Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 II 279



123 II 279

32. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 3. Juli 1997 i.S. H. gegen Bundesamt für Polizeiwesen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Auslieferung an Deutschland; Alibibeweis, Art. 53 IRSG; Art.  3 EMRK.

    Ein bloss partiell geltend gemachter Alibibeweis, d.h. ein solcher,
der sich nur auf einen Teil des Auslieferungsersuchens bezieht, ist
unbeachtlich (E. 2b).

    Voraussetzungen, unter denen die Garantien von Art. 3 EMRK einer
Auslieferung entgegenstehen (E. 2d).

Sachverhalt

    Aufgrund eines Fahndungsersuchens von Interpol Wiesbaden wurde der
deutsche Staatsangehörige H. am 1. Februar 1997 bei seiner Einreise in
die Schweiz beim Zollamt Diepoldsau festgenommen.

    Am 4. Februar 1997 erliess das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) gegen
H. einen Auslieferungshaftbefehl, dies gestützt auf einen Haftbefehl des
Amtsgerichts Landshut/D vom 4. Juli 1996 wegen Diebstahls, begangen am 12.
November 1995 in Velden/A und am 18. November 1995 in Feldkirchen/A. Mit
Beschwerde vom 7. Februar 1997 beantragte H. der Anklagekammer des
Bundesgerichts, seine Auslieferung nach Deutschland abzulehnen und ihn
aus der Haft zu entlassen. Mit Entscheid vom 20. Februar 1997 wies die
Anklagekammer die Beschwerde ab, soweit auf sie einzutreten war.

    Am 6. März 1997 ersuchte das bayerische Staatsministerium der Justiz
gestützt auf den genannten Haftbefehl vom 4. Juli 1996 sowie die Urteile
des Landgerichts Traunstein vom 19. Juli 1990 und des Landgerichts
München I vom 19. Februar 1993 um Auslieferung H.s zur Strafverfolgung
bzw. -vollstreckung.

    Am 17. März 1997 wurde der Verfolgte im Zusammenhang mit dem
Auslieferungsbegehren einvernommen. Er erklärte, an sich bereit zu sein,
freiwillig in jedes der Bundesländer Deutschlands zu gehen, nicht aber
nach Bayern, da er, falls er dort in den Vollzug käme, gemäss bereits
erhaltenen Drohungen um sein Leben zu fürchten oder schwere Misshandlungen
zu erwarten hätte, nachdem er der Anstaltsleitung im Gefängnis in der
Schweiz vertrauliche Informationen darüber habe zukommen lassen, wie
eine im Strafvollzug tätige ausländische Drogenbande aufgehoben werden
könne. Mit einer vereinfachten Auslieferung im Sinne von Art. 54 IRSG
(SR 351.1) sei er also nur einverstanden, wenn er nicht an die Justiz
des Bundeslandes Bayern ausgeliefert werde, da er kein Vertrauen in
die dortige Justiz habe. Unter diesen Umständen sah das BAP von einer
vereinfachten Auslieferung ab.

    Mit Eingabe vom 14. April 1997 wandte sich auch der dem Verfolgten
beigeordnete amtliche Anwalt gegen eine Auslieferung.

    Am 25. April 1997 bewilligte das BAP die Auslieferung an Deutschland
für die dem Begehren vom 6. März 1997 zugrundeliegenden Straftaten.

    Mit Eingabe vom 28. Mai 1997 erhob H. Verwaltungsgerichtsbeschwerde an
das Bundesgericht mit dem Begehren, der Entscheid vom 25. April 1997 sei
aufzuheben; er, H., sei aus der Auslieferungshaft zu entlassen, und es sei
ihm die Ausreise zu seiner Lebensgefährtin nach Tschechien zu bewilligen,
vorzugsweise per Flugzeug.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab

Auszug aus den Erwägungen:

                    aus folgender Erwägung:

Erwägung 2

    2.- a) Die Auslieferungsvoraussetzungen namentlich nach Art.  2 und
12 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens (EAUe, SR 0.353.1) sind
unbestrittenermassen erfüllt, ebenso diejenigen gemäss dem zwischen der
Schweiz und Deutschland abgeschlossenen Zusatzvertrag (namentlich Art. II
und V ZV, SR 0.353.913.61). Sodann ist keiner der im EAUe ausdrücklich
genannten Verweigerungsgründe gegeben.

