Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 II 37



123 II 37

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. November 1996 i.S.
Bundesamt für Polizeiwesen gegen K. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 32 Abs. 1, Art. 16 Abs. 3 lit. a und Art. 90 Ziff. 2 SVG; Art. 4a
Abs. 1 lit. a VRV; Überschreiten der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit
innerorts, schwere Verkehrsgefährdung.

    Wird die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um 25 km/h oder
mehr überschritten, ist ungeachtet der konkreten Umstände objektiv eine
schwere Verkehrsgefährdung bzw. grobe Verkehrsregelverletzung gegeben
(E. 1d).

Sachverhalt

    A.- K. überschritt am 14. März 1996 um 11.44 Uhr mit seinem
Personenwagen in Trimbach die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts
von 50 km/h um 26 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge von 5 km/h). Das
Untersuchungsrichteramt des Kantons Solothurn bestrafte ihn deshalb mit Fr.
350.-- Busse. Der Entscheid ist rechtskräftig.

    Am 20. Juni 1996 entzog das Departement des Innern des Kantons
Solothurn K. den Führerausweis für die Dauer eines Monats. Eine von
K. dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Solothurn am 28. August 1996 teilweise gut, hob den Führerausweisentzug
auf und verwarnte den Fahrzeuglenker.

    B.- Das Bundesamt für Polizeiwesen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit dem Antrag, den Entscheid des Verwaltungsgerichtes aufzuheben; K. sei
der Führerausweis für die Dauer eines Monats zu entziehen.

    Das Verwaltungsgericht und K. beantragen Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Geschwindigkeit ist stets den Umständen anzupassen,
namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung sowie den
Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Wo das Fahrzeug den Verkehr
stören könnte, ist langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten,
namentlich vor unübersichtlichen Stellen, vor nicht frei überblickbaren
Strassenverzweigungen sowie vor Bahnübergängen (Art. 32 Abs. 1 SVG;
SR 741.01). Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge beträgt
unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen 50 km/h in
Ortschaften (Art. 4a Abs. 1 lit. a der Verkehrsregelverordnung [VRV;
SR 741.11]).

    Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führerausweis entzogen werden, wenn
der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet oder
andere belästigt hat (Satz 1). In leichten Fällen kann eine Verwarnung
ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führerausweis muss entzogen werden,
wenn der Führer den Verkehr in schwerer Weise gefährdet hat (Art. 16
Abs. 3 lit. a SVG).

    Gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder mit Busse bestraft,
wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des
Bundesrates verletzt. Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder
mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine
ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.

    b) In schwerer Weise gefährdet den Verkehr im Sinne von Art. 16
Abs. 3 lit. a SVG, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln im
Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit
anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Diese beiden Vorschriften stimmen
inhaltlich miteinander überein (BGE 120 Ib 285).

    Art. 90 Ziff. 2 SVG ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt,
wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise
missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet
hat. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines
rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens
zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Eine ernstliche Gefahr
für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits
bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte
Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder
Verletzung voraus (BGE 122 II 228 E. 3b mit Hinweis).

    c) Bei den Vorschriften über die Geschwindigkeit handelt es sich um
grundlegende Verkehrsregeln. Sie sind wesentlich für die Gewährleistung
der Sicherheit des Strassenverkehrs. Nach der Rechtsprechung gilt insoweit
folgendes: Wird die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn um
deutlich mehr als 30 km/h überschritten, sind die Voraussetzungen von
Art. 90 Ziff. 2 bzw. Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG ungeachtet der konkreten
Umstände erfüllt (BGE 122 IV 173 E. 2c mit Hinweis). Eine solche
deutliche Überschreitung der Grenze von 30 km/h hat das Bundesgericht
bejaht bei einem Fahrzeuglenker, der auf der Autobahn die allgemeine
Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 37 km/h überschritten hatte (BGE 118
IV 188); ebenso bei Fahrzeuglenkern, die auf der Autobahn die signalisierte
Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h bzw. 80 km/h um 35 km/h überschritten
hatten (unveröffentlichte Urteile des Kassationshofes vom 18. März 1994 in
Sachen Bundesamt für Polizeiwesen gegen T., E. 4a, und vom 25. September
1996 in Sachen W. gegen Kantonsgericht von Graubünden, E. 1d). Wird die
Höchstgeschwindigkeit um wenig mehr als 30 km/h überschritten, sind die
konkreten Umstände zu prüfen (BGE 122 IV 173 E. 2b/bb mit Hinweis).

    Diese Rechtsprechung gilt für Autobahnen. Wie in BGE 122 IV 173 (E. 2c)
hervorgehoben wurde, darf sie nicht unbesehen auf andere Konstellationen
übertragen werden. Die gegenüber der Autobahn abweichende Gefahrenlage
ist zu berücksichtigen. Bereits in BGE 104 Ib 49 wurde gesagt, dass es
nicht belanglos ist, ob die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn oder
innerorts überschritten wurde und man nicht im Sinne einer absoluten
Regel annehmen kann, dass der, welcher auf der Autobahn die zulässige
Höchstgeschwindigkeit um 30 km/h überschreitet, dieselben Gefahren
hervorruft wie der, welcher das innerorts tut (E. 3b).

