Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 411



123 III 411

64. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. September 1997 i.S.
R. H. gegen B. H. (Berufung) Regeste

    Art. 1 und 5 des Haager Übereinkommens über die Zuständigkeit der
Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von
Minderjährigen.

    Internationale Zuständigkeit zur Regelung der elterlichen Gewalt und
des persönlichen Verkehrs zwischen Eltern und Minderjährigem, wenn dieser
während des Scheidungsverfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen
anderen Vertragsstaat verlegt hat; keine Anwendbarkeit des Grundsatzes der
"perpetuatio fori" (E. 2a).

Sachverhalt

    A.- B. H. und R. H., die im Mai 1990 die Ehe eingingen, sind Eltern
der Kinder A. (geb. am 27. Mai 1988) und F. (geb. am 27. Juni 1991).
Nachdem der Ehemann im November 1991 Scheidungsklage eingereicht hatte,
verliess die Ehefrau Mitte Juli 1992 die Schweiz und zog mit den Kindern
nach Deutschland, wo sie sich heute noch aufhält.

    Mit Urteil vom 6. Oktober 1993 schied das Bezirksgericht Meilen die
Ehe der Parteien; es stellte die Kinder unter die elterliche Gewalt der
Beklagten, R. H., räumte dem Kläger ein Besuchs- und Ferienrecht ein,
verpflichtete ihn überdies zu Unterhaltsleistungen an die geschiedene
Ehefrau und die Kinder und erklärte schliesslich die Parteien in
güterrechtlicher Hinsicht für auseinandergesetzt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Zürich, an das die Beklagte mit
kantonaler Berufung gelangt war, trat unter anderem mit Beschluss vom
18. Dezember 1995 auf die Anträge der Parteien betreffend Zuteilung der
elterlichen Gewalt, und Regelung des persönlichen Verkehrs zwischen Eltern
und Kindern nicht ein.

    C.- Dagegen legte die Beklagte Berufung ein mit dem Antrag, den
Beschluss aufzuheben. Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit es
darauf eintritt, und bestätigt den angefochtenen Beschluss.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a/aa) Das Obergericht ist auf die Anträge der Parteien
betreffend die Zuteilung der elterlichen Gewalt über die Kinder und die
Regelung des persönlichen Verkehrs zwischen Eltern und Kindern nicht
eingetreten. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar hätten beide Parteien
bei Klageeinleitung (9. November 1991) mit den Kindern in Z. gelebt. Die
Beklagte habe jedoch Mitte Juli 1992 mit den Söhnen die Schweiz verlassen
und wohne seither in Deutschland, weshalb davon auszugehen sei, dass die
Kinder heute ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hätten. Gestützt
auf Art. 1 des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und
das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen
(MSA; SR 0.211.231.01) erachte es sich daher als nicht zuständig, über
die vorgenannten Nebenfolgen zu entscheiden.

    Demgegenüber hält die Beklagte dafür, aufgrund des Grundsatzes der
"perpetuatio fori" werde die einmal begründete Zuständigkeit durch
den Wechsel des Aufenthaltsortes des Minderjährigen vor Abschluss des
Verfahrens nicht verändert; werde der obergerichtlichen Auffassung
gefolgt, ergebe sich bei einem Aufenthaltswechsel eine Diskrepanz
bezüglich der Frage der Zuständigkeit, je nach dem, in welchem Staat
der neue Aufenthaltsort sich befinde. Es sei nicht vertretbar, dass das
Erlöschen der Zuständigkeit des ursprünglichen Gerichts davon abhänge,
ob das Abkommen anwendbar sei oder nicht.

