Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 241



123 III 241

39. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Mai 1997
i.S. G. gegen X. Rückversicherungsgesellschaft (Berufung) Regeste

    Nachweis eines den Verzugszins übersteigenden Schadens (Art.  104 OR
und 106 OR; Art. 55 Abs. 1 lit. c OG).

    Der vom Sachrichter gestützt auf die allgemeine Lebenserfahrung
gezogene Schluss, eine Versicherung hätte einen bei ihr eingehenden
Geldbetrag zinstragend angelegt, stellt Beweiswürdigung dar, die vom
Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht überprüft werden kann (E. 3).

    Der Verspätungsschaden nach Art. 106 OR ist nur soweit zusätzlich zu
den gesetzlich geschuldeten Verzugszinsen gemäss Art. 104 OR zu ersetzen,
als er diese übersteigt (E. 4).

Sachverhalt

    Die Personalvorsorgestiftung der Arbeitgeberin von G.  gewährte dessen
Ehefrau ein Darlehen in der Höhe von Fr. 1'000'000.--, das durch die
Übergabe eines Inhaberschuldbriefes gesichert war. Als G. am 1. August
1990 zur X. Rückversicherungsgesellschaft wechselte, übernahm diese das
Darlehen per 2. August 1990 zu einem Zinssatz von 5,25% (ab 1. Januar 1991)
und mit G. als alleinigem Darlehensnehmer.

    G. kündigte das Arbeitsverhältnis auf Ende Februar 1991, worauf die X.
Rückversicherungsgesellschaft ihm mitteilte, dass das Darlehen nach seinem
Austritt zur Rückzahlung fällig werde. G. zahlte nicht zurück.

    Am 7. Februar 1992 klagte die X. Rückversicherungsgesellschaft beim
Bezirksgericht Horgen auf Bezahlung von Fr. 1'000'000.-- nebst Zins zu
7,75% seit 1. Januar 1992 sowie von Fr. 8'333.35 nebst Zins zu 5,25%
seit 1. Januar 1992, gegen Rückgabe des Inhaberschuldbriefes an die
berechtigte Person nach vollständiger Tilgung von Kapital und Zinsen.

    Mit Urteil vom 26. August 1992 hiess das Bezirksgericht die Klage im
wesentlichen gut. Das Obergericht des Kantons Zürich hob auf Berufung
des Beklagten das Urteil auf und wies den Prozess zur Ergänzung des
Beweisverfahrens an die Vorinstanz zurück. Gegen das zweite, die Klage
wiederum im wesentlichen gutheissende Urteil des Bezirksgerichts erhob der
Beklagte erneut Berufung. Mit Urteil vom 29. August 1995 verpflichtete
das Obergericht des Kantons Zürich den Beklagten zur Bezahlung von
Fr. 1'000'000.-- nebst Zins zu 7,75% vom 1. März 1991 bis 30. Juni 1993
und zu 5,25% ab 1. Juli 1993, abzüglich geleisteter Zinszahlungen;
im Mehrbetrag wurde die Zinsforderung abgewiesen. Die Klägerin wurde
verpflichtet, den sich in ihrem Besitz befindlichen Inhaberschuldbrief
nach vollständiger Tilgung von Kapital und Zinsen der berechtigten Person
herauszugeben.

    Die vom Beklagten dagegen erhobene Berufung heisst das Bundesgericht
teilweise gut und weist die Streitsache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Eine Bundesrechtsverletzung erblickt der Kläger ferner darin,
dass die Vorinstanzen den Verzugsschaden der Klägerin abstrakt berechnet
hätten. Im Rückblick könne immer eine Anlageform gefunden werden, die eine
bestimmte Rendite erzielt hätte. Die Klägerin habe aber nicht nachgewiesen,
dass sie ausgerechnet eine solche Anlage gewählt hätte. Insofern habe
sie ihren Schaden ungenügend substanziert.

    a) Die Frage nach Entstehung und Ausmass eines Schadens ist
tatsächlicher Natur und der Überprüfung durch das Bundesgericht im
Berufungsverfahren grundsätzlich entzogen (Art. 63 Abs. 2 OG; BGE 107 II
222 E. II/2 S. 224 f.). Eine Frage der Rechtsanwendung ist hingegen,
ob die Vorinstanz auf zulässige Berechnungsgrundsätze abgestellt hat,
wozu auch die Anwendung der konkreten oder abstrakten Schadensberechnung
zählt (MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen,
Zürich 1992, S. 135; BGE 107 II 222 E. II/2 S. 225; 104 II 198).

