Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 II 419



123 II 419

44. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 6. August 1997
i.S. S. P. und K. G. gegen M. G. und Obergericht des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Haager Übereinkommen vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen
Aspekte internationaler Kindesentführung (SR 0.211.230.02); Rückführung
eines widerrechtlich in die Schweiz verbrachten Kindes in die USA.

    Das Haager Entführungsübereinkommen stellt eine Art administrative
Rechtshilfe für den Fall von Kindesentführungen zur Verfügung. Da keine
Zivilrechtsstreitigkeit vorliegt, kann ein kantonaler Entscheid weder mit
Berufung noch mit Nichtigkeitsbeschwerde, sondern mit staatsrechtlicher
Beschwerde beim Bundesgericht angefochten werden (E. 1a).

    Nach Art. 20 des Übereinkommens kann die Rückführung eines entführten
Kindes abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden
Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
unzulässig ist. Diese ordre public-Klausel kann nur in Ausnahmesituationen
eingreifen. Im vorliegenden Fall stellt die angeordnete Rückführung
des Kindes keinen unzulässigen Eingriff in den von Art. 8 Ziff. 1 EMRK
garantierten Schutz des Privat- und Familienlebens dar, weil der Eingriff
gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK statthaft ist, so dass eine Rückführung nicht
gegen Art. 20 des Übereinkommens verstösst (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Die heute mit A. P. verheiratete Schweizerin S. P. war in erster
Ehe mit dem amerikanischen Staatsangehörigen M. G. verheiratet. Aus dieser
Ehe ging die Tochter K. G., geboren am 25. Februar 1992, hervor. Am 31.
Oktober 1995 wurde die Ehe zwischen S. P. und M. G. durch den zuständigen
Superior Court in den USA geschieden. Bezüglich der aus dieser Ehe
hervorgegangen Tochter K. G. sprach das Gericht den Eltern ein gemeinsames
Sorgerecht zu.

    Am 4. September 1996 reiste S. P. mit K. G. in die Schweiz ein. Seither
wohnt K. G. ununterbrochen mit ihrer Mutter S. P. und deren heutigem
Ehemann in X. Unmittelbar nach der Überführung von K. G. in die Schweiz
reichte S. P. am 5. September 1996 beim zuständigen Bezirksgericht
Klage auf Abänderung des Scheidungsurteils ein und beantragte im
wesentlichen, die elterliche Gewalt über K. G. sei ausschliesslich ihr
zuzusprechen. Der Präsident des Bezirksgerichtes ordnete noch am gleichen
Tag mit superprovisorischer Verfügung an, dass K. G. für die Dauer des
Prozesses unter der alleinigen Obhut von S. P. stehe.

    B.- M. G. leitete am 26. September 1996 gestützt auf das Haager
Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler
Kindesentführung bei der zentralen Behörde der Vereinigten Staaten von
Amerika ein Verfahren ein und verlangte die Rückführung der Tochter K. G.
an seinen Wohnort in den USA. Nachdem das zuständige Bezirksgericht
mit Schreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartementes vom
3. Oktober 1996 über das Verfahren in Kenntnis gesetzt worden war, wies
der Einzelrichter des Bezirksgerichtes das Begehren auf Rückführung von
K. G. in die USA mit Verfügung vom 15. November 1996 ab. Einen dagegen
erhobenen Rekurs von M. G. hiess das Obergericht des Kantons Zürich
mit Beschluss vom 6. März 1997 gut und befahl S. P., ihre Tochter
K. G. innerhalb von zehn Tagen ab Zustellung des Entscheides an den
Wohnort von M. G. in den USA zurückzuführen.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 9. April 1997 beantragen
S. P. und die durch ihre Mutter vertretene K. G. die Aufhebung des
Beschlusses des Obergerichtes. Auf eine gleichzeitig erhobene Berufung
bzw. Nichtigkeitsbeschwerde wurde mit Urteil vom 23. Juni 1997 nicht
eingetreten.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition,
ob und gegebenenfalls in welchem Umfang auf eine staatsrechtliche
Beschwerde einzutreten ist (BGE 121 I 93 E. 1 S. 94 mit Hinweisen).

    a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes handelt es sich bei
Verfahren betreffend die Rückführung eines Kindes im Sinn des Haager
Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler
Kindesentführung (SR 0.211.230.02; nachfolgend HEntfÜ) nicht um
Zivilrechtsstreitigkeiten; vielmehr stellt das Übereinkommen eine Art
administrative Rechtshilfe zwischen den Vertragsstaaten zur Verfügung und
bezweckt, Entscheidungen zum Sorgerecht internationale Nachachtung zu
verschaffen und deren Verwirklichung zu erleichtern: Wenn aber keine
Zivilrechtsstreitigkeit im Sinn von Art. 44 ff. OG vorliegt, kann
der Rückführungsentscheid nicht mit Berufung angefochten werden (BGE
120 II 222 E. 2b S. 224 mit Hinweisen), und auch eine eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde steht mangels Vorliegens einer Zivilsache im Sinn
von Art. 68 Abs. 1 OG nicht zur Verfügung (vgl. Urteil vom 23. Juni 1997,
5C.90/1997, E. 2b mit Hinweisen). Da kein anderes Bundesrechtsmittel
gegeben ist, ist unter diesem Gesichtspunkt auf die staatsrechtliche
Beschwerde grundsätzlich einzutreten (Art. 84 Abs. 2 OG).

