Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 II 225



123 II 225

26. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. April 1997
i.S. D. gegen Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 16 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 32 Abs. 1 VZV, Art. 17 Abs. 1 lit. a
und c SVG; Führerausweisentzug bei Fahren trotz Ausweisentzug.

    Bei der Festsetzung der Dauer des Führerausweisentzuges wegen
Fahrens trotz Ausweisentzug darf der nicht verbüsste Rest der früheren
rechtskräftigen Massnahme nicht berücksichtigt werden; die Entzugsbehörde
hat dafür gegebenenfalls eine neue, selbständige Vollzugsanordnung zu
treffen (E. 2a/bb; Änderung der Rechtsprechung).

    Die gesetzliche Mindestsanktionsdauer von sechs Monaten bei Fahren
trotz Führerausweisentzug kann in leichten Fällen unterschritten werden
(E. 2b/bb). Ein Führerausweisentzug von etwas mehr als zwei Monaten
ist bei besonders leichtem Verschulden des fehlbaren Automobilisten
unverhältnismässig (E. 2b/cc).

    Offengelassen, ob die Massnahmebehörde in besonders leichten Fällen
auch die Mindestentzugsdauer von einem Monat gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a
SVG unterschreiten kann bzw. je nach den Umständen sogar muss (E. 2b/cc).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 3. März 1995 entzog das Strassenverkehrs-
und Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen (SVA) D. den Führerausweis
für die Dauer von neun Monaten wegen wiederholter Überschreitung der
signalisierten Höchstgeschwindigkeit. Diese Verfügung wurde D. zusammen
mit der Aufforderung, seinen Ausweis bis spätestens am Morgen des 28. März
1995 abzugeben, sowohl mit gewöhnlicher als auch mit eingeschriebener
Briefpostsendung zugesandt. D. erhielt den uneingeschriebenen Brief
nicht und holte die eingeschriebene Sendung innert der siebentägigen
Abholfrist bei der Post nicht ab. Entgegen der von ihm zuvor mit dem dafür
zuständigen Postbüro Bazenheid getroffenen mündlichen Vereinbarung, wonach
dieses seine Post jeweils während 14 Tagen zurückbehalten sollte, bis ein
definitiver Nachsendungsauftrag erfolgte, sandte eine Postangestellte
die Verfügung nach Ablauf der Abholfrist an das SVA zurück. Wäre der
Auftrag richtig ausgeführt worden, hätte der Beschwerdeführer rechtzeitig
vom ausgesprochenen Führerausweisentzug erfahren. In Unkenntnis vom
Führerausweisentzug lenkte D. seinen Personenwagen zwischen dem 28. März
und dem 24. April 1995 regelmässig. Er gab seinen Führerausweis erst auf
polizeiliche Intervention hin am 28. April 1995 ab.

    B.- Das Bezirksamt Alttoggenburg sprach D. mit Strafbescheid vom
23. August 1995 der verspäteten Abgabe des entzogenen Führerausweises sowie
des mehrfachen Führens eines Personenwagens trotz Führerausweisentzuges,
fahrlässig begangen, schuldig und verurteilte ihn zu 12 Tagen Haft,
bedingt, sowie zu einer Busse von Fr. 600.--. Der Strafbescheid erwuchs
in Rechtskraft.

    C.- Mit Verfügung vom 6. November 1995 entzog das SVA St. Gallen
D. den Führerausweis für die Dauer von sieben Monaten.

    Die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen hiess einen
dagegen erhobenen Rekurs am 25. September 1996 teilweise gut und setzte
die Dauer des Führerausweisentzuges auf drei Monate herab; im übrigen
bestätigte es die angefochtene Verfügung.

    D.- Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid der
Verwaltungsrekurskommission aufzuheben und von einer Administrativmassnahme
abzusehen; eventualiter sei maximal eine Verwarnung auszusprechen;
subeventualiter sei ein Führerausweisentzug für die Dauer eines Monats
anzuordnen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach den Ausführungen der Vorinstanz ist das Verschulden des
Beschwerdeführers aufgrund der Umstände und des Mitverschuldens der
Poststelle Bazenheid als gering zu werten. Es liege ein besonders
leichter Fall vor, weshalb die gesetzlich vorgeschriebene zwingende
Entzugsdauer von 6 Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG (SR 741.01)
unterschritten werden könne. Doch sei die Mindestentzugsdauer von einem
Monat gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG zu beachten. Angesichts des
erheblich getrübten automobilistischen Leumunds des Beschwerdeführers,
seiner Sanktionsempfindlichkeit sowie der verspäteten Hinterlegung
des Führerausweises und des damit verbundenen Nachvollzuges sei ein
Ausweisentzug für die Dauer von drei Monaten angemessen.