    Macht der Gläubiger einen den Verzugszins übersteigenden Schaden
geltend, trägt er hierfür die Beweislast (Art. 106 OR in Verbindung
mit Art. 8 ZGB; BGE 117 II 256 E. 2b S. 258). In der Regel ist dafür
ein konkreter Schadensnachweis erforderlich. So hat ein Gläubiger,
wenn er geltend macht, durch die verspätete Leistung des Schuldners
Währungsverluste erlitten zu haben, den Beweis zu erbringen, dass er den
fraglichen Betrag bei rechtzeitiger Erfüllung umgehend in eine andere
Währung umgewandelt hätte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts
ist in solchen Fällen indes nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge zu vermuten, dass der Gläubiger das Geld in
die gesetzliche Währung seines Wohn- oder Geschäftssitzes konvertiert
hätte (BGE 117 II 256 E. 2b S. 258; 109 II 436 E. 2 S. 440 ff.). Die
Schadensberechnung wird durch eine solche natürliche Vermutung nicht
zu einer abstrakten, noch wird dadurch die Beweislast umgekehrt. Dem
Gläubiger wird gestützt auf Erfahrungssätze lediglich der Schadensnachweis
erleichtert. Daraus gezogene Schlüsse stellen deshalb grundsätzlich nicht
Anwendung von Bundesrecht dar, sondern sind Teil der Beweiswürdigung und
insoweit nicht mit Berufung anfechtbar. Nur wo sich das kantonale Gericht
auf Erfahrungssätze stützt, die über den konkreten Sachverhalt hinaus
Bedeutung haben und damit gleichsam die Funktion von Normen übernehmen,
überprüft das Bundesgericht solche Schlüsse im Berufungsverfahren frei
(BGE 117 II 256 E. 2b S. 258 mit Hinweisen).

    b) Das Bezirksgericht holte zu der Frage, welche Rendite bei einer
Geldanlage mit vergleichbarem Risiko hätte erzielt werden können,
ein Gutachten ein. Gestützt darauf erachtete das erstinstanzliche
Gericht den Beweis für einen den Verzugszins übersteigenden Schaden
für erbracht und hielt fest, in Fällen der vorliegenden Art sei keine
andere Schadensermittlung praktikabel, weil in Grossbetrieben wie der
Klägerin nicht konkret ermittelt werden könne, wie ein entsprechender
Betrag hypothetisch angelegt worden wäre. Diese Auffassung hat die
Vorinstanz übernommen. Die kantonalen Gerichte gingen davon aus, dass
eine Versicherungsgesellschaft wie die Klägerin Beträge im allgemeinen
zinsbringend anlegt.

    Eine solche typisierende Betrachtungsweise wird in der Literatur
namentlich dort befürwortet, wo es sich beim Gläubiger um eine Bank
oder ein anderes Finanzinstitut handelt (ROLF H. WEBER, Gedanken zur
Verzugsschadensregelung bei Geldschulden, in: FS Max Keller, Zürich 1989,
S. 332 ff.; zum deutschen Recht vgl. STAUDINGER/LÖWISCH, Kommentar
zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Aufl., Berlin 1995, N. 25 ff. zu §
288 BGB). Auch bei Versicherungen wie der Klägerin kann im allgemeinen
davon ausgegangen werden, dass eingehende Geldbeträge, die nicht für den
laufenden Geschäftsbetrieb erforderlich sind, nicht nutzlos verwahrt,
sondern gewinnbringend angelegt werden (vgl. WEBER, aaO, S. 333 f.;
STAUDINGER/LÖWISCH, aaO, N. 29 zu § 288 BGB). Die kantonalen Gerichte
folgerten gestützt auf diesen Erfahrungssatz und nach den Gesamtumständen
des konkreten Falles, dass ein entsprechender Schaden der Klägerin
hinreichend nachgewiesen sei. Dieser Schluss beruht auf der Beweiswürdigung
der Vorinstanzen, die im Rahmen des Berufungsverfahrens von hier nicht
gegebenen Ausnahmen abgesehen nicht überprüfbar ist (Art. 55 Abs. 1
lit. c OG). Dem Beklagten wäre es im übrigen im kantonalen Verfahren
unbenommen geblieben, den Gegenbeweis anzutreten und darzulegen, dass
der Erfahrungsschluss aufgrund atypischer Umstände nicht berechtigt sei.

Erwägung 4

    4.- a) Nach den Ergebnissen des vom Bezirksgericht eingeholten
Gutachtens konnte ohne professionelles Portfoliomanagement in der Zeit vom
1. März 1991 bis 30. Juni 1993 die von der Klägerin behauptete Rendite
von 7,75% erreicht bzw. sogar übertroffen werden. Nach diesem Zeitpunkt
wäre allerdings nur noch eine Rendite von 2% erzielbar gewesen. Im
Beweisverfahren vor dem Bezirksgericht hat die Klägerin deshalb ihre
Zinsforderung für die Zeit ab 1. Juli 1993 auf den vertraglich vereinbarten
Zinssatz von 5,25% reduziert, wovon das Obergericht mit Beschluss Vormerk
genommen hat. Der Beklagte wurde schliesslich verpflichtet, neben der
Kapitalrückzahlung Zins zu 7,75% für die Zeit vom 1. März 1991 bis 30. Juni
1993 und zu 5,25% seit 1. Juli 1993 zu bezahlen.

