Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 469



123 III 469

73. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. November 1997
i.S. X. gegen AHV-Ausgleichskasse Y. (Berufung) Regeste

    Arbeitsvertrag; Abgeltung eines Gleitzeitüberhangs.

    Einen Gleitzeitüberhang hat der Arbeitnehmer grundsätzlich mit Freizeit
zu kompensieren. Eine Entschädigung kommt nur in Frage, wenn betriebliche
Bedürfnisse oder anderslautende Weisungen des Arbeitgebers den zeitlichen
Ausgleich solcher Guthaben innerhalb des vereinbarten Gleitzeitrahmens
und unter Einhaltung etwaiger Blockzeiten nicht zulassen; in einem solchen
Fall sind die Mehrstunden aber nicht mehr als Gleitzeitguthaben, sondern
als eigentliche Überstunden zu qualifizieren (E. 3).

Sachverhalt

    X. war seit dem 2. Mai 1988 bei der AHV-Ausgleichskasse Y.  als
Pensionskassenspezialistin beschäftigt. Ihr Gehalt betrug zuletzt Fr.
6'810.-- brutto. Die Arbeitgeberin kündigte der Arbeitnehmerin per
Ende September 1994 und stellte sie vom 13. Juli 1994 an frei. Die
Präsenzliste der Arbeitnehmerin wies zu diesem Zeitpunkt einen Überhang
an geleisteter Arbeit von 23 Tagen auf. Während die Arbeitnehmerin darin
Überstunden erkennt, welche mit einem Zuschlag von 25% zum ordentlichen
Stundenansatz zu vergüten seien, qualifiziert die Arbeitgeberin diese über
die Sollzeit geleisteten Arbeitsstunden als nicht abgeltungspflichtigen
Gleitzeitüberhang, welcher mit der Freistellung der Arbeitnehmerin
kompensiert worden sei.

    Eine von X. gegen die AHV-Ausgleichskasse anhängig gemachte
Forderungsklage wies das Arbeitsgericht Zürich mit Urteil vom 14. März
1995 ab. Den im kantonalen Berufungsverfahren aufrechterhaltenen Anspruch
der Klägerin auf Zahlung von Fr. 9'751.60 für geleistete Mehrarbeit von
23 Tagen wies das Obergericht (I. Zivilkammer) des Kantons Zürich mit
Beschluss vom 26. August 1996 ab. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich
änderte auf Nichtigkeitsbeschwerde hin mit Beschluss vom 27. Dezember 1996
den Kostenspruch des Obergerichts ab und wies die Beschwerde im übrigen
ab. Diesen Beschluss focht die Klägerin erfolglos mit staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV an. Die gegen den Beschluss
des Obergerichts eingelegte Berufung weist das Bundesgericht ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die zu den kantonalen Akten gegebene "Betriebsordnung"
bestimmt in Ziff. 7.3, dass Sollzeitmankos durch den Arbeitnehmer
"innert nützlicher Frist aufzuholen (bei unregelmässigem Arbeitsanfall
spätestens innerhalb von zwölf Monaten)" sind und Überhänge "im gleichen
Sinn kompensiert werden [können]". Die Vorinstanz hat die Verbindlichkeit
dieser arbeitgeberseitig erlassenen Weisungen für die Klägerin bejaht und
erwogen, diese habe mit der Unterzeichnung des Arbeitsvertrages bestätigt,
deren Inhalt und damit auch die "Instruktionen an das Personal" inkl. das
Betriebsreglement gelesen und anerkannt zu haben. Mindestens habe der
Präsenzordner, welchem das Betriebsreglement beigeheftet gewesen sei,
wöchentlich bei der Belegschaft und auch bei der Klägerin zirkuliert, so
dass diese die Möglichkeit gehabt habe, von den entsprechenden Weisungen
Kenntnis zu nehmen. Die Klägerin bestreitet in ihrer Berufung nicht
mehr, von den arbeitgeberseitig erlassenen Weisungen und besonders vom
Betriebsreglement Kenntnis gehabt zu haben. Sie verneint unter Hinweis auf
Art. 321c Abs. 3 OR lediglich dessen Rechtsgrundlage für die Wegbedingung
von Überstundenentschädigungen. Da vorliegend nicht die Abgeltung von
Überstunden, sondern eines Gleitzeitüberhangs in Streit steht, sind
die diesbezüglichen Bestimmungen des Betriebsreglements im Sinne einer
arbeitgeberseitig zulässig erlassenen Weisung (vgl. BRUNNER/BÜHLER/WAEBER,
Commentaire du contrat de travail, 2. Aufl., N. 1 zu Art. 321d OR)
grundsätzlich zu beachten.

