Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 II 1



123 II 1

1. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 17. Februar 1997 i.S. B. G. gegen Sozialversicherungsgericht und
Justizdirektion des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Entschädigung und Genugtuung. Art. 11 ff. OHG.

    Die Pflicht, das Verfahren nach Art. 11 ff. OHG einfach und rasch
durchzuführen, schliesst eine Sistierung nicht grundsätzlich aus;
Voraussetzungen einer Sistierung im allgemeinen (E. 2).

    Es widerspricht Sinn und Zweck des OHG, das Entschädigungsverfahren
nach Art. 11 ff. zu sistieren, um vom Opfer zu verlangen, zunächst selber
einen zivilen Schadenersatzprozess zu führen (E. 3).

Sachverhalt

    Am 1. Dezember 1994 werden der 17jährige A. G. aus nichtigem Anlass
von seinem gleichaltrigen Kollegen P. B. mit einem Schwert erstochen. B.
G. fand den Leichnam ihres Sohnes am nächsten Tag in seinem Bett, wo ihn
der Täter unter der Bettdecke versteckt hatte. Von diesem Schicksalsschlag
hat sich B. G. bis heute nicht erholt; sie musste in der Folge auf Ende
1995 hin ihre Arbeit aufgeben und ist heute zu 100% invalid.

    Am 29. März 1996 stellte B. G. bei der Opferhilfestelle der
Justizdirektion des Kantons Zürich ein Gesuch mit dem Antrag, es
sei ihr "zu Lasten der Opferhilfe Schadenersatz und Genugtuung zu
leisten". Ausserdem ersuchte sie um einen Vorschuss im Sinne von Art. 15
OHG (SR 312.5) in Höhe von Fr. 25'000.--. Mit Verfügung vom 9. Mai 1996
wies die Justizdirektion des Kantons Zürich die Gesuche von B. G. um
Vorschuss und Entschädigung ab und sistierte das Gesuch um Genugtuung
bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Zur Begründung
führte sie im wesentlichen an, es sei zwar glaubhaft, dass A. G.
einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen und deshalb Opfer im Sinne
von Art. 2 Abs. 1 OHG sei, weshalb die Gesuchstellerin diesem nach
Art. 2 Abs. 2 lit. c OHG bei der Geltendmachung von Entschädigung und
Genugtuung gleichgestellt sei, soweit ihr Zivilansprüche gegen den Täter
zustünden. Nach der massgeblichen zivilrechtlichen Bestimmung von Art. 45
Abs. 3 OR hätte der Täter indessen nur einen allfälligen Versorgerschaden
zu decken. Der von ihr als Schaden geltend gemachte Arbeitsausfall sei
jedoch kein solcher, sondern vielmehr ein Reflexschaden, aus dem sich
kein zivilrechtlicher Schadenersatzanspruch gegenüber dem Täter ableiten
lasse. Dementsprechend bestehe auch kein Forderungsrecht gegenüber der
Opferhilfestelle, weshalb das Gesuch um Entschädigung des erlittenen
Lohnausfalls und damit auch das Gesuch um Vorschuss abzuweisen sei. Die
Beurteilung des Gesuchs um Genugtuung hange wesentlich vom Ausgang des
Strafverfahrens gegen P. B. ab, weshalb es bis zu dessen rechtskräftiger
Erledigung zu sistieren sei.

    Die Verfügung der Justizdirektion vom 9. Mai 1996 focht die
Beschwerdeführerin mit Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich an, u.a. mit den Rechtsbegehren, Ziff. III der Verfügung
der Justizdirektion vom 9. Mai 1996 sei aufzuheben, diese sei zu
verpflichten, B. G. in dem Umfange, in welchem ihr ein zivilrechtlicher
Anspruch zustehe, entsprechend den Bemessungsgrundsätzen von Art. 13 OHG
zu entschädigen, und das Verfahren betreffend Entschädigung sei bis zum
Vorliegen eines Urteils über den Schadenersatzanspruch zu sistieren.

    Mit Verfügung vom 8. August 1996, mitgeteilt am 15. August 1996,
verfügte der Referent die Sistierung des Prozesses "bis zur rechtskräftigen
Erledigung eines Entscheids über den Schadenersatzanspruch von B. G.".

    Mit Eingabe vom 26. August 1996 erhebt B. G. -
der Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Verfügung
entsprechend - Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidgenössischen
Versicherungsgericht. Sie beantragt, die Sistierung des Verfahrens beim
Sozialversicherungsgericht sei aufzuheben und stellt im übrigen die
ähnlichen Rechtsbegehren wie vor dem Sozialversicherungsgericht.

