Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 374



123 III 374

58. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Juni 1997 i.S. X.
Financial Services GmbH gegen W. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Lugano-Übereinkommen (Lugü): Überprüfung der Zuständigkeit des
urteilenden Gerichts durch das Gericht des Vollstreckungsstaats.
Verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2 LugÜ.

    Wird eine Klage vor Inkrafttreten des Lugano-Übereinkommens zwischen
Erkenntnis- und Vollstreckungsstaat angehoben, ergeht der Entscheid aber
erst nachher, so sind die Behörden des Vollstreckungsstaats abweichend
vom Grundsatz von Art. 28 Abs. 4 LugÜ zu einer umfassenden Kontrolle
der Zuständigkeit befugt (Art. 54 Abs. 2 LugÜ; E. 2). Einem Urteil,
das weder Tatsachenfeststellungen noch eine Urteilsbegründung enthält,
ist in einem solchen Fall die Vollstreckbarkeit zu versagen (E. 4).

    Der Mahnbescheid gemäss §§ 688 ff. der deutschen Zivilprozessordnung
stellt, wenn der Antragsgegner dagegen Widerspruch erhoben hat, nicht das
verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2 LugÜ für
das nachfolgende streitige Verfahren dar (E. 3).

Sachverhalt

    Die in T. (Deutschland) ansässige X. Leasing GmbH macht gegen W. aus
einem Leasingvertrag über ein Fahrzeug der Marke "P." Ansprüche in der Höhe
von insgesamt DM 116'766.73 geltend. Da ihre Forderung nicht erfüllt wurde,
beantragte sie beim Amtsgericht Stuttgart den Erlass eines Mahnbescheids,
der W. am 31. März 1994 in G. (Deutschland), wo er zu jenem Zeitpunkt
Wohnsitz hatte, persönlich zugestellt wurde. W. erhob dagegen am 7.
April 1994 vollumfänglich Widerspruch. Auf Antrag der X. Leasing GmbH
und nach Eingang des Prozesskostenvorschusses am 18. April 1994 beim
Amtsgericht Stuttgart wurden die Akten zur Durchführung des streitigen
Verfahrens ans örtlich zuständige Landgericht München I überwiesen.

    Am 15. Juni 1994 reichte die X. Leasing GmbH beim Landgericht München
I die Anspruchsbegründung ein, worauf die Parteien mit Verfügung vom
22. Juni 1994 zu einem frühen ersten Termin mit mündlicher Verhandlung
am 26. September 1994 vorgeladen und dem Beklagten eine zweiwöchige Frist
zur schriftlichen Klageerwiderung eingeräumt wurde. Die Vorladung konnte
W. in G. allerdings nicht zugestellt werden. Seine Ehefrau nahm gemäss
Postzustellungsurkunde vom 30. Juni 1994 die Verfügung entgegen, sandte
sie jedoch mit dem Vermerk, W. sei seit Anfang Juni 1994 nicht mehr in
Deutschland wohnhaft, wieder zurück.

    Am 30. August 1994 teilte die X. Leasing GmbH dem Landgericht München
I mit, der Beklagte habe seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt. Gestützt
auf Art. XIX Ziff. 2 der Allgemeinen Leasingbedingungen, welche bei
Verlegung des Wohnsitzes oder Aufenthaltsortes des Leasingnehmers aus dem
Inland den Gerichtsstand am Sitz der Leasinggeberin vorsehen, beantragte
sie die Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Stuttgart. Nach
einer mündlichen Verhandlung gab das Landgericht München I dem Antrag
mit Beschluss vom 26. September 1994 statt. Das Landgericht Stuttgart
setzte der X. Leasing GmbH mit Verfügung vom 11. November 1994 Frist,
um die Wirksamkeit der Zustellung der Vorladung des Landgerichts München
I vom 22. Juni 1994 nachzuweisen und die Adresse anzugeben, unter welcher
W. geladen werden konnte. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1994 teilte die
X. Leasing GmbH dem Gericht mit, dass W. nach Angaben der Gemeinde G. am
1. Juni 1994 nach Zürich verzogen sei. Laut Auskunft der Einwohnergemeinde
Zürich vom 11. August 1994 sei W. jedoch schon am 1. Oktober 1977 nach
Z. verzogen, wo er indes unbekannt sei. Die X. Leasing GmbH beantragte
deshalb die öffentliche Zustellung der Anspruchsbegründung. Mit Verfügung
vom 14. Dezember 1994 teilte das Landgericht Stuttgart der X. Leasing GmbH
mit, die Kammer erachte den Nachweis, dass der Aufenthalt von W. im Sinne
von § 203 der deutschen Zivilprozessordnung vom 30. Januar 1877 (DZPO)
unbekannt sei, noch nicht als erbracht. Die X. Leasing GmbH wurde deshalb
aufgefordert, weitere Abklärungen über den Aufenthaltsort des Beklagten
anzustellen. Nachfragen bei der Einwohnergemeinde G. und bei der Ehefrau
von W. blieben jedoch ohne Ergebnis. Mit Schreiben vom 29. Dezember
1994 versuchte schliesslich auch das Landgericht Stuttgart erfolglos,
Frau W. an der letztbekannten Adresse in G. zu erreichen und von ihr den
Aufenthaltsort ihres Ehemannes in Erfahrung zu bringen, da sie inzwischen
unbekannt verzogen war, so dass schliesslich mit Beschluss vom 23. Februar
1995 die öffentliche Zustellung der Anspruchsbegründung der X. Leasing GmbH
und der Verfügungen des Gerichts bewilligt wurde und im März 1995 erfolgte.