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht des Kantons Zürich hat im angefochtenen
Entscheid im wesentlichen festgehalten, dass das Zurückhalten von
K. G. in der Schweiz durch S. P. widerrechtlich im Sinn von Art. 3
Abs. 1 HEntfÜ sei, weshalb gestützt auf Art. 12 Abs. 1 HEntfÜ die
Rückführung des Kindes in die USA anzuordnen sei; der Rückgabe von
K. G. stehe weder ein Ablehnungsgrund im Sinn von Art. 13 HEntfÜ noch
ein Verweigerungsgrund gemäss Art. 20 HEntfÜ entgegen. S. P. und
K. G. werfen dem Obergericht in der vorliegenden staatsrechtlichen
Beschwerde vor, dass der Rückführungsentscheid Art. 20 HEntfÜ und Art. 8
EMRK verletze: Die Rückführung von K. G. in die USA verstosse gegen die
in der Schweiz geltenden Grundwerte über den Schutz der Menschenrechte
und Grundfreiheiten; der in Art. 8 EMRK verankerte Schutz des Privat-
und Familienlebens werde dadurch verletzt, dass die 5jährige K. G., die
seit ihrer Geburt praktisch ausschliesslich durch S. P. persönlich betreut
worden sei, zu ihrem Vater in die USA zurückzuführen sei. Die angeordnete
Rückführung des Kindes stelle sowohl eine Verletzung des Anspruchs der
Mutter als auch des persönlichen Anspruchs der Tochter auf Weiterführung
der Familiengemeinschaft dar, welche durch Art. 8 EMRK geschützt werde.

    a) Gemäss Art. 3 Abs. 1 HEntfÜ gilt das Verbringen oder Zurückhalten
eines Kindes als widerrechtlich, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird,
das einer Person allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht,
in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen
gewöhnlichen Aufenthalt hatte (lit. a), und wenn dieses Recht im Zeitpunkt
des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich
ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, falls das Verbringen oder
Zurückhalten nicht stattgefunden hätte (lit. b). Ist ein Kind im Sinn
von Art. 3 HEntfÜ widerrechtlich verbracht oder zurückgehalten worden
und wird innert einer Frist von einem Jahr die Rückführung verlangt,
ordnet das zuständige Gericht oder die zuständige Verwaltungsbehörde
gemäss Art. 12 Abs. 1 HEntfÜ die sofortige Rückgabe des Kindes an. Der
Staat, der um die Rückführung eines entführten Kindes ersucht wird, kann
indessen eine Rückführung unter bestimmten Umständen ablehnen: Gemäss
Art. 13 Abs. 1 lit. b HEntfÜ besteht keine Pflicht zur Rückführung,
wenn nachgewiesen ist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr
eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist
oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage gebracht wird;
ferner kann eine Rückgabe gestützt auf Art. 20 HEntfÜ abgelehnt werden,
wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist.

    b) Im vorliegenden Beschwerdeverfahren stellt sich einzig die Frage,
ob das Obergericht gegen Art. 20 HEntfÜ verstossen hat. Vorweg ist
festzuhalten, dass Art. 20 HEntfÜ eine auf Verletzung der fundamentalen
Grundsätze über Menschenrechte und Grundfreiheiten beschränkte ordre
public-Klausel enthält; neben Art. 13 HEntfÜ, welche Bestimmung die
wesentlichen Interessen des Kindes berücksichtigt, kann Art. 20 HEntfÜ
nur in Ausnahmesituationen eingreifen (JÖRG PIRRUNG, in J. VON STAUDINGERS
Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Auflage, Berlin 1994, N. 698
Vorbem. zu Art. 19 EGBGB mit Beispielen; BERNARD DESCHENAUX, L'enlèvement
international d'enfants par un parent, Bern 1995, S. 53 f.). Vor diesem
Hintergrund ist zu prüfen, ob eine Rückführung von K. G. gegen den von
Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantierten Schutz des Privat- und Familienlebens, auf
den sich K. G. persönlich berufen kann, verletzt und insofern fundamentale
Grundsätze über Menschenrechte und Grundfreiheiten im Sinn von Art. 20
HEntfÜ tangiert sind.