    Am 29. August 1996 überwies das Eidgenössische Versicherungsgericht
die Angelegenheit zuständigkeitshalber dem Bundesgericht zur weiteren
Behandlung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Strittig ist vorliegend einzig, ob das
Sozialversicherungsgericht das Verfahren um eine Entschädigung nach
Art. 11 ff. OHG sistieren durfte, bis ein rechtskräftiges Zivilurteil
über den Schadenersatzanspruch der Beschwerdeführerin gegen den Täter
besteht. Nicht mehr zur Diskussion steht dagegen ihr ursprünglich
gestelltes Vorschussbegehren nach Art. 15 OHG: dessen Ablehnung durch
die Justizdirektion focht sie beim Sozialversicherungsgericht bereits
nicht mehr an (grundsätzlich zum Anspruch des Opfers auf Vorschuss:
BGE 121 II 116). Ebenfalls nicht angefochten ist die Sistierung ihres
Gesuchs um Zusprechung einer Genugtuung.

    b) Die Kantone haben für Ansprüche nach Art. 11 ff. OHG ein
"einfaches, rasches und kostenloses Verfahren" vorzusehen (Art. 16 Abs. 1
OHG). Dabei handelt es sich um ein eigenständiges Verwaltungsverfahren;
es ist daher grundsätzlich unabhängig von anderen Zivil-, Straf- und
Verwaltungsverfahren durchzuführen.

    Die Pflicht, das Verfahren einfach und rasch durchzuführen,
schliesst eine Sistierung nicht grundsätzlich aus. Eine solche kann
sich etwa rechtfertigen, wenn ein anderes Verfahren hängig ist, dessen
Ausgang von präjudizieller Bedeutung ist, und das Verfahren nach Art. 11
ff. OHG nicht rascher und einfacher zum Ziele führen würde. So hat das
Bundesgericht die Sistierung des Opferhilfeverfahrens bis zum Abschluss
des Strafverfahrens in einem Fall zugelassen, in welchem zunächst durch
Gutachten abgeklärt werden musste, ob überhaupt eine Straftat (schwere
fahrlässige Körperverletzung durch ärztlichen Kunstfehler) vorlag,
was die Opferhilfestelle nicht schneller hätte tun können, als dies im
Strafverfahren erfolgte (BGE 122 II 211 E. 3e).

Erwägung 3

    3.- a) Der Referent des Sozialversicherungsgerichtes hat im
angefochtenen Entscheid das Verfahren sistiert, bis die Beschwerdeführerin
in einem (offenbar noch einzuleitenden) Schadenersatzprozess gegen den
Täter ein rechtskräftiges Urteil erstritten haben wird. Zur Begründung
hat er angeführt, die Bezifferung des Schadens sei im heutigen Zeitpunkt
nicht möglich, und die Bemessung der Entschädigung nach OHG hänge unter
anderem von der Frage ab, ob der Unfallversicherer zahlungspflichtig sei
und wie die Invalidenversicherung entscheide.

    b) Das OHG will u.a. gerade verhindern, dass das Opfer zur
Durchsetzung seiner Ansprüche einen an Kosten- und Beweislastrisiken
reichen Zivilprozess gegen den Täter anstrengen muss (BBl 1990 II
987 f.). Zu diesem Zweck räumt es ihm den Entschädigungsanspruch
gemäss Art. 11 ff. OHG gegenüber dem Staat ein, der in einem raschen,
einfachen und kostenlosen Verfahren durchgesetzt werden kann. Darauf
hat das Opfer ein primäres Recht. Dieser Anspruch ist nur insofern
subsidiär (wie das Marginale zu Art. 14 OHG lautet), als sich das Opfer
andere Leistungen, die es als Schadenersatz erhalten hat, anrechnen
lassen muss, und Ansprüche, die ihm aufgrund der Straftat zustehen, im
Umfang ihrer Leistung auf den Staat übergehen (Art. 14 Abs. 1 und 2 OHG;
vgl. auch GOMM/STEIN/ZEHNTNER, Kommentar zum OHG, N. 5 ff., insbes. N. 7
zu Art. 14). Daher widerspricht es Sinn und Zweck des OHG und verletzt
Bundesrecht, das Entschädigungsverfahren nach Art. 11 ff. OHG zu sistieren
und vom Opfer zu verlangen, zunächst selber einen Schadenersatzprozess
zu führen.

    Die Ansprüche, die dem Opfer gegenüber der Unfall- oder der
Invalidenversicherung zustehen, sind, wie erwähnt, von der Entschädigung
nach OHG in Abzug zu bringen oder gehen auf den Staat über (vgl. auch
dazu GOMM/STEIN/ZEHNTNER, aaO, N. 12 ff. und 54 zu Art. 14), weshalb
die Begründung im angefochtenen Entscheid, wonach die Bemessung der
Entschädigung von den Leistungen der Versicherungen abhänge, unzutreffend
ist. Auch soweit die Sistierung damit begründet wird, verletzt sie daher
Bundesrecht.

Erwägung 4

    4.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit gutzuheissen und die
angefochtene Sistierung des Verfahrens aufzuheben.