    Am 13. Juni 1995 verpflichtete das Landgericht Stuttgart W. durch
Säumnisurteil, der inzwischen in X. Financial Services GmbH umbenannten
Klägerin DM 116'766.73 nebst 4% Zinsen über dem Bankdiskontsatz seit
dem 4. März 1994 zu zahlen. Das Urteil wurde dem Beklagten am 7. August
1995 öffentlich zugestellt. Im Frühjahr 1996 erfuhr die X. Financial
Services GmbH von der Einwohner- und Fremdenkontrolle der Stadt Zürich,
dass sich W. bereits am 1. Oktober 1994 in Zürich unter der Adresse
Y. angemeldet hatte.

    Mit Verfügung vom 23. April 1996 erklärte der Einzelrichter im
summarischen Verfahren des Bezirkes Zürich das Säumnisurteil des
Landgerichts Stuttgart vom 13. Juni 1995 auf Antrag der X. Financial
Services GmbH für vollstreckbar. Der von W. gegen diesen Entscheid
erhobene Rekurs wurde vom Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss
vom 17. Oktober 1996 gutgeheissen und das Gesuch um Vollstreckbarerklärung
abgewiesen.

    Die von der X. Financial Services GmbH dagegen erhobene
staatsrechtliche Beschwerde weist das Bundesgericht ab