    Art. 8 Ziff. 1 EMRK garantiert die Achtung des Privat- und
Familienlebens. Nach Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ein Eingriff in das von
Ziff. 1 dieser Bestimmung geschützte Rechtsgut indessen statthaft, wenn er
gesetzlich vorgesehen ist und eine Massnahme darstellt, die im öffentlichen
Interesse notwendig ist. Die angeordnete Rückführung von K. G. in die
USA greift zwar in die tatsächlich bestehende Familiengemeinschaft
zwischen S. P. und K. G. ein, doch ist ein Eingriff im vorliegenden
Fall nicht zu beanstanden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das
Haager Entführungsübereinkommen eine von Art. 8 Ziff. 2 EMRK geforderte
gesetzliche Grundlage darstellt, um in die tatsächlich bestehende
Familiengemeinschaft einzugreifen; als gesetzliche Grundlage für einen
Eingriff kommt nicht nur nationales Recht, sondern auch Völkerrecht
- mithin auch das Haager Entführungsübereinkommen - in Frage (MARK
VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zürich 1993,
Rz. 533; WILDHABER/BREITENMOSER, IntKomm EMRK, N. 552 zu Art. 8 EMRK
mit Hinweisen). Sodann erweist sich die Rückführung von K. G. auch als
im öffentlichen Interesse geboten: Das Abkommen bezweckt, die sofortige
Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort
zurückgehaltener Kinder sicherzustellen und zu gewährleisten, dass das in
einem Vertragsstaat bestehende Sorgerecht und Recht zum persönlichen Umgang
in den anderen Vertragsstaaten tatsächlich beachtet wird (Art. 1 HEntfÜ);
die Rückführung des Kindes erweist sich insofern als im öffentlichen
Interesse im Sinn von Art. 8 Ziff. 2 EMRK geboten, weil nur so der
widerrechtliche Zustand, der durch die Entführung von K. G. in die Schweiz
geschaffen wurde, schnellstmöglich beseitigt werden kann. Hinzu kommt,
dass eine vertragstreue Anwendung des Haager Entführungsübereinkommens
generell im öffentlichen Interesse der Schweiz liegt angesichts von etwa
100 Fällen von Kindesentführungen, mit denen sich die zentrale Behörde
der Schweiz jährlich - sei es als ersuchte, sei es als ersuchende Behörde
- zu befassen hat (DESCHENAUX, L'enlèvement international, aaO, S. 5
ff.). Schliesslich erweist sich im vorliegenden Fall eine Rückführung auch
als notwendig, um dem Vertragszweck gerecht zu werden. Das Übereinkommen
hat einzig zum Zweck, den "status quo ante" wiederherzustellen, der vor
der Entführung des Kindes bestand (BERNARD DESCHENAUX, La convention de la
Haye sur les aspects civils de l'enlèvement international d'enfants, SJIR
1981, S. 126; KURT SIEHR, Münchener Kommentar zum BGB, Ergänzungsband,
2. Auflage, N. 67 zu Art. 19 EGBGB Anhang II); würde eine Rückführung
eines entführten oder widerrechtlich zurückbehaltenen Kindes aus einem der
EMRK beigetretenen Land ohne weiteres an Art. 8 EMRK scheitern, wenn das
Kind in einer Familiengemeinschaft mit dem entführenden Elternteil lebt,
würde Art. 20 HEntfÜ eine Bedeutung beigemessen, die Sinn und Zweck des
Haager Entführungsübereinkommens grundsätzlich in Frage stellen und der
eingangs umschriebenen restriktiven Interpretation von Art. 20 HEntfÜ
widersprechen würde (vgl. DESCHENAUX, La convention de la Haye, aaO,
S. 126). Aus diesen Gründen kann der Auffassung nicht gefolgt werden,
dass der angefochtene Entscheid das von Art. 8 EMRK gewährleistete
Recht auf Schutz der Familiengemeinschaft verletzt und damit gegen
Art. 20 HEntfÜ verstösst. Damit erweist sich aber ohne weiteres auch
die Rüge als unbegründet, das Obergericht habe den ihm zustehenden
Spielraum bei der Anwendung von Art. 20 HEntfÜ willkürlich verletzt; im
Gegenteil hat das Obergericht aufgrund einer sorgfältigen Überprüfung
zutreffend dargelegt, weshalb eine Rückführung nicht gegen die in der
Schweiz geltenden Grundwerte über den Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten verstösst.

    Gewiss ist nicht zu übersehen, dass das den Eltern von K. G. gemeinsam
zugesprochene Sorgerecht von S. P. praktisch nicht mehr - oder nur noch
sehr beschränkt - ausgeübt werden konnte, nachdem sie die USA verlassen
und sich in der Schweiz niedergelassen hatte. Doch berechtigte sie
dies in keiner Weise, durch die Entführung des Kindes das (alleinige)
Sorgerecht faktisch zu erzwingen und das ebenfalls M. G. zugesprochene
Sorgerecht zu verunmöglichen; vielmehr hätte sie eine Änderung der
Sorgerechtsregelung auf dem Rechtsweg herbeizuführen versuchen müssen.
Umgekehrt ist der Rückführungsentscheid nicht als Entscheidung über
das Sorgerecht anzusehen (Art. 19 HEntfÜ); mit der Rückführung soll der
"status quo ante" vor der Entführung wieder hergestellt werden, und im
Herkunftsstaat soll anschliessend über den endgültigen Verbleib des Kindes
entschieden werden (SIEHR, aaO, N. 3 und 67 zu Art. 19 EGBGB Anhang II).