Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 200



123 III 200

34. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. November 1996
i.S. K. gegen S. (Berufung) Regeste

    Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR und Art. 25 Abs. 1 OR; Grundlagenirrtum;
Geltendmachung gegen Treu und Glauben.

    Die Anfechtbarkeit darf nicht im Sinne einer Abwägung der im Zeitpunkt
der Berufung auf den Irrtum bestehenden Vertragsinteressen der Parteien
davon abhängig gemacht werden, ob die einseitige Unverbindlichkeit des
Vertrages als unverhältnismässige Rechtsfolge erscheint. Die Geltendmachung
des Irrtums verstösst vielmehr nur dann gegen Treu und Glauben, wenn es
sich um unnütze Rechtsausübung handelt oder ein krasses Missverhältnis
der Interessen besteht.

Sachverhalt

    A.- K., der den Architektenberuf ausübt, erfuhr anfangs März 1990,
dass S. seinen Landwirtschaftsbetrieb aussiedeln und deshalb die bisherige
Hofliegenschaft verkaufen wolle. Mit Schreiben vom 16. März 1990 teilte er
S. mit, dass er für die Hofliegenschaft Fr. 1'200'000.-- offeriere und sich
für die Architekturarbeiten im Zusammenhang mit dem Aussiedlungsprojekt
interessiere. Ende März 1990 wurde sodann vereinbart, dass K. neben der
Hofliegenschaft von S. auch Landwirtschaftsland und Wald kaufen könne.

    Nachdem K. eine Offerte für das Landwirtschaftsland und den Wald
unterbreitet hatte, beauftragte S. die Amtsschreiberei am 8. Mai 1990,
einen Vertrag über den Verkauf dieser Grundstücke zu einem Preis
von Fr. 251'798.- aufzusetzen. Am 11. Juni 1990 wurde der öffentlich
beurkundete Kaufvertrag, der einer behördlichen Genehmigung bedurfte,
von den Parteien unterzeichnet. Am 13. September 1990 erteilte das
Landwirtschafts-Departement seine Zustimmung, worauf der Eigentumsübergang
im Grundbuch eingetragen wurde. Die Bezahlung des Kaufpreises sollte
später erfolgen.

    Hinsichtlich des Kaufs der Hofliegenschaft hatten die Parteien
am 4. Juli 1990 einen schriftlichen Vorvertrag geschlossen, worauf
K. die Amtsschreiberei mit der Ausarbeitung des entsprechenden
Kaufvertrags beauftragt hatte. Dieser sollte am 21. September 1990
von den Parteien unterzeichnet werden. Dazu kam es aber nicht, weil
das Landwirtschafts-Departement gestützt auf das Bundesgesetz über die
Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes Einsprache gegen den Verkauf
der Hofliegenschaft erhob. Als Grund wurde angegeben, es handle sich um
das Betriebszentrum des landwirtschaftlichen Betriebes; sobald ein neues
Zentrum erbaut worden sei, entfalle dieser Einsprachegrund.

    Darauf beschlossen die Parteien, einen verbindlichen Vorvertrag über
den Kauf der Hofliegenschaft einzugehen, der mit einer Konventionalstrafe
abgesichert werden und die Bestimmung enthalten sollte, dass S. im
Fall des Vertragsrücktritts die mit dem Kaufvertrag vom 11. Juni 1990
übertragenen Parzellen zum gleichen Preis zurückzunehmen habe. Gegen diesen
Vertragsentwurf erhob die Bank, welche das Aussiedlungsprojekt finanzieren
sollte, verschiedene Einwände mit Änderungsvorschlägen. Die Vorschläge
wurden von den Parteien am 12. November 1990 besprochen. Bei dieser
Besprechung wurde K., der als Architekt Projektierungsarbeiten ausgeführt
hatte, zudem eröffnet, dass er nicht mehr als Architekt zugezogen werde.

    Am 5. Dezember 1990 teilte K. schriftlich mit, er werde den Vorvertrag
nicht unterzeichnen, und forderte S. auf, die mit dem Vertrag vom 11. Juni
1990 übertragenen Parzellen zurückzunehmen. Dieser kam der Aufforderung
nicht nach.

    B.- Im Januar 1991 leitete S. gegen K. Betreibung auf Zahlung
des gemäss Vertrag vom 11. Juni 1990 geschuldeten Kaufpreises nebst
Zins ein. Nachdem der Gerichtspräsident von Dorneck-Thierstein am
4. Februar 1991 den Rechtsvorschlag K.s beseitigt hatte, erhob dieser
Aberkennungsklage gegen S. Mit Urteil vom 20. November 1992 hiess das
Amtsgericht von Dorneck-Thierstein die Aberkennungsklage gut und erklärte
die Forderung des Beklagten auf Zahlung von Fr. 251'797.50 nebst 5%
Zins seit 20. September 1990 für unbegründet.

    Der Beklagte appellierte an das Obergericht des Kantons Solothurn,
das mit Urteil vom 18. Oktober 1994/30. April 1996 die Aberkennungsklage
für den Betrag von Fr. 231'797.50 nebst 5% Zins seit 20. September 1990
abwies und für diesen Betrag definitive Rechtsöffnung erteilte. Das
Obergericht kam im Gegensatz zur ersten Instanz zum Ergebnis, dass der
Kaufvertrag vom 11. Juni 1990 für beide Parteien trotz Berufung des Klägers
auf Grundlagenirrtum verbindlich und der Kaufpreis deshalb geschuldet sei.