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche
Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil-
und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen [LugÜ]; SR 0.275.11) enthält
den Grundsatz der Nichtrückwirkung (Art. 54 Abs. 1 LugÜ; vgl. BGE 119
II 391 E. 2 S. 393). Allerdings sieht Art. 54 Abs. 2 LugÜ eine Ausnahme
von diesem Grundsatz vor, wenn die Klage zwar noch vor Inkrafttreten des
Übereinkommens zwischen dem Ursprungsstaat und dem ersuchten Staat erhoben,
die Entscheidung aber erst danach ergangen ist. Als "ergangen" gilt ein
Entscheid, wenn er gemäss den Bestimmungen des Urteilsstaats nach aussen
wirksam geworden ist (vgl. Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht,
5. Aufl., Heidelberg 1996, N. 7 zu Art. 54 EuGVÜ/LugÜ). Im vorliegenden
Verfahren ist zwar umstritten, worin das verfahrenseinleitende
Schriftstück zu erblicken und welches demnach der massgebliche Zeitpunkt
der Klageerhebung ist. Die Parteien sind sich aber darin einig, dass das
Verfahren jedenfalls vor Inkrafttreten des Lugano-Übereinkommens in der
Schweiz (1. Januar 1992; SR 0.275.11) und der Bundesrepublik Deutschland
(1. März 1995; KROPHOLLER, aaO, N. 47 der Einleitung) angehoben worden
ist. Unstreitig ist ferner, dass das Säumnisurteil des Landgerichts
Stuttgart am 7. August 1995 und damit zu einem Zeitpunkt öffentlich
zugestellt worden ist, in dem das Übereinkommen sowohl im Erkenntnis-
als auch im Vollstreckungsstaat in Kraft war. Das Lugano-Übereinkommen
findet somit gemäss Art. 54 Abs. 2 LugÜ auf den vorliegenden Sachverhalt
Anwendung.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 28 Abs. 4 LugÜ ist es dem Vollstreckungsrichter
grundsätzlich untersagt, die Zuständigkeit der Gerichte des Ursprungsstaats
nachzuprüfen, weil die Mitgliedstaaten des Übereinkommens wechselseitig
davon ausgehen, dass das Gericht des Urteilsstaates nicht nur eine sachlich
richtige Entscheidung gefällt, sondern auch die Zuständigkeitsregeln
des Abkommens richtig angewendet hat (KROPHOLLER, aaO, N. 2 zu Art. 28
EuGVÜ/LugÜ; YVES DONZALLAZ, La Convention de Lugano, Vol. II, Bern 1997, §
3133). Ausnahmen vom Überprüfungsverbot der internationalen Zuständigkeit
ergeben sich insbesondere aus Art. 28 Abs. 1 und 2 LugÜ, ferner für
die Schweiz aus dem Vorbehalt in Art. Ia des Protokolls Nr. 1 zum
Lugano-Übereinkommen. Liegt - wie im vorliegenden Fall - übergangsrechtlich
ein Fall von Art. 54 Abs. 2 LugÜ vor, können Entscheidungen nach den
Bestimmungen des Übereinkommens (Art. 31 ff. LugÜ) vollstreckt werden,
wenn das Gericht des Ursprungsstaats aufgrund von Vorschriften zuständig
war, die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Titels II oder eines
Abkommens übereinstimmen, das im Zeitpunkt der Klageerhebung zwischen dem
Ursprungsstaat und dem Staat, in dem die Entscheidung geltend gemacht
wird, in Kraft war. Art. 54 Abs. 2 LugÜ gestattet den Behörden des
Vollstreckungsstaates in diesen Fällen demnach abweichend vom Grundsatz von
Art. 28 Abs. 4 LugÜ eine umfassende Zuständigkeitskontrolle (PAUL VOLKEN,
Rechtsprechung zum Lugano-Übereinkommen, SZIER 1994, S. 417; GERHARD
WALTER, Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, Bern 1995, S. 380).

    b) Die Beschwerdeführerin sieht im Umstand, dass das Obergericht
Fragen der ordnungsgemässen Zustellung nicht nur nach den Bestimmungen des
Lugano-Übereinkommens, sondern auch nach dem Abkommen vom 2. November 1929
zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und dem Deutschen Reich
über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen
Entscheidungen und Schiedssprüchen (VA; SR 0.276.191.361) geprüft
hat, eine Verletzung von Art. 54 Abs. 2 LugÜ. Da das Obergericht die
ordnungsgemässe und rechtzeitige Zustellung des verfahrenseinleitenden
Schriftstücks aber bereits nach den Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens
verneint hat, ist die Beschwerdeführerin durch eine zusätzliche Prüfung
nach dem schweizerisch-deutschen Vollstreckungsabkommen nicht beschwert
(Art. 88 OG). Auf die entsprechende Rüge ist deshalb nicht einzutreten.

    Der Beschwerdegegner seinerseits bestreitet die Vollstreckbarkeit des
Urteils des Landgerichts Stuttgart schon deshalb, weil die Zuständigkeit
der deutschen Gerichte nicht gegeben sei. Er macht geltend, einerseits
seien die Formerfordernisse gemäss Art. 17 LugÜ für eine gültige
Gerichtsstandsvereinbarung nicht erfüllt, anderseits handle es sich
vorliegend um eine Verbraucherstreitigkeit im Sinne von Art. 13 LugÜ, für
die Art. 14 Abs. 2 LugÜ den Gerichtsstand am Wohnsitz des Verbrauchers
vorsehe. Das Domizil des Beschwerdegegners habe sich aber im massgeblichen
Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage nicht mehr in Deutschland,
sondern in der Schweiz befunden.

    Dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 13. Juni 1995 sind weder
Ausführungen zum Sachverhalt noch die Urteilsmotive zu entnehmen, offenbar
weil es sich um ein Versäumnisurteil handelt, das gemäss § 313b Abs. I
DZPO des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe nicht bedarf. Es ist
jedenfalls nicht ersichtlich, aus welchen Gründen und gestützt auf welchen
Sachverhalt das Landgericht Stuttgart seine örtliche Zuständigkeit bejaht
hat. Unter den Parteien ist aber unstreitig, dass dem Beschwerdegegner
der Mahnbescheid persönlich zugestellt werden konnte und dass er zu
diesem Zeitpunkt noch Wohnsitz in Deutschland gehabt hatte. Es ist
deshalb zunächst zu prüfen, ob der Mahnbescheid das verfahrenseinleitende
Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2 LugÜ darstellt, da in diesem
Fall auch die Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben ist.

Erwägung 3

    3.-  Gemäss Art. 27 Ziff. 2 LugÜ wird eine Entscheidung nicht
anerkannt, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen
hat, das dieses Verfahren einleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges
Schriftstück nicht ordnungsgemäss und nicht so rechtzeitig zugestellt
worden ist, dass er sich verteidigen konnte.

    a) Während der Einzelrichter dem Mahnbescheid die Eigenschaft eines
verfahrenseinleitenden Schriftstücks zuerkannte, hielt das Obergericht
dafür, diese Voraussetzung sei nur dann erfüllt, wenn der Antragsgegner
nicht Widerspruch erhoben habe und auf Begehren des Antragstellers ein
Vollstreckungsbescheid ergehe, der einem für vorläufig vollstreckbar
erklärten Versäumnisurteil gleichstehe. Erhebe der Antragsgegner
hingegen Widerspruch, sei nach deutschem Zivilprozessrecht die
Überleitung des Rechtsstreits in ein streitiges Verfahren von einem
weiteren Antrag einer der beiden Parteien abhängig. Mahnverfahren und
streitiges Verfahren bildeten somit keine Verfahrenseinheit, weshalb
der Mahnbescheid grundsätzlich nicht zugleich verfahrenseinleitendes
Schriftstück bezüglich des streitigen Verfahrens sein könne. In Betracht
zu ziehen sei die Verfahrenseinheit allenfalls dann, wenn die Streitsache
"alsbald" nach Erhebung des Widerspruchs an das Gericht abgegeben werde,
da diesfalls gemäss § 696 Abs. III DZPO die Rechtshängigkeit auf den
Zeitpunkt der Zustellung des Mahnbescheids zurückbezogen werde. Das
Obergericht sah jedoch die Voraussetzung der alsbaldigen Abgabe unter
den gegebenen Umständen nicht erfüllt und sprach dem Mahnbescheid die
Eigenschaft als verfahrenseinleitendes Schriftstück deshalb ab.

    Die Beschwerdeführerin sieht darin eine Verletzung von Art. 27
Ziff. 2 LugÜ. Unrichtig sei vorab die Auffassung des Obergerichts, wonach
die Streitsache nach Erhebung des Widerspruchs auf Antrag einer Partei
"ans Gericht" abgegeben werde. Es handle sich vielmehr um die Abgabe des
Verfahrens von einer gerichtlichen Instanz an eine andere. So spreche
der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften in einem Urteil aus dem
Jahre 1981 von einem Überleiten des Verfahrens in ein streitiges. Nicht
massgeblich sei ferner, ob das Verfahren "alsbald" nach Erhebung des
Widerspruchs abgegeben worden, die Rechtshängigkeit nach deutschem
Zivilprozessrecht demnach mit der Zustellung des Mahnbescheids eingetreten
sei. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Rechtshängigkeit eintrete, bleibe
mangels Regelung im Lugano-Übereinkommen den nationalen Verfahrensrechten
überlassen. Ob ein Schriftstück als verfahrenseinleitend zu qualifizieren
sei, beurteile sich dagegen nach europäischem Einheitsrecht. Im
übrigen trete die Rechtshängigkeit bei einer nicht alsbaldigen Abgabe
des Verfahrens mit dem Akteneingang beim Empfangsgericht ein, so dass
wiederum nur der Mahnbescheid das verfahrenseinleitende Schriftstück
darstellen könne.