    Der Beschwerdeführer selber hätte sich denn auch mit einer
vereinfachten Auslieferung nach Art. 54 IRSG einverstanden erklärt
(jedenfalls anlässlich seiner Befragung am 17. März 1997), falls die
Bewilligung von der Bedingung abhängig gemacht worden wäre, dass er
nicht an das Bundesland Bayern ausgeliefert werde. Erst über seinen
Rechtsvertreter liess er hernach zunächst gegenüber dem BAP und nunmehr
vor Bundesgericht geltend machen, dem Auslieferungsbegehren sei aus
verschiedenen andern Gründen nicht zu entsprechen. Er habe sich seit dem
1. November 1995 bei seiner Lebensgefährtin in Tschechien aufgehalten,
was durch verschiedene Zeugen bestätigt werden könne. Verhalte es
sich aber so, so könne er nicht als Täter der ihm für die Zeit vom
12.-18. November 1995 angelasteten Delikte in Frage kommen; eventualiter
seien durch das BAP die gemäss Art. 53 IRSG gebotenen Abklärungen zur
Erhärtung des Alibibeweises vorzunehmen. Sei er aber nicht der Täter
hinsichtlich der letztgenannten Delikte, so sei der Haftbefehl vom 4.
Juli 1996 ungültig. Sodann seien die Voraussetzungen gemäss Art. 35 IRSG
bezüglich der Höhe des in Frage stehenden Strafmasses nicht erfüllt,
wenn die von ihm, dem Beschwerdeführer, lediglich noch zu verbüssende
Reststrafe in Betracht gezogen werde; die Auslieferung sei daher auch
im Lichte von Art. 7 Abs. 2 EAUe und überdies in Anwendung von Art. 4
IRSG abzulehnen, da eine Deliktsumme von weniger als Fr. 5'000.-- zur
Diskussion stehe. Aufgrund des Umstandes, dass bei einer Auslieferung
nach Bayern Mitgefangene ihn töten oder misshandeln würden, nachdem er
den Behörden in der Schweiz vertrauliche Angaben zur Aufdeckung einer
Drogenhändlerbande erteilt habe, sei die Auslieferung auch im Lichte von
Art. 3 EMRK und Art. 37 IRSG abzulehnen. Im Falle einer Bewilligung der
Auslieferung nach Bayern sei er fest entschlossen, seinem Leben ein Ende
zu setzen; schon jetzt sei sein Gesundheitszustand kritisch, da er sich
seit mehreren Wochen im Hungerstreik befinde. Da kein anderes Bundesland
als Bayern über seine bedingte Entlassung nach 2/3 der Strafe verfügen
könne, dürfte es sich erübrigen, eine Auslieferung mit einer Auflage zu
gestatten, d.h. beispielsweise mit der Bedingung, der Strafvollzug dürfe
nicht im Bundesland Bayern erfolgen.

    b) Das Bundesgericht ist grundsätzlich an die Sachdarstellung
im Auslieferungsbegehren gebunden. Es ist Aufgabe des ausländischen
Sachrichters, sich über das Bestehen dieser Tatsachen und über die
Schuld des Verfolgten auszusprechen. Ausnahmen von diesem Grundsatz
rechtfertigen sich nur, wenn es darum geht, einer offensichtlich
unschuldigen Person die Unbill des Strafverfahrens zu ersparen (BGE
122 II 373 E. 1c; 109 Ib 60 E. 5a und 317 E. 11b). Das gilt auch für
den besonderen Fall des Alibibeweises, der in Art. 53 IRSG vorgesehen
ist. Dieser steht an sich trotz dem in Art. 1 EAUe verankerten
Grundsatz der Auslieferungspflicht auch im Rahmen eines nach diesem
Abkommen durchgeführten Auslieferungsverfahrens offen (s. BGE 113 Ib 276
E. 3c). Der Alibibeweis kann indes nur mit dem Nachweis geführt werden,
zur fraglichen Zeit (überhaupt) nicht am Tatort gewesen zu sein. Dieser
Nachweis ist unverzüglich und ohne Weiterungen zu erbringen, damit der
Verfolgte sich zu entlasten und die Auslieferung zu verhindern vermag
(s. BGE 122 II 373 E. 1c; 113 Ib 276 E. 3b; 112 Ib 215 E. 5b; HANS
SCHULTZ, Das schweizerische Auslieferungsrecht, Basel 1953, S. 234). Sind
bei einem angerufenen Zeugen des angeblichen Alibis Zweifel über die
Glaubwürdigkeit nicht zum vornherein ausgeschlossen, so ist das Alibi
nicht ohne Verzug nachgewiesen (BGE 113 Ib 281; 112 Ib 347 E. 4).

