Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 IV 145



123 IV 145

22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. September
1997 i.S. F. gegen A. und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 47 OR und Art. 60 Abs. 1 lit. b StGB; Zusprechung eingezogener
Gegenstände und Vermögenswerte an den Geschädigten bis zur Höhe des
gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzten Schadenersatzes.

    Auch Genugtuung stellt einen Schaden im Sinne von Art. 60 Abs. 1 StGB
dar (E. 4).

Sachverhalt

    A. erdrosselte seine Freundin M. am 16. Juli 1995 bei einem Streit.

    Deswegen sprach das Geschworenengericht des Kantons Zürich A. mit
Urteil vom 11. September 1996 der vorsätzlichen Tötung schuldig
und verurteilte ihn zu neun Jahren Zuchthaus. Sodann sprach es der
Mutter des Opfers, F., Schadenersatz und Genugtuung in der Höhe von
insgesamt Fr. 14'830.-- zuzüglich Zins zu. überdies beschloss es, das
beschlagnahmte Bargeld des A. im Betrag von Fr. 15'000.-- zur Deckung
der Schadenersatzforderung von F. zu verwenden, mit dem Restbetrag die
Verfahrenskosten zu begleichen, sowie einen allfällig verbleibenden
Überschuss A. zurückzuerstatten.

    Eine von F. dagegen erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wies
das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 9. März 1997 ab, soweit es
darauf eintrat.

    F. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt u.a.,
es sei der Beschluss des Geschworenengerichts insoweit aufzuheben,
als er die Verwendung der beschlagnahmten Barschaft nach Abzug des ihr
zugesprochenen Schadenersatzes einschliesslich Zins betreffe, und es sei
ihr der verbleibende Betrag in Anrechnung an ihre Genugtuungsforderung
zuzusprechen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in diesem Punkte gut

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerdeführerin bringt weiter vor, die Vorinstanz habe
Bundesrecht verletzt, indem sie das beschlagnahmte Bargeld von A. nach
Abzug ihrer Schadenersatzerforderung zur Deckung der Verfahrenskosten statt
in Anrechnung auf ihre Genugtuungsforderung verwendet habe. Entgegen der
Auffassung der Vorinstanz erfasse Art. 60 StGB auch Genugtuungsforderungen.

    a) Gemäss Art. 60 Abs. 1 StGB in seiner bis zum 1. Januar 1993
geltenden Fassung, kann der Richter demjenigen, der durch ein Verbrechen
oder Vergehen geschädigt worden ist und sofern ihm der Schädiger
den Schaden voraussichtlich nicht ersetzen wird, "bis zur Höhe des
gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzten Schadenersatzes eingezogene
Gegenstände und Vermögenswerte sowie Geschenke und andere Zuwendungen,
die dem Staat verfallen sind, oder deren Verwertungserlös unter Abzug
der Verwertungskosten, und den Betrag der Friedensbürgschaft zuerkennen."

    Art. 60 StGB wurde im Anhang Ziffer 1 des Opferhilfegesetzes vom
4. Oktober 1991, in Kraft seit dem 1. Januar 1993 (OHG, SR 312.5),
revidiert; dessen Absatz 1 lautet nunmehr wie folgt:
       "Erleidet jemand durch ein Verbrechen oder ein Vergehen einen
       Schaden,
   der nicht durch eine Versicherung gedeckt ist, und ist anzunehmen,
   dass der

    Schädiger den Schaden nicht ersetzen wird, so spricht der Richter dem

    Geschädigten auf dessen Verlangen bis zur Höhe des gerichtlich
oder durch

    Vergleich festgesetzten Schadenersatzes zu:

    a. die vom Verurteilten bezahlte Busse;

    b. eingezogene Gegenstände und Vermögenswerte oder deren
Verwertungserlös
   unter Abzug der Verwertungskosten;

    c. Ersatzforderungen;

    d. den Betrag der Friedensbürgschaft."

    b) Fraglich ist, wie die Begriffe des "Schadens" bzw. des
"Schadenersatzes" gemäss Art. 60 Abs. 1 StGB alte und neue Fassung zu
verstehen sind.