    b) Das Mahnverfahren des deutschen Zivilprozessrechts (§§
688 ff. DZPO) soll dem Gläubiger einer wahrscheinlich unstreitigen
Geldforderung schnell und einfach ohne mündliche Verhandlung einen
Vollstreckungstitel verschaffen (vgl. BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN,
Zivilprozessordnung, 55. Aufl., München 1997, N. 2 vor § 688
ff. DZPO). Der Gläubiger kann beim Rechtspfleger des Amtsgerichts am
allgemeinen Gerichtsstand des Schuldners den Erlass eines Mahnbescheids
beantragen, ohne die Schlüssigkeit seines Anspruchs darlegen zu müssen
(§ 690 DZPO). Das Amtsgericht nimmt lediglich eine formale Kontrolle vor
und erlässt den Mahnbescheid ohne Prüfung, ob der Anspruch in der Sache
begründet ist. Erhebt der Schuldner nach Erhalt des Mahnbescheids nicht
rechtzeitig Widerspruch, erlässt das Gericht auf Antrag des Gläubigers
einen Vollstreckungsbescheid, der einem für vorläufig vollstreckbar
erklärten Versäumnisurteil gleichsteht (§ 699 f. DZPO). Erhebt der
Schuldner hingegen fristgerecht Widerspruch, gibt das Gericht auf Antrag
einer Partei den Rechtsstreit zur Durchführung eines streitigen Verfahrens
von Amts wegen an das zuständige Gericht ab (§ 696 DZPO). Der Gläubiger
hat nun seinen Anspruch binnen zwei Wochen in einer der Klageschrift
entsprechenden Form zu begründen (§ 697 DZPO).

    Das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne von Art. 27
Ziff. 2 LugÜ (bzw. dem gleichlautenden Art. 27 Ziff. 2 des
Europäischen Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
vom 27. September 1968 [EuGVÜ]) ist die vom Recht des Urteilsstaates
vorgesehene Urkunde, durch deren Zustellung der Beklagte erstmals von
dem der Entscheidung zugrunde liegenden Verfahren Kenntnis erlangt. Es
ist dasjenige Schriftstück, dessen ordnungsgemässe und rechtzeitige
Zustellung den Beklagten in die Lage versetzt, seine Rechte vor
Erlass einer vollstreckbaren Entscheidung im Urteilsstaat geltend
zu machen (Kropholler, N. 24 zu Art. 27 EuGVÜ/LugÜ). Art. 27 Ziff. 2
LugÜ dient mithin dem Schutz des rechtlichen Gehörs des Beklagten. In
der Literatur zu Lugano-Übereinkommen und EuGVÜ wird der Mahnbescheid
des deutschen Zivilprozessrechts verschiedentlich als Beispiel eines
verfahrenseinleitenden Schriftstücks erwähnt (KROPHOLLER, aaO, N. 24 zu
Art. 27 EuGVÜ/LugÜ; SCHLOSSER, EuGVÜ, München 1996, N. 10 zu Art. 27-29
EuGVÜ; VERONIKA PAETZOLD, Vollstreckung deutscher Entscheidungen nach
dem Lugano-Übereinkommen in der Schweiz, S. 26). Auch der Gerichtshof
der europäischen Gemeinschaften hat im Urteil Klomps gegen Michel vom
16. Juni 1981 (EuGHE 1981 Bd. II, S. 1593 ff.) zur Auslegung von Art. 27
Ziff. 2 EuGVÜ/LugÜ festgehalten, unter den Begriff "verfahrenseinleitendes
Schriftstück" falle ein Schriftstück wie der Zahlungsbefehl des deutschen
Rechts (der dem Mahnbescheid des geltenden deutschen Zivilprozessrechts
entspricht), dessen Zustellung es dem Gläubiger nach dem Recht des
Urteilsstaats ermögliche, wenn der Schuldner untätig bleibt, eine
Entscheidung zu erwirken, die nach den Bestimmungen des Übereinkommens
anerkannt und vollstreckt werden kann (EuGHE aaO, S. 1606). Im Urteil
Hengst Import BV gegen Campese vom 13. Juli 1995 (SZIER 1996, S. 145
ff.) qualifizierte der Gerichtshof auch das "decreto ingiuntivo"
des italienischen Zivilprozessrechts, eine dem deutschen Mahnbescheid
vergleichbare Verfügung, als verfahrenseinleitendes Schriftstück im Sinne
von Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ, hob allerdings hervor, dass diese Voraussetzung
erst durch die Verbindung des Mahnbescheids mit der Antragsschrift - die
im Unterschied zum deutschen Recht eine Begründung des Anspruchs und die
Nennung von Beweismitteln enthalten muss - gebildet werde. Bei dem "decreto
ingiuntivo" handle es sich nämlich um ein einfaches Formular, das zusammen
mit der Antragsschrift gelesen werden müsse, um verstanden zu werden. In
der Literatur wurde daraus geschlossen, dass der Mahnbescheid des deutschen
Zivilprozessrechts die vom Gerichtshof gestellten Anforderungen nicht
erfülle und ein gestützt darauf ergangener Vollstrekkungsbescheid in
einem andern Vertragsstaat nicht vollstreckt werden dürfte (WOLFGANG
GRUNSKY, Das verfahrenseinleitende Schriftstück beim Mahnverfahren, IPRax
1996, S. 245 f.). Dasselbe wurde in Bezug auf den Zahlungsbefehl nach
schweizerischem Betreibungsrecht angenommen (PAUL VOLKEN, Rechtsprechung
zum Lugano-Übereinkommen [1995], SZIER 1996 S. 149 f.).