    Solche Zweifel sind hier nicht zum vornherein von der Hand zu weisen,
zumal die vom Beschwerdeführer zu den Akten gegebenen Bestätigungen von ihm
nahestehenden Bezugspersonen abgegeben worden sind und nicht ausgeschlossen
werden kann, dass es sich dabei um blosse Gefälligkeitserklärungen handelt.

    Abgesehen davon treffen die genannten Voraussetzungen im vorliegenden
Fall aber ohnehin auch deswegen nicht zu, weil das Auslieferungsbegehren
verschiedene Tatvorwürfe enthält und ein Alibi nur für einen Teil
dieser Vorwürfe geltend gemacht wird, nämlich nur für die in der Zeit
vom 12.-18. November 1995 verübten Delikte, nicht aber für diejenigen,
die den ebenfalls Gegenstand des Auslieferungsbegehrens bildenden zwei
Urteilen zugrundeliegen. Ein bloss partieller Alibibeweis, also ein
solcher, der sich nur auf einen Teil des Auslieferungsersuchens bezieht,
ist unerheblich, wie die Vorinstanz zu Recht erwogen hat (s. nicht
publizierte Urteile des Bundesgerichts vom 19. Februar 1996 i.S. M.,
vom 17. November 1994 i.S. G.).

    Die Rüge der Verletzung von Art. 53 IRSG geht unter diesen
Umständen fehl. Weitere Abklärungen im Sinne dieser Bestimmung sind
nicht vorzunehmen.

    Auch ist unter den dargelegten Umständen nicht ersichtlich, inwiefern
der vom Beschwerdeführer kritisierte Haftbefehl vom 4. Juli 1996 ungültig
sein soll.

    c) Wie das BAP sodann zutreffend festgestellt hat, ist hier
unerheblich, wie schwerwiegend die vom Beschwerdeführer begangenen Delikte
sind bzw. wie hoch die noch zu verbüssende Reststrafe ist. Massgebend sind
der Tatvorwurf (hier in erster Linie qualifizierter - bandenmässiger und
gewerbsmässiger - Diebstahl) und die dafür angedrohte bzw. ausgesprochene
Strafe. Ist wie im vorliegenden Fall bereits eine Verurteilung erfolgt, so
muss die Strafe nach Art. 2 Ziff. 1 EAUe mindestens vier Monate betragen,
nach Art. II Abs. 1 ZV sogar nur deren drei. Diese Voraussetzungen sind
im Hinblick auf die dem Auslieferungsbegehren zugrundeliegenden Urteile
klarerweise erfüllt. Was der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang sonst
noch vorbringt, ist somit unbeachtlich, namentlich auch sein Einwand,
dem Begehren dürfe im Lichte von Art. 4 IRSG nicht entsprochen werden,
da durch seine Straftaten ein bloss geringfügiger Sachschaden entstanden
sei. Der in dieser Bestimmung vorgesehene Ablehnungsgrund (Bedeutung
bzw. Bedeutungslosigkeit der Tat) ist im hier in erster Linie massgebenden
EAUe schon gar nicht vorgesehen. Abgesehen davon kann bei objektiver
Sicht der Dinge, mit Blick auf die Vielzahl der dem Beschwerdeführer
insgesamt zur Last gelegten Straftaten und die ihm bereits auferlegten
Strafen gemäss den dem Auslieferungsbegehren ebenfalls zugrundeliegenden
beiden Urteilen, nicht davon die Rede sein, dem deutschen Ersuchen liege
eine blosse Bagatelle zugrunde.

    d) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bildet dessen
momentaner Gesundheitszustand unter dem Gesichtswinkel von Art. 37 IRSG
keinen Grund, um die von Deutschland verlangte Auslieferung verweigern
zu können. Die Schweiz hat die sich aus dem hier in erster Linie
anwendbaren Staatsvertragsrecht ergebenden Verpflichtungen einzuhalten
(s. insbesondere auch Art. 1 EAUe). Soweit Art. 37 IRSG den in einem
Fall wie dem vorliegenden massgebenden staatsvertraglichen Bestimmungen
widerspricht, ist er nicht anwendbar (s. BGE 122 II 485 ff.).