    aa) Die strafrechtliche Doktrin war sich unter der Herrschaft des
alten Rechts uneins, wie der Begriff des "Schadens" bzw. "Schadenersatzes"
nach Art. 60 StGB a.F. auszulegen sei. Einzelne Autoren wollten gestützt
auf den Gesetzeswortlaut ausschliesslich Schadenersatz gemäss den Art. 41
ff. OR von Art. 60 StGB a.F. erfasst wissen (CLERC, ZStrR 56 (1942),
16; SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts,
Bd. II, 4. Aufl. Bern 1982, 216; STRATENWERTH, Schweizerisches
Strafrecht Allgemeiner Teil II: Strafen und Massnahmen, Bern 1989, §
14 N. 42). Andere Autoren argumentierten demgegenüber mit dem Sinn und
Zweck von Art. 60 StGB a.F., den Geschädigten die Verfolgung ihrer Rechte
zu erleichtern, und standen dafür ein, den Begriff des "Schadenersatzes"
weit auszulegen und darunter auch den sogenannten "tort moral" nach den
Art. 47 und 49 OR zu subsumieren (FALB, ZStrR 94 (1977), 333; HAFTER,
Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Auflage
Bern 1946, § 78 Ziff. I Abs. 1 S. 421; LOGOZ/SANDOZ, Commentaire du Code
Pénal Suisse, Partie générale, 2. Auflage Neuchâtel/Paris 1976, N. 4
zu Art. 60; THORMANN/V. OVERBECK, Das Schweizerische Strafgesetzbuch,
Bd. I, Allgemeine Bestimmungen, Zürich 1940, N. 5 Ziff. 2 zu Art. 60;
TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Zürich 1989,
N. 4 zu Art. 60).

    bb) Schaden im zivilrechtlichen Sinne ist nach allgemeiner Auffassung
Verminderung des Vermögens. Die Beeinträchtigung von persönlich-ideellen
Rechtsgütern wie Ehre und Integrität zieht nur dann einen Schaden im Sinne
des Obligationenrechts nach sich, wenn auch das Vermögen mitbetroffen
ist. Deshalb stellt eine immaterielle Unbill keinen Schaden, sondern
Genugtuung dar (BREHM, Zürcher Kommentar (1990), N. 69 ff. zu Art. 41;
GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Aufl. Zürich
1991, 59 ff.; OFTINGER, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. I,
Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1975, 53 ff., 286 ff.; OSER/SCHÖNENBERGER,
Zürcher Kommentar (1929), Erster Halbband: Art. 1-183, 2. Aufl.,
N. 74 ff. zu Art. 41, N. 2 ff. zu Art. 47; SCHNYDER, Kommentar zum
Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht I, 2. Aufl. Basel 1996,
N. 3 zu Art. 41; VON TUHR/PETER, Allgemeiner Teil des Schweizerischen
Obligationenrechts, 3. Aufl. Zürich 1979, 83 f.). Zum Teil wird in der
Doktrin bei Verletzungen von persönlichen Rechtsgütern missverständlich
von "seelischem", "immateriellem" bzw. "idealem" Schaden gesprochen
(vgl. BREHM, aaO, N. 74 zu Art. 41; GAUCH/SCHLUEP/JÄGGI, Schweizerisches
Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Band II, 6. Aufl. Zürich 1995, N. 2633,
S. 104; OFTINGER, aaO, 61 Fn. 38; OSER/SCHÖNENBERGER, aaO, N. 74 zu
Art. 41 und N. 4 zu Art. 47). Auch im Gesetz ist der Sprachgebrauch nicht
konsequent durchgeführt, differenziert doch etwa die Bestimmung des Art.
60 Abs. 1 OR, welche die Verjährung von Ansprüchen auf Schadenersatz
und Genugtuung regelt, lediglich im einleitenden Teilsatz zwischen
Schadenersatz und Genugtuung; im weiteren spricht der Gesetzestext aber
nur noch von "Schaden", "schädigender Handlung" und "Geschädigtem".

    c) In der Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von
Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG [SR 312.5]) und zu einem Bundesbeschluss
über das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung für Opfer
von Gewalttaten (BBl 1990 II 961 ff.) sah der Bundesrat die Revision
des Art. 60 StGB als "eng mit den Anliegen der Opferhilfe verbunden" an
(Botschaft aaO, 975). Art. 60 StGB wurde dementsprechend im Anhang zum OHG
neu geregelt (BBl 1990 II 1014). Daraus ergibt sich, dass die Auslegung
des Begriffs des Schadens bzw. des Schadenersatzes nach Art. 60 sich an
Sinn und Zweck des OHG auszurichten hat.

    d) aa) Opfer im Sinne des OHG ist jede Person, die durch eine
Straftat in ihrer körperlichen, sexuellen oder psychischen Integrität
unmittelbar beeinträchtigt worden ist, und zwar unabhängig davon,
ob der Täter ermittelt worden ist und ob er schuldhaft gehandelt hat
(Art. 2 Abs. 1 OHG). Der Ehegatte des Opfers, dessen Kinder und Eltern
sowie andere Personen, die ihm in ähnlicher Weise nahestehen, werden dem
Opfer u.a. bei der Geltendmachung von Zivilansprüchen gegenüber dem Täter
gleichgestellt (Art. 2 Abs. 2 lit. b OHG).