    a) Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die Vorinstanz habe bei der
Festsetzung der Dauer des angeordneten Führerausweisentzuges zu Unrecht
berücksichtigt, dass er den Führerausweis erst am 28. April 1995 statt -
wie verfügt - am 28. März 1995 hinterlegt habe und die Entzugsdauer dadurch
nur acht statt neun Monate betragen habe. Ein allfälliger "Nachvollzug"
könne im neuen Verfahren nicht angeordnet werden.

    aa) Die Vorinstanz verweist in ihrer Begründung zur Berücksichtigung
des Nachvollzuges auf einen unveröffentlichten Entscheid des Bundesgerichts
vom 26. Juni 1981 i.S. L. H. Das Bundesgericht entschied dort, dass die
Dauer des Entzugs wegen Missachtung eines Führerausweisentzuges mindestens
der Dauer der Missachtung des behördlichen Fahrverbots zu entsprechen habe
(E. 3d am Ende).

    bb) An dieser Rechtsprechung kann nicht festgehalten werden. Der
Entzug des Führerausweises zu Warnzwecken dient der Besserung
des fehlbaren Fahrzeuglenkers und der Bekämpfung von Rückfällen
(BGE 121 II 22 E. 3a). Der Form nach ist der Warnungsentzug zwar
eine Administrativmassnahme, für welche die Verwaltungsbehörde des
Wohnsitzkantons zuständig ist (Art. 22 SVG); materiell hat er jedoch
überwiegend Strafcharakter (vgl. BGE 121 II 22 E. 3 mit Hinweisen auf
die insofern absolut herrschende Lehrmeinung; zuletzt MATTHIAS HÄRRI,
Alternative Sanktionen im Strassenverkehrsrecht, SJZ 93 (1997), S. 79).
Für die Beantwortung der vorliegend zu beurteilenden Frage können deshalb
die im Bereiche des Strafrechts geltenden Regeln sinngemäss herangezogen
werden. In Fällen, in denen gegen einen Täter eine selbständige Strafe
ausgesprochen wird, ist die Frage ihres Vollzuges gesondert von früher
ausgefällten Strafen zu beurteilen. So kann der Strafrichter eine Strafe
nicht deshalb erhöhen, weil er der Auffassung ist, der Beurteilte habe
eine frühere Strafe nicht vollständig verbüsst. Entsprechendes muss für
den Führerausweisentzug zu Warnzwecken gelten. Die Massnahmebehörde hat
somit für den unverbüssten Rest eines rechtskräftigen Warnungsentzuges
gegebenenfalls eine neue Vollzugsanordnung zu treffen. Es ist ihr
jedenfalls verwehrt, im Rahmen eines neuen Entzugsverfahrens zusätzlich
einen "Nachvollzug" des nicht verbüssten Teils der früheren Massnahme
anzuordnen. Damit wird gewährleistet, dass getrennt voneinander
zu beurteilende Sachverhalte nicht miteinander vermengt werden
und unter anderem auch die Aussagekraft des Eintrages der verfügten
rechtskräftigen Massnahme in dem vom Bundesamt für Polizeiwesen geführten
Register (Art. 118 VZV; SR 741.51) gewahrt bleibt. Denn könnten die
Massnahmebehörden in einem neuen Verfahren einen "Nachvollzug" anordnen,
würde das eidgenössische Register nach Rechtskraft der Verfügung Auskunft
geben über zwei Führerausweisentzüge, deren formell verfügte gesamte
Dauer um die Dauer des "Nachvollzuges" höher ausfiele, als die gegen den
betroffenen Fahrzeuglenker effektiv ausgesprochenen Sanktionen.

    cc) Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt,
indem sie die im vorliegenden Entzugsverfahren auszusprechende Massnahme
um die Dauer des unverbüssten Restes eines früheren rechtskräftigen
Warnungsentzuges erhöhte.

    b) Der Beschwerdeführer wendet weiter ein, die Vorinstanz habe
Bundesrecht verletzt, indem sie trotz der Annahme eines besonders
leichten Falles die Mindestdauer für Führerausweisentzüge von einem
Monat nicht unterschritten habe. Überdies habe die Vorinstanz seinen
getrübten automobilistischen Leumund sowohl bei der Bemessung des
Führerausweisentzuges vom 3. März 1995 als auch beim damit untrennbar
verbundenen Ausweisentzug vom 6. November 1995 massnahmeschärfend
berücksichtigt, und damit den Grundsatz "ne bis in idem" verletzt.

    aa) Gemäss Art. 16 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 32 Abs. 1 VZV ist der
Führerausweis zwingend zu entziehen, wenn der Lenker ein Motorfahrzeug
während der Dauer eines rechtmässigen Ausweisentzuges gelenkt hat. Die
Verordnungsbestimmung füllt eine in der SVG-Bestimmung bestehende Lücke und
ist somit gesetzmässig (BGE 112 Ib 309). Nach Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG
ist der Führerausweis für mindestens sechs Monate zu entziehen, wenn der
Lenker trotz Ausweisentzugs ein Motorfahrzeug geführt hat. Die Dauer des
Warnungsentzuges richtet sich vor allem nach der Schwere des Verschuldens,
nach dem Leumund als Motorfahrzeugführer sowie nach der beruflichen
Notwendigkeit, ein Motorfahrzeug zu führen (Art. 33 Abs. 2 VZV).