    Auch aus der vom Beschwerdeführer im weiteren angerufenen Bestimmung
von Art. 3 EMRK lässt sich - entgegen seiner Auffassung - kein Anspruch
entnehmen, nicht ausgewiesen oder nicht ausgeliefert zu werden (BGE 117
Ib 210 E. 3b/cc, s. auch nicht publizierte Urteile des Bundesgerichts
vom 21. April 1997 i.S. P., vom 5. November 1996 i.S. S.). Bei drohender
Ausweisung oder Auslieferung kann zwar allenfalls die Anwendbarkeit von
Art. 3 EMRK in Frage kommen, dies aber in der Regel auch nur dann, wenn
die Gefahr besteht, dass der Betroffene im Verfolgerstaat einer Strafe
oder Behandlung ausgesetzt wird, welche die Schwelle zur unmenschlichen
oder erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art. 3 EMRK
unvereinbar ist (MARK E. VILLIGER, Handbuch der EMRK, Zürich 1993, Rz. 301
ff. zu Art. 3, S. 183 ff.; FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 2. Aufl.,
Kehl/Strassburg/ Arlington, 1996, N. 2 ff., insb. N. 18 zu Art. 3). Die
Auslieferung an Deutschland für sich allein bzw. das vom Verfolgten
dort zu gewärtigende Verfahren bzw. der dortige Strafvollzug stellen
somit - auch mit Blick auf den derzeit schlechten Gesundheitszustand
- noch keine menschenunwürdige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK
dar. Von einer solchen könnte höchstens dann die Rede sein, wenn damit
zu rechnen wäre, dass die deutschen Behörden den Beschwerdeführer nicht
angemessen behandeln und betreuen würden. Für eine derartige Annahme
bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Das BAP wird die ersuchenden
Behörden über die Befürchtungen und den dadurch bedingten Hungerstreik
des Beschwerdeführers zu informieren und eine Unterbringung in einer für
die dargelegte Situation des Beschwerdeführers geeigneten Vollzugsanstalt
zu veranlassen haben. Weshalb hierzu geeignete Massnahmen in Deutschland
nicht möglich sein sollen, ist nicht ersichtlich.

    Aussergewöhnliche familiäre Verhältnisse im Lichte von Art. 8
EMRK, welche nach der Rechtsprechung einer Auslieferung ausnahmsweise
entgegenstehen könnten (s. nicht publizierte E. 3e von BGE 122 II 485 ff.),
werden vom Beschwerdeführer nicht geltend gemacht und sind auch nicht
ersichtlich. Auch in andern Fällen, die nicht derart besonders gelagert
waren wie die soeben zitierte Rechtsprechung, vermochten geltend gemachte
Suizidgefahr oder ein Hungerstreik des Verfolgten keinen Einfluss auf ein
hängiges Auslieferungsverfahren bzw. auf eine allfällige Auslieferung zu
haben (s. etwa nicht publizierte Urteile des Bundesgerichts vom 21. April
1997 i.S. P., vom 5. November 1996 i.S. S., vom 17. Januar 1992 i.S. L.).

    e) Sind demgemäss die Auslieferungsvoraussetzungen erfüllt, so ist die
Schweiz staatsvertraglich verpflichtet, dem deutschen Begehren stattzugeben
(Art. 1 EAUe), zumal der ersuchende Staat seinerseits weder sein Begehren
fallengelassen noch ein Strafübernahmeersuchen bzw. Vollstreckungsbegehren
an die Schweiz gerichtet hat.

    Im Sinne der vorstehenden Erwägungen hat das BAP dafür besorgt zu sein,
dass dem derzeit schlechten Gesundheitszustand des Beschwerdeführers und
den von diesem geäusserten Befürchtungen beim Vollzug der Auslieferung
wie auch hernach, im Verlaufe des weiteren Verfahrens in Deutschland,
angemessen Beachtung geschenkt wird.