    Das OHG will nach seiner Zweckbestimmung "den Opfern von Straftaten
wirksame Hilfe leisten und ihre Rechtsstellung verbessern" (Art. 1 Abs. 1
OHG); die Hilfe umfasst Beratung, Schutz des Opfers und Wahrung seiner
Rechte im Strafverfahren sowie Entschädigung und Genugtuung (Abs. 2). Unter
anderem soll dem Opfer die Geltendmachung von Zivilansprüchen im
Strafverfahren erleichtert und eine Verweisung dieser Ansprüche durch den
Strafrichter auf den Zivilweg wesentlich erschwert werden (Art. 2 Abs. 2
lit. b und c, Art. 8 und 9 OHG). Das Opfer soll seine Zivilansprüche nicht
mehr in einem oft aufwendigen und mit erheblichem Kostenrisiko verbundenen
Zivilprozess einklagen müssen, sondern es soll sie auf dem vergleichsweise
einfachen Weg des Strafverfahrens adhäsionsweise geltend machen können
(BGE 120 IV 44 E. I 4; 120 Ia 101 E. 2b).

    bb) Die Bestimmungen des OHG zur Rechtsstellung des Opfers im
Strafverfahren (Art. 5-10) treffen keine Unterscheidung zwischen
Vermögensschaden und immaterieller Unbill, sondern sprechen einheitlich
von "Zivilansprüchen" des Opfers gegenüber dem Täter. Damit hat das Opfer
bei der Geltendmachung von Genugtuung im Strafverfahren grundsätzlich die
gleichen Rechte wie bei Schadenersatzforderungen. Nur soweit das OHG dem
Opfer einen Anspruch auf staatliche Leistungen einräumt, unterscheidet
das Gesetz zwischen "Entschädigung" und "Genugtuung" (Art. 1, 2, 11-14
sowie 16 OHG).

    Aus dieser Konzeption des OHG einer in bezug auf die Rechtsstellung des
Opfers im Strafverfahren gegen den Täter unterschiedslosen Behandlung von
Schadenersatz und Genugtuung bestimmt sich der Begriff des "Schadens" bzw.
"Schadenersatzes" nach Art. 60 StGB. Art. 60 StGB wurde, wie bereits
dargelegt (E. 4c), mit Blick auf die Anliegen der Opferhilfe revidiert,
den Opfern von Straftaten wirksame Hilfe - Beratung, Schutz und Wahrung
ihrer Rechte im Strafverfahren sowie Entschädigung und Genugtuung -
zu leisten und ihre Rechtsstellung zu verbessern (Art. 1 OHG). Eine
dieser Zielsetzungen, den Opfern von Straftaten die Geltendmachung von
Zivilansprüchen gegen den Täter im Strafverfahren zu erleichtern und damit
letztlich deren Durchsetzung ohne grossen Aufwand zu ermöglichen, würde
unterlaufen, wollte man die Begriffe des "Schadens" bzw. "Schadenersatzes"
im Sinne von Art. 60 StGB eng auslegen und darunter nur Vermögensschäden
und nicht auch immaterielle Unbill subsumieren. Eine solche einschränkende
Auslegung wäre mit dem gesetzgeberischen Willen nicht in Einklang
zu bringen. Schliesslich würde eine unterschiedliche Behandlung von
Genugtuung und Schadenersatz bei Art. 60 StGB, nicht aber im Rahmen des
OHG (Art. 5-10), zu unauflösbaren Wertungswidersprüchen führen.

    cc) Nach dem Gesagten kann die mit Sinn und Zweck der Opferhilfe
vereinbare Auslegung von Art. 60 Abs. 1 StGB nur darin gesehen werden,
dass der Strafrichter nach Abs. 1 lit. b dieser Bestimmung eingezogene
Gegenstände und Vermögenswerte des Täters dem Opfer sowohl bis zur Höhe
des gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzten Schadenersatzes als
auch der Genugtuung zwingend (vgl. dazu Botschaft, aaO, 996) zusprechen
muss, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind.

    e) A. bringt in seiner Vernehmlassung vor, das beschlagnahmte
Bargeld sei nicht nach Art. 59 StGB eingezogen worden, weshalb es
an einer der gesetzlichen Voraussetzungen für die Zusprechung des
beschlagnahmten Geldes an die Beschwerdeführerin zur Dekkung ihrer
Genugtuungsforderung fehle. Wie es sich damit verhält, braucht hier nicht
näher geprüft zu werden. Denn A. hat im Verfahren vor der Vorinstanz dem
Antrag der Beschwerdeführerin, das beschlagnahmte Geld zur Deckung ihrer
Schadenersatz- und Genugtuungsforderung zu verwenden, nicht opponiert und
die Forderungen jedenfalls im Grundsatz anerkannt. An seine konkludente
Zustimmung zur Verwendung des beschlagnahmten Geldes im Sinne des
Antrages der Beschwerdeführerin war die Vorinstanz gebunden. Indem sie
der Beschwerdeführerin das beschlagnahmte Bargeld von A. im Betrag
von Fr. 15'000.-- nur bis zur Höhe des gerichtlich festgesetzten
Schadenersatzes und nicht auch bis zu derjenigen der Genugtuung zusprach,
hat die Vorinstanz somit Bundesrecht verletzt.