglich
mit Haft oder mit Busse bestraft, wenn sich die Tat nur auf einen geringen
Vermögenswert oder auf einen geringen Schaden richtet.

    Die Grenze für den geringen Vermögenswert im Sinne von Art. 172ter
StGB beträgt nach der Rechtsprechung Fr. 300.--. Entscheidend ist der
Vorsatz des Täters, nicht der eingetretene Erfolg. Art. 172ter StGB ist nur
anwendbar, wenn der Täter von vornherein bloss einen geringen Vermögenswert
oder einen geringen Schaden im Auge hatte. War der Vorsatz des Täters
auf eine den Grenzwert übersteigende Summe gerichtet, kommt Art. 172ter
StGB deshalb auch dann nicht zur Anwendung, wenn die Deliktssumme unter
dem Grenzwert von Fr. 300.-- liegt.

    Der Eventualvorsatz ist eine Form des Vorsatzes. Eventualvorsatz ist
gegeben, wenn der Täter den strafbaren Erfolg als möglich voraussieht,
aber gleichwohl handelt, weil er ihn in Kauf nimmt für den Fall, dass er
eintreten sollte.

    Was der Täter weiss, will oder in Kauf nimmt, ist Tatfrage. Die
entsprechenden Feststellungen der kantonalen Behörde sind für das
Bundesgericht im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde
deshalb verbindlich (Art. 277bis Abs. 1 BStP; vgl. BGE 123 IV 155 E. 1a
mit Hinweisen).

    b) Im BGE 123 IV 155 zugrundeliegenden Fall hatte die Vorinstanz
dargelegt, wer wie der damalige Beschwerdeführer Taschendiebstähle begehe,
habe die Bereitschaft, das zu nehmen, was ihm in die Hände falle, und
wohl die Hoffnung auf möglichst grosse Beute; dies unabhängig davon,
ob es sich beim Bestohlenen um einen Erwachsenen oder einen Jugendlichen
handle. Die Vorinstanz kam damals zum Schluss, dass beim Beschwerdeführer
Eventualvorsatz bezüglich eines Fr. 300.-- übersteigenden Geldbetrages
gegeben war.

    Das Bundesgericht nahm an, dieser Schluss beruhe auf Beweiswürdigung,
welche im Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nicht
in Frage gestellt werden kann (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Wenn aber
beweismässig davon auszugehen sei, dass sich der Eventualvorsatz auf einen
Geldbetrag von mehr als Fr. 300.-- richtete, so sei die Anwendung von
Art. 172ter StGB zu Recht abgelehnt worden. Die Vorinstanz habe weder die
rechtlichen Voraussetzungen der Privilegierung nach Art. 172ter StGB noch
den Begriff des Eventualvorsatzes verkannt. Einzuräumen sei allerdings,
dass Art. 172ter StGB auch bei einem Taschendiebstahl anwendbar sein
könne. Der Vorsatz könne auch hier auf einen geringen Vermögenswert im
Sinne dieser Bestimmung gerichtet sein. Dies sei etwa der Fall, wenn
der Täter beobachte, wie ein Dritter dem Opfer eine Hundertfrankennote
übergebe und der Täter dem Opfer anschliessend die Note aus der Tasche
ziehe. Die konkreten Umstände seien daher auch bei einem Taschendiebstahl
zu prüfen. Ob sich der Vorsatz auf einen geringen Vermögenswert richtete,
bleibe aber eine Beweisfrage.

    c) Im hier zu beurteilenden Fall hat die Vorinstanz in bezug auf die
konkreten Umstände keine beweismässigen Feststellungen getroffen. Sie sagt
nicht, was der Beschwerdegegner als Beute erwartet hat, sondern was er
erwarten konnte. Ihre Überlegungen beruhen somit auf der Lebenserfahrung
und können deshalb vom Bundesgericht überprüft werden (vgl. BGE 104 IV
18 E. 3 mit Hinweisen).

    Der Kritik der Beschwerdeführerin ist weitgehend zuzustimmen. Die
Auffassung, ältere Leute, die das Tram besteigen, hätten in der Regel
weniger als Fr. 300.-- bei sich, entspricht in dieser absoluten Form nicht
der Lebenserfahrung. Vielmehr wird man genaue Aussagen darüber, wieviel
Geld ältere Leute bei sich haben, die an der Zürcher Bahnhofstrasse
das Tram besteigen, gar nicht machen können. Es ist anzunehmen, dass
der Täter, der wie der Beschwerdegegner jemandem beim Einsteigen ins
Tram behilflich ist und ihm bei dieser Gelegenheit das Portemonnaie
entwendet, die Absicht hat, einen Betrag in unbestimmter Höhe zu stehlen,
der sehr wohl Fr. 300.-- übersteigen kann. Es entspricht auch nicht
der Lebenserfahrung, dass heutzutage ältere Leute anstelle von Bargeld
Kreditkarten mit sich tragen. Selbst soweit das der Fall sein sollte,
schliesst dies nicht aus, dass sie Bargeld in Höhe von mehr als Fr. 300.--
bei sich haben. Im übrigen wird man beim Diebstahl eines Portemonnaies
nicht nur auf den Bargeldbetrag, der sich im Portemonnaie befindet,
abstellen dürfen. Man wird vielmehr den Wert des Portemonnaies mitsamt
Inhalt - wozu neben Bargeld auch Kreditkarten und Ausweise gehören können -
in Rechnung stellen müssen. Dabei kann heute offenbleiben, welche Beträge
für Kreditkarten und Ausweise einzusetzen sind. Vieles spricht dafür,
hier den Verlust, den das Opfer erleidet, in Rechnung zu stellen, also
zumindest die Kosten für die Wiederbeschaffung. Insoweit wird beim Täter
in der Regel Schädigungsvorsatz mindestens in Form des Eventualvorsatzes
anzunehmen sein.

    Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei einem Taschendiebstahl wie
hier die Möglichkeit eines Deliktsbetrages von mehr als Fr. 300.-- ohne
weiteres in Betracht kommt und dass ohne konkrete Gegenindizien der Täter
in einem derartigen Fall auch den entsprechenden Eventualvorsatz hat. Ist
Eventualvorsatz bezüglich eines Fr. 300.-- übersteigenden Betrages gegeben,
so scheidet die Privilegierung nach Art. 172ter StGB aus.

    Die Beschwerde wird deshalb gutgeheissen.

Erwägung 3

    3.- (Kostenfolgen)