    Der Beklagte rügt diese Berechnung des Verzugsschadens als
bundesrechtswidrig. Er macht geltend, richtigerweise hätte die Vorinstanz
den gesamten, von der Klägerin bis zum Urteilszeitpunkt erlittenen
Verzugsschaden feststellen und davon die vertraglich vereinbarten, ohne
Schadensnachweis geschuldeten Verzugszinse gemäss Art. 104 Abs. 2 OR in
Abzug bringen müssen.

    b) Der gesetzlichen Verzugsregelung bei Geldschulden gemäss Art. 104
ff. OR liegt der Gedanke zugrunde, dass einerseits dem Gläubiger ein
Schaden entsteht, wenn er den Betrag nicht zins- oder gewinnbringend
nutzen kann, und anderseits der säumige Schuldner den Vorteil hat,
über die fragliche Summe verfügen zu können bzw. Kreditkosten zu sparen
(BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl.,
Zürich 1988, S. 361 f.; FRANZ SCHENKER, Die Voraussetzungen und die Folgen
des Schuldnerverzugs im schweizerischen Obligationenrecht, Diss. Fribourg
1987, S. 128 f.). Art. 104 Abs. 1 OR ermöglicht deshalb dem Gläubiger, ohne
Nachweis eines Schadens und unabhängig von einem allfälligen Verschulden
des Schuldners Verzugszinse von 5% zu fordern; gemäss Absatz 2 und 3 dieser
Norm werden entsprechend höhere Verzugszinse geschuldet, wenn der zwischen
den Parteien vereinbarte Zins oder der übliche Bankdiskonto am Zahlungsort
5% übersteigt. Bestand und Höhe des Gläubigerschadens werden in diesem
Umfang fingiert; es ist unerheblich, ob der Gläubiger den ausstehenden
Betrag tatsächlich genutzt oder der Schuldner seinerseits während des
Verzugs Nutzen daraus gezogen hätte (SCHENKER, aaO, S. 130). Übersteigt
der vom Gläubiger erlittene Verspätungsschaden dagegen die Höhe der
gesetzlich geschuldeten Verzugszinse, ist der Schuldner gemäss Art.
106 OR zum Ersatz auch dieses Schadens verpflichtet, sofern er nicht
beweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle.

    Das Bezirksgericht, auf dessen Erwägungen die Vorinstanz im
angefochtenen Urteil verweist, hat der Klägerin gestützt auf die Ergebnisse
des eingeholten Gutachtens für die Zeit vom 1. März 1991 bis 30. Juni 1993
Zins zu 7,75% und ab 1. Juli 1993 zu 5,25% zugesprochen. Es hielt fest,
die Klägerin sei aufgrund von Art. 104 Abs. 2 OR jedenfalls berechtigt,
während des Verzugs den zuletzt vereinbarten Zins von 5,25% zu fordern. Es
sei deshalb ohne Belang, wenn das Gutachten ergeben habe, dass nach
dem 30. Juni 1993 auf unter vergleichbaren Risiken investiertem Kapital
nurmehr eine Rendite von weniger als 5,25% hätte erzielt werden können.

    Diese Auffassung ist offensichtlich bundesrechtswidrig und
verletzt Art. 106 OR. Der Verspätungsschaden des Gläubigers entspricht
dem positiven Interesse und besteht in der Differenz zwischen dem
gegenwärtigen Stand seines Vermögens und dem Bestand, den sein Vermögen
hätte, wenn der Schuldner rechtzeitig erfüllt hätte (vgl. VON TUHR/PETER,
Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, 3. Aufl.,
Zürich 1979, S. 84 und 86; BUCHER, aaO, S. 341 f.). Die gesetzlich
geschuldeten Verzugszinse gemäss Art. 104 OR müssen darauf angerechnet
werden (SCHENKER, aaO, S. 148). Der Verspätungsschaden nach Art. 106
OR tritt nicht kumulativ hinzu, sondern wird nur dann geschuldet,
wenn er die Verzugszinse übersteigt. Die von den kantonalen Gerichten
vorgenommene Schadensberechnung vermengt jedoch in unzulässiger Weise
ein Vorgehen nach Art. 106 OR mit der Verzugszinsregelung von Art. 104
OR. Wohl hätte die Klägerin nach den Feststellungen des Gutachtens vom
1. März 1991 bis zum 30. Juni 1993 eine über dem vertraglich vereinbarten
Zinssatz von 5,25% liegende Rendite erzielen können, wenn der Beklagte
seiner Zahlungspflicht rechtzeitig nachgekommen wäre. Ebenso wäre aber
die Rendite nach diesem Zeitpunkt unter 5,25% gefallen, wodurch der
Gewinn gesamthaft entsprechend geschmälert worden wäre. Es geht aber
nicht an, einzelne Verzugsperioden herauszugreifen und dafür eine höhere
erzielbare Rendite zugrundezulegen, in anderen - ungünstigeren - Perioden
dagegen auf die gesetzlich geschuldeten Verzugszinsen gemäss Art. 104 OR
abzustellen. Nur wenn und soweit der über die gesamte Dauer des Verzugs
bis zum Urteilszeitpunkt erlittene Verspätungsschaden mehr ausmacht als
der für diese Periode insgesamt geschuldete Verzugszins, ist der Schuldner
zu dessen Ersatz verpflichtet, sofern er sich nicht exkulpieren kann.