    Der Kläger hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung angefochten,
die vom Bundesgericht abgewiesen wird, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Ein Vertrag ist für jene Partei unverbindlich, die sich beim
Abschluss in einem wesentlichen Irrtum befunden hat (Art. 23 OR). Als
wesentlich gilt ein Irrtum namentlich, wenn er einen bestimmten Sachverhalt
betrifft, der vom Irrenden nach Treu und Glauben im Geschäftsverkehr
als eine notwendige Grundlage des Vertrages betrachtet werden konnte
(Art. 24 Abs. 1 Ziff. 4 OR: Grundlagenirrtum). Als Rechtsfolge des
Irrtums sieht das Gesetz die einseitige Unverbindlichkeit vor (vgl. dazu
SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 105 ff. zu Art. 23/24 OR). Art. 25 OR
schränkt die Möglichkeit einer Partei, sich auf den Irrtum zu berufen,
insofern ein, als sie als unstatthaft bezeichnet wird, wenn sie Treu und
Glauben widerspricht (Abs. 1). Der Tatbestand wird sodann in Absatz 2
dahin konkretisiert, dass der Irrende den Vertrag so gelten lassen muss,
wie er ihn verstanden hat, wenn sich die Gegenpartei dazu bereit erklärt.
Schliesslich lässt Art. 26 OR den Irrenden für den durch den Wegfall des
Vertrages entstandenen Schaden haften, wenn er den Irrtum seiner eigenen
Fahrlässigkeit zuzuschreiben hat.

    a) Aus Art. 25 Abs. 1 OR leitet ein Teil der Lehre ab, dass
im Zeitpunkt der Berufung auf den Irrtum eine Interessenabwägung
stattzufinden habe. Es seien die Vertragsinteressen beider Vertragspartner
nach Treu und Glauben abzuwägen (SCHMIDLIN, aaO, N. 7 zu Art. 25 OR mit
Zitat). Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Das Gesetz sieht als
Rechtsfolge der Irrtumsanfechtung die Unverbindlichkeit des Vertrages mit
allen Unannehmlichkeiten vor, die sich daraus für die Parteien ergeben
können. Diese Nachteile werden für die Gegenpartei dadurch gemildert, dass
unter Umständen bloss ein Teil des Vertrages unverbindlich ist (vgl. dazu
EUGEN BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil,
2. Auflage, S. 214) und bei Fahrlässigkeit eine Haftung der anfechtenden
Partei besteht. Ein grösserer Ermessensspielraum wird dem Gericht nicht
eingeräumt. Es fehlt somit die Rechtsgrundlage für eine Prüfung, ob
die einseitige Unverbindlichkeit des Vertrages als unverhältnismässige
Rechtsfolge erscheint.

    b) Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Art. 25 Abs. 1 OR in
Konkretisierung des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbotes (Art. 2 Abs. 2
ZGB) festhält, die Berufung auf den Irrtum dürfe nicht wider Treu und
Glauben erfolgen. Dieser Grundsatz kann die Geltendmachung des Irrtums
nur dann als Verstoss gegen Treu und Glauben erscheinen lassen, wenn es
sich um unnütze Rechtsausübung handelt oder ein krasses Missverhältnis
der Interessen besteht (MERZ, Berner Kommentar, N. 340 ff. und N. 371 zu
Art. 2 ZGB).

    aa) Von einer unnützen Rechtsausübung kann im vorliegenden Fall nicht
gesprochen werden. Bei einer Geldleistung ist ohnehin kaum ersichtlich,
warum die Geltendmachung nutzlos sein soll (MERZ, aaO, N. 342 zu Art. 2
ZGB). Das gilt auch für den beurteilten Sachverhalt. Mit der Geltendmachung
des Willensmangels verteidigt der Kläger genau die Interessen, die mit
den Regeln über den Irrtum geschützt werden sollen. Er will verhindern,
dass er den Kaufpreis für die landwirtschaftlichen Parzellen bezahlen muss,
die er bei Kenntnis der wahren Sachlage nicht gekauft hätte.

    bb) Unter dem Gesichtspunkt von Art. 2 Abs. 2 ZGB ist grundsätzlich
ohne Belang, ob die Rechtsausübung durch die eine Partei die andere
empfindlich trifft. Ausnahmen können im Bereich der Verpflichtungen
zu einem Handeln bestehen (MERZ, aaO, N. 372 ff. zu Art. 2 ZGB). Der
Umstand, dass es den Beklagten hart treffen würde, wenn er den Kaufpreis
nicht erhalten sollte, wogegen der Kläger die Bezahlung des Preises
möglicherweise besser verkraften kann, vermag aber ein solches krasses
Missverhältnis der Interessen nicht zu begründen.

    c) Dem Obergericht kann deshalb nicht gefolgt werden, wenn es zwar die
Voraussetzungen eines Grundlagenirrtums als gegeben ansieht, die Anfechtung
aber mit der Begründung zurückweist, die einseitige Unverbindlichkeit
sei unter den gegebenen Umständen keine angemessene Rechtsfolge. (In
der folgenden Erwägung wird ausgeführt, dass das Obergericht im Ergebnis
richtig entschieden hat, weil die Voraussetzungen eines Grundlagenirrtums
fehlen).