    b) Die Zeitautonomie des Arbeitnehmers im Arbeitsverhältnis mit
vereinbarter Gleitzeit korreliert mit seiner Verpflichtung, allfällige
Mehrstunden innert nützlicher Frist wieder abzubauen. Der Sinn der
Gleitzeit liegt gerade darin begründet, dass der Arbeitnehmer in deren
Rahmen zeitautonom bestimmen kann, die Soll-Arbeitszeit zu über- oder
zu unterschreiten. Umgekehrt liegt es in seinem Verantwortungsbereich,
fristgerecht für einen Ausgleich der Mehrarbeit zu sorgen. Da
schweizerischem Recht unterstehende Arbeitsverhältnisse nur einen
beschränkten Bestandesschutz geniessen und innert vertraglich vereinbarter
oder gesetzlich normierter Kündigungsfrist grundsätzlich jederzeit
aufgelöst werden können, sollten Gleitzeitguthaben kein derartiges
Ausmass erreichen, dass sie nicht innerhalb des für die ordentliche
Kündigungsfrist definierten Zeitrahmens während der festgelegten
Gleitzeit wieder ausgeglichen werden können. Lässt der Arbeitnehmer mithin
Gleitzeit-Mehrstunden in grösserem Umfang anwachsen, so übernimmt er damit
das Risiko, sie bis zum Ende der Vertragszeit nicht mehr vollumfänglich
abbauen zu können. Dies gilt auch und insbesondere dann, wenn - wie
vorliegend - die Parteien keine besondere Abrede bezüglich der Kompensation
eines derartigen Gleitzeitüberhangs getroffen haben. Eine Entschädigung
kommt nur in Frage, wenn betriebliche Bedürfnisse oder anderslautende
Weisungen des Arbeitgebers den zeitlichen Ausgleich solcher Guthaben
innerhalb des vereinbarten Gleitzeitrahmens und unter Einhaltung etwaiger
Blockzeiten nicht zulassen; in diesem Fall sind die Mehr-Stunden aber
nicht mehr als Gleitzeitguthaben, sondern als eigentliche Überstunden zu
qualifizieren. Dasselbe gilt, soweit der Arbeitnehmer nach (ordentlicher)
Kündigung des Arbeitsverhältnisses Gleitzeitguthaben bis zum Ablauf der
Kündigungsfrist ausgleichen will, der Arbeitgeber oder die betrieblichen
Umstände dies jedoch nicht zulassen. Die Beweislast für das Vorliegen
abgeltungspflichtiger Überstunden trifft allerdings den Arbeitnehmer
(STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 5. Aufl., N. 10 zu Art. 321c OR).

    Stellt der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nach erfolgter Kündigung frei,
so wird diesem der Abbau von Gleitzeitguthaben in der Freistellungszeit
mindestens insoweit ermöglicht, als nicht noch Ferientage bezogen
werden müssen. Eine Entschädigung für Gleitzeitguthaben ist
grundsätzlich ausgeschlossen und deren Ausgleich ist mittels Freizeit
sicherzustellen. Ist dies bis zum Ablauf der Vertragsdauer nicht mehr
möglich, verfällt die Arbeitsleistung regelmässig entschädigungslos.

    c) Vorliegend stellte die Beklagte die Klägerin in ihrem
Kündigungsschreiben vom 11. Juli 1994 frei und erklärte gleichzeitig, die
bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 30. September 1994 verbleibende
Arbeitszeit von 56 1/2 Tagen mit dem offenen Ferienguthaben von 38
Tagen und dem Gleitzeitüberhang von 23 Tagen zu kompensieren und
den daraus resultierenden Freizeitüberschuss auszubezahlen. Durch den
arbeitgeberseitig erklärten Verzicht auf ihre Arbeitsleistung während der
Kündigungsfrist wurde der Klägerin der Abbau ihrer Gleitzeitguthaben somit
vollumfänglich ermöglicht. Demzufolge stehen ihr hiefür keine geldwerten
Ersatzansprüche mehr zu.