    a/bb) Der Vorwurf der Verletzung des Grundsatzes der "perpetuatio
fori" erweist sich indessen als unbegründet. Mit dem Obergericht hält
die Beklagte richtigerweise dafür, das Übereinkommen sei auf ihre
neun bzw. sechs Jahre alten Söhne anwendbar; sie bestreitet sodann -
ebenfalls zu Recht - nicht, dass die Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt
in Deutschland haben und dass es sich bei der Zuteilung der elterlichen
Gewalt über die Kinder und der Regelung des persönlichen Verkehrs zwischen
Eltern und Kindern um Schutzmassnahmen im Sinne des MSA handelt (BGE 117
II 334 Nr. 61; 109 II 375 Nr. 79; DUTOIT, Commentaire de la loi fédérale
du 18 décembre 1987, 2. Aufl. Basel 1997, N. 2 zu Art. 63 IPRG; SIEHR, in:
Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Internationales Privatrecht,
Basel 1996, N. 18 zu Art. 63 IPRG; VOLKEN, in: IPRG Kommentar, Zürich 1993,
N. 4 zu Art. 63 IPRG). Unstreitig ist schliesslich auch die Anwendbarkeit
des Übereinkommens im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz,
die beide als Vertragsstaaten aufgeführt sind.

    Gemäss Art. 1 MSA sind die Gerichte und Verwaltungsbehörden des
Staates, in dem ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt
hat, unter Vorbehalt der Bestimmungen der Art. 3, 4 und 5 Abs. 3
des Übereinkommens, zuständig, Massnahmen zum Schutze der Person
oder des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Für den Fall,
dass ein Minderjähriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen
anderen Vertragsstaat verlegt, bestimmt Art. 5 Abs. 1 MSA ausserdem,
dass die von den Behörden des Staates des früheren gewöhnlichen
Aufenthalts getroffenen Massnahmen so lange in Kraft bleiben, bis
die Behörden des neuen gewöhnlichen Aufenthaltes sie aufheben oder
ersetzen. Zwar äussert sich das Übereinkommen nicht ausdrücklich dazu,
wie hinsichtlich der Massnahmen zu verfahren ist, die - wie hier - vor
dem Wechsel des Aufenthaltes beantragt, aber noch nicht getroffen worden
sind. Doch ergibt sich aus Sinn und Zweck der Abkommensregelung, dass
Schutzmassnahmen am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthalts prinzipiell
nicht mehr getroffen werden sollen (SIEHR, in: Münchener Kommentar zum
Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 7, 2. Aufl. München 1990, N. 35 zu Art. 19
Anh. EGBGB; HINDERLING/STECK, Das schweizerische Ehescheidungsrecht,
4. Aufl. Zürich 1995, S. 607 Fn. 18; BÖHMER, in: Das gesamte Familienrecht,
Das internationale Recht, Band 2, 7.5, N. 14 zu Art. 1 MSA; OBERLOSKAMP,
Haager Minderjährigenschutzabkommen, Köln 1983, N. 134 zu Art. 1 MSA). Die
Vorschrift des Art. 5 MSA beruht nämlich auf dem Grundsatz, dass mit dem
Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes die Zuständigkeit der Behörden am
bisherigen Aufenthaltsort erlischt (Kropholler, in: J. von Staudingers
Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen
Gesetzbuch, 13. Aufl. Berlin 1994, N. 147a der Vorbemerkungen zu Art. 19
EGBGB). Bezeichnenderweise knüpft denn auch die in den Art. 10 und 11 MSA
verankerte Pflicht zur Verständigung unter den Vertragsstaaten an den Fall
bereits getroffener Massnahmen an. Entgegen der Auffassung der Beklagten
bleibt somit bei der elterlichen Gewalt und der Regelung des persönlichen
Verkehrs zwischen Eltern und Kindern für den Grundsatz der "perpetuatio
fori" kein Raum. Eine einheitliche Ordnung, unabhängig davon, ob sich der
neue gewöhnliche Aufenthalt in einem Vertragsstaat befindet oder nicht,
ist ausgeschlossen, zumal nach der rechtsstaatlichen Ordnung im ersten
Fall das Abkommen anwendbar, im zweiten Fall hingegen nicht anwendbar ist
(Art. 13 Abs. 1 MSA).