    c) Die vom Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften beurteilten
Fälle unterscheiden sich von dem hier vorliegenden Sachverhalt allerdings
insofern, als dort die Beklagten nach Erhalt des Zahlungsbefehls
jeweils keinen Widerspruch erhoben hatten, so dass es zum Erlass
eines Vollstreckungsbescheids kam, ohne dass ein streitiges Verfahren
durchgeführt worden wäre. Ob in einem solchen Fall, in dem schon das
Mahnverfahren zur Ausstellung eines Vollstreckungsbescheids führt, das
verfahrenseinleitende Schriftstück im Mahnbescheid zu erblicken ist,
kann hier aber offenbleiben. Erhebt nämlich der Schuldner - wie im
vorliegenden Fall - Widerspruch gegen den Mahnbescheid und beantragt
eine Partei die Durchführung des streitigen Verfahrens, so endet das
Mahnverfahren mit dem Akteneingang beim nunmehr zuständigen Gericht
(BAUMBACH/LAUTERBACH/ALBERS/HARTMANN, aaO, N. 8 zu § 696 DZPO). Das
Verfahren tritt damit in ein neues Stadium: Es erfolgt regelmässig ein
Wechsel des zuständigen Gerichts, der Gläubiger hat seinen Anspruch in
einer der Klageschrift entsprechenden Form zu begründen, und bei Eingang
der Anspruchsbegründung ist nun wie im kontradiktorischen Verfahren vor
den Landgerichten bei Einreichung einer Klage zu verfahren (§ 697 Abs. I
und II DZPO).

    Mahnverfahren und streitiges Verfahren stellen demnach zwei grundlegend
verschiedene Verfahrensarten dar. Im Mahnverfahren ist weder der Antrag
auf Erlass des Mahnbescheids noch der Widerspruch zu begründen. Ebenso
einfach wie der Antragsteller das Mahnverfahren in Gang setzen kann,
vermag es der Antragsgegner durch Erhebung des Widerspruchs wieder zum
Stillstand zu bringen. Die Wirkungen des Widerspruchs sind indessen auf
das Mahnverfahren beschränkt. Die Zustellung des Mahnbescheids versetzt
den Beklagten nur in die Lage, seine Rechte innerhalb dieses Verfahrens
wahrzunehmen. Weder weiss er zu jenem Zeitpunkt, ob der Kläger seinen
behaupteten Anspruch überhaupt weiterverfolgen wird, noch auf welche
Grundlage dieser die Forderung stützt. Da der Kläger nach deutschem
Zivilprozessrecht nach Erhebung des Widerspruchs die Überleitung in ein
streitiges Verfahren zu beantragen und seinen Anspruch zu begründen
hat, damit das Verfahren fortgesetzt wird (§§ 696 f. DZPO), ist der
Anspruch des Beklagten auf Wahrung des rechtlichen Gehörs nur dann
hinreichend gewährleistet, wenn er auch von dem Fortsetzungsantrag und
der Anspruchsbegründung des Klägers Kenntnis erhalten hat, so dass er nun
seinerseits in der Lage ist, die Fundiertheit des klägerischen Anspruchs
zu beurteilen und sich mit einer begründeten Eingabe zu verteidigen. Das
Obergericht hat deshalb Art. 27 Ziff. 2 LugÜ nicht verletzt, wenn es
unter den gegebenen Umständen dem Mahnbescheid die Eigenschaft eines das
streitige Verfahren einleitenden Schriftstücks aberkannt hat.