    In BGE 122 IV 173 äusserte sich das Bundesgericht zu den gegenüber
der Autobahn abweichenden Gefahren auf nicht richtungsgetrennten
Autostrassen. Das Risiko einer Frontalkollision mit schweren Folgen ist
auf solchen Autostrassen wesentlich höher als auf richtungsgetrennten
Autobahnen. Das Bundesgericht nahm deshalb an, dass bei nicht
richtungsgetrennten Autostrassen ungeachtet der konkreten Umstände eine
grobe Verletzung von Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG objektiv
bereits dann gegeben ist, wenn die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um
30 km/h oder mehr überschritten wurde (E. 2d).

    d) Die Gefahrenlage innerorts unterscheidet sich wesentlich
von der auf der Autobahn. Wie in BGE 121 II 127 (E. 4b) dargelegt
wurde, stellt eine übersetzte Geschwindigkeit gerade innerorts eine
erhebliche Gefahr dar. Die Zahl der vom Lenker zu verarbeitenden Reize
ist innerorts grösser als ausserorts und auf der Autobahn, was eine
gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert. Zudem sind innerorts viele schwache
Verkehrsteilnehmer vorhanden (Fussgänger, Velofahrer), die - vor allem
Kinder und ältere Menschen - einem besonderen Risiko ausgesetzt sind.
Darüber hinaus besteht eine erhöhte Gefahr von Seitenkollisionen. Die
anderen Verkehrsteilnehmer dürfen sich, auch soweit sie wartepflichtig
sind, auf den Vertrauensgrundsatz berufen (BGE 120 IV 252 E. 2d/aa). Sie
müssen sich nicht darauf einstellen, dass ein Fahrzeug innerorts
mit einer übersetzten Geschwindigkeit wie hier herannaht (vgl. BGE
118 IV 277, wonach auf Hauptstrassen ausserorts, wo die allgemeine
Höchstgeschwindigkeit nach Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV 80 km/h beträgt,
generell mit Geschwindigkeiten von über rund 90 km/h nicht gerechnet werden
muss). Welch schwerwiegende Folgen Geschwindigkeitsüberschreitungen
innerorts, wo Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen häufig sind, haben
können, zeigen physikalische Berechnungen: Fährt ein Auto mit einer
Bremsausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h statt mit einer solchen
von 50 km/h, hat es dort, wo es bei einer Vollbremsung mit 50 km/h
stillstehen würde, immer noch eine Geschwindigkeit von 28,2 km/h;
bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 60 km/h noch eine solche
von 40,5 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 70 km/h noch
eine solche von 59 km/h; bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 80
km/h noch eine solche von 74,3 km/h. Derartige Aufprallgeschwindigkeiten
können bei Fussgängern zu schwersten und tödlichen Verletzungen führen. Ab
einer Kollisionsgeschwindigkeit von 20 km/h sind Becken- und Beinbrüche,
ab einer solchen von 45 km/h tödliche Verletzungen sehr wahrscheinlich
(Bericht von Prof. Dr. Felix Walz, Institut für Rechtsmedizin, Universität
Zürich, vom 17. November 1994 zu Handen des Kassationshofes).

    In Anbetracht dieser gegenüber der Autobahn erheblich abweichenden
Gefahrenlage ist innerorts ungeachtet der konkreten Umstände objektiv
eine grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG
bzw. eine schwere Verkehrsgefährdung im Sinne von Art. 16 Abs. 3 lit. a
SVG zu bejahen, wenn die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 25 km/h
oder mehr überschritten wurde.

    Die Rechtsprechung entspricht damit dem neuen Ordnungsbussenrecht,
das ebenfalls unterscheidet, ob die Geschwindigkeitsvorschriften auf
der Autobahn, auf der Autostrasse oder innerorts missachtet wurden und
entsprechende Abstufungen vornimmt (vgl. Ziff. 303 des Anhangs 1 der
am 1. September 1996 in Kraft getretenen neuen Ordnungsbussenverordnung
[AS 1996 S. 1088]).

    e) Wird die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um weniger
als 25 km/h überschritten, sind die konkreten Umstände zu prüfen. Eine
grobe Verkehrsregelverletzung kann auch insoweit gegeben sein, ja sogar
da, wo sich der Lenker im Rahmen der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit
hält. Wie bereits in BGE 121 II 127 hervorgehoben wurde, darf die
allgemeine Höchstgeschwindigkeit gemäss Art. 4a Abs. 1 VRV nicht unter
allen Umständen ausgefahren werden, sondern nur bei günstigen Strassen-,
Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Fährt der Lenker beispielsweise innerorts
mit 50 km/h nahe an einer Gruppe spielender Kinder vorbei, kommt die
Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung in Betracht (vgl. BGE 120
Ib 312, wo das Bundesgericht eine schwere Verkehrsgefährdung nach Art. 16
Abs. 3 lit. a SVG bejaht hat bei einem Fahrzeuglenker, der trotz starkem
Regen auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h fuhr
und infolge Aquaplanings ins Schleudern geriet [E. 4c]).

    f) Wer die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerorts um 25 km/h oder
mehr überschreitet, tut das in der Regel mindestens grobfahrlässig. Der
subjektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung ist hier deshalb
regelmässig zu bejahen. Eine Ausnahme kommt etwa da in Betracht, wo der
Lenker aus nachvollziehbaren Gründen gemeint hat, er befinde sich noch
nicht oder nicht mehr im Innerortsbereich. Eine solche Ausnahmesituation
ist hier nicht ersichtlich.

    g) Der Ausweis ist dem Beschwerdegegner danach in Anwendung von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG obligatorisch zu entziehen. Die beantragte
Entzugsdauer entspricht dem gesetzlichen Minimum (Art. 17 Abs. 1 lit. a
SVG). Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird deshalb gutgeheissen und
dem Beschwerdegegner der Führerausweis für die Dauer eines Monats entzogen.

Erwägung 2

    2.- (Kostenfolgen).