    bb) Nach einer nicht publizierten Praxis des Bundesgerichts können die
Administrativbehörden die gesetzliche Mindestdauer des Ausweisentzugs wegen
Fahrens trotz Führerausweisentzugs von sechs Monaten in besonders leichten
Fällen unterschreiten, müssen dabei aber die Mindestentzugsdauer von einem
Monat gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG beachten (nicht veröffentlichtes
Urteil des Bundesgerichts vom 25. Juni 1995 i.S. H.; nicht publizierte E. 3
von BGE 112 Ib 309; nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom
26. Juni 1981 i.S. H.; vgl. auch BGE 117 IV 302 E. 3b/dd). Diese Praxis
stützt sich darauf, dass das Gesetz in Art. 16 Abs. 2 und Art. 17 Abs. 3
SVG selbst die Möglichkeit der Milderung einer Massnahme vorsieht und
es daher nicht systemkonform wäre, wenn die Behörden das gesetzliche
Minimum von sechs Monaten gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG nicht in
gewissen Härtefällen unterschreiten dürften. Hingewiesen wird sodann auf
den vorwiegend pönalen Charakter des Führerausweisentzugs wegen Fahrens
trotz Führerausweisentzugs und auf Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 SVG, wonach
der Strafrichter in besonders leichten Fällen von Bestrafung Umgang
nehmen oder die Strafe mildern kann. In einem neueren Entscheid hat das
Bundesgericht entschieden, die Entzugsbehörde könne die obligatorische
Mindestentzugsdauer nach Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG unterschreiten und
allenfalls von der Anordnung einer Massnahme absehen, wenn seit dem
massnahmeauslösenden Ereignis verhältnismässig lange Zeit verstrichen
sei, sich der Betroffene während dieser Zeit wohl verhalten habe und
ihn an der langen Verfahrensdauer keine Schuld treffe (BGE 120 Ib 504
E. 4d). Die Vorinstanz stützte sich bei ihrem Entscheid in bezug auf die
Unterschreitung der Mindestentzugsdauer von sechs Monaten zutreffend auf
diese bundesgerichtliche Rechtsprechung.

    cc) Fraglich bleibt, ob auch ein Führerausweisentzug von etwas mehr
als zwei Monaten - unter Abzug des "Nachvollzuges" - unverhältnismässig
ist. Dies ist aus folgenden Gründen zu bejahen.

    Wie die Vorinstanz ausführt, trifft den Beschwerdeführer nur ein
geringfügiges Verschulden, weshalb seine Verfehlung als besonders leichter
Fall einzustufen sei. Wenn aber dem Beschwerdeführer nur eine geringfügige
Fahrlässigkeit in bezug auf die Regelung der Entgegennahme seiner Post
und der deshalb unterbliebenen Kenntnisnahme des Führerausweisentzuges
vorzuwerfen ist, wird man seinen getrübten automobilistischen Leumund nur
in untergeordnetem Mass massnahmeschärfend heranziehen können. Jedenfalls
kann der Führerausweisentzug vom 3. März 1995, der Grundlage für die hier
zu beurteilende Massnahme bildet, nicht als erschwerender Gesichtspunkt
gewichtet werden, da die Fahrlässigkeit des Beschwerdeführers insoweit
nicht als Ausdruck fehlender Einsicht interpretiert werden kann. Dagegen
wendet sich in Wahrheit auch der Beschwerdeführer, wenn er eine Verletzung
des Grundsatzes "ne bis in idem" rügt.

    Daraus folgt, dass die Vorinstanz ihr Ermessen überschritten und
damit Bundesrecht verletzt hat, indem sie trotz des besonders leichten
Verschuldens des Beschwerdeführers und seines nur in untergeordnetem
Masse massnahmeschärfend zu berücksichtigenden automobilistischen
Leumunds einen Führerausweisentzug für die Dauer von etwas mehr als
zwei Monaten verfügte. Im Rahmen der neuen Beurteilung wird sich die
kantonale Instanz losgelöst von einem allfälligen "Nachvollzug" über die
dem Verschulden des Beschwerdeführers angemessene Massnahme aussprechen
müssen. Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob die Massnahmebehörde
in besonders leichten Fällen die Mindestentzugsdauer von einem Monat
gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. a SVG unterschreiten kann bzw. je nach den
Umständen sogar muss. Jedenfalls sind hier keine Umstände erkennbar,
welche der Entzugsbehörde die Unterschreitung der Mindestentzugsdauer
besonders nahelegen würden.