    d) Ob das Verfahren "alsbald" nach Erhebung des Widerspruchs
ans Gericht abgegeben wurde, so dass die Rechtshängigkeit gemäss §
696 Abs. III DZPO auf die Zustellung des Mahnbescheids zurückbezogen
wird, spielt dabei entgegen der Auffassung des Obergerichts keine
Rolle. Das Lugano-Übereinkommen äussert sich zur Frage des Zeitpunkts der
Rechtshängigkeit nicht. Massgebend ist damit das jeweilige nationale Recht
(KROPHOLLER, aaO, N. 12 zu Art. 21 EuGVÜ/LugÜ). Nach den Bestimmungen des
Übereinkommens beurteilt sich hingegen, welches das verfahrenseinleitende
Schriftstück im Sinne von Art. 27 Ziff. 2 LugÜ darstellt. Bereits daraus
folgt, dass der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit dafür nicht entscheidend
sein kann. Zudem bezweckt Art. 27 Ziff. 2 LugÜ den Schutz des rechtlichen
Gehörs des Beklagten. Es soll ihm Gelegenheit gegeben werden, seine Rechte
vor Erlass einer vollstreckbaren Entscheidung im Urteilsstaat geltend zu
machen (vgl. E. 3b hiervor). Ob ein Schriftstück als verfahrenseinleitend
zu qualifizieren ist, ist deshalb allein unter diesem Gesichtspunkt zu
entscheiden und kann nicht davon abhängen, wie lange nach Erhebung des
Widerspruchs das Verfahren ans Gericht abgegeben worden ist.

Erwägung 4

    4.- Fällt der Mahnbescheid als verfahrenseinleitendes Schriftstück
ausser Betracht, kommt hiefür nur eine der folgenden, im Sachverhalt
erwähnten Verfügungen in Frage. Keine von diesen wurde dem Beschwerdegegner
persönlich, sondern alle ersatzweise öffentlich zugestellt, da er nach
den Feststellungen des Obergerichts vor dem ersten Zustellungsversuch,
nämlich bereits am 1. Juni 1994, seinen Wohnsitz in Deutschland aufgegeben
hatte. Somit wäre im Lichte von Art. 27 Ziff. 2 LugÜ zu prüfen, ob es
sich dabei um ordentliche und rechtmässige Zustellungen handelte. Indessen
ist die Vollstreckbarkeit bereits aus einem andern Grunde zu versagen:

    In übergangsrechtlichen Fällen hat nach Art. 54 Abs. 2 LugÜ das
Zweitgericht die Zuständigkeit des Urteilsgerichts umfassend zu prüfen
(vgl. E. 2a hiervor). Es ist dabei allerdings gemäss Art. 28 Abs. 3
LugÜ an die tatsächlichen Feststellungen des Erstgerichts gebunden. War
mit Bezug auf den Mahnbescheid die Zuständigkeit der deutschen Gerichte
im internationalen Verhältnis noch klar gegeben, muss diese Frage für
den nunmehr massgeblichen Zeitraum der Verfahrenseinleitung, dem der
Wegzug des Beschwerdegegners aus Deutschland unstreitig vorangeht, erneut
untersucht werden. Das Versäumnisurteil des Landgerichts Stuttgart enthält
jedoch weder Tatsachenfeststellungen noch eine Urteilsbegründung. Den
Gerichten im Vollstreckungsstaat ist es daher nicht möglich zu überprüfen,
ob der Sachverhalt, wie ihn das Landgericht seinem Urteil zugrundegelegt
hat, die Zuständigkeit der deutschen Gerichte begründet hätte. Ist die
internationale Zuständigkeit aber wie im vorliegenden Fall umstritten
und auch nicht ohne weiteres aus den Akten ersichtlich, ist ein Urteil
ohne Sachverhaltsfeststellungen von vornherein nicht geeignet, nach den
Bestimmungen des Lugano-Übereinkommens vollstreckt zu werden. Der Vorwurf
der Beschwerdeführerin, das Obergericht habe das Übereinkommen verletzt,
indem es dem Urteil des Landgerichts Stuttgart die Vollstreckbarkeit
versagt hat, ist deshalb unbegründet.