Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 110



123 III 110

18. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 4. Februar 1997 i.S. X.
Versicherungsgesellschaft gegen S. (Berufung) Regeste

    Haftung des Motorfahrzeughalters. Adäquater Kausalzusammenhang.

    Die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs bedarf richterlicher
Wertung, die gemäss Art. 4 ZGB nach Recht und Billigkeit vorzunehmen
ist. Dabei ist auch der rechtspolitischen Zielsetzung der im konkreten
Fall anwendbaren Normen Rechnung zu tragen. Die Abgrenzung adäquater
Unfallfolgen von inadäquaten kann deshalb im Haftpflicht- und im
Sozialversicherungsrecht unterschiedlich ausfallen (E. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Am 2. Juni 1988 erlitt S. als Beifahrer von C. in dessen
Personenwagen einen Unfall. C. missachtete ein Rotlicht und kollidierte
mit einem korrekt von rechts herannahenden Motorroller.

    Am 19. Mai 1992 klagte S. gegen die X. Versicherungsgesellschaft als
Versichererin des fehlbaren Autolenkers auf Bezahlung von Fr. 231'353.--
nebst Zins. Er machte geltend, bei der Kollision ein Schleudertrauma
der Halswirbelsäule erlitten zu haben, das in der Folge zu einer
hundertprozentigen Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Mit Urteil vom
17. September 1993 verneinte das Amtsgericht Luzern-Land den adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem Unfall
vom 2. Juni 1988 und wies die Klage ab.

    Auf Berufung des Klägers hob das Obergericht des Kantons Luzern
dieses Urteil mit Erkenntnis vom 13. Mai 1996 auf und wies die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Die von der Beklagten hiergegen
erhobene Berufung weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Beide kantonalen Instanzen haben den natürlichen Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall vom 2. Juni 1988 und den gesundheitlichen
Beeinträchtigungen des Klägers bejaht. Die Vorinstanz führte dazu
aus, die Ärzte hätten beim Kläger übereinstimmend folgende Symptome
festgestellt: Kopf- und Nackenschmerzen, Pfeifen und Rauschen in beiden
Ohren, Konzentrationsschwäche, ängstlich depressiver Zustand. Ein so
beschriebener Gesundheitszustand sei für ein erlittenes Schleudertrauma der
Halswirbelsäule typisch. Eine entsprechende Diagnose könne aber aufgrund
der ärztlichen Angaben nicht als gesichert gelten. Aus fachärztlicher
Sicht erhärtet sei dagegen, dass die geschilderten gesundheitlichen
Schäden auf den Unfall zurückzuführen seien. Erstellt sei ferner,
dass der Kläger nach dem Unfall aus gesundheitlichen Gründen die am
2. Mai 1988 begonnene kaufmännische Zusatzausbildung an der Handels- und
Verwaltungsschule Luzern nicht vollenden konnte, am 15. Dezember 1988 für
militärdienstuntauglich und am 24. September 1992 für zivildienstuntauglich
befunden worden sei. Überdies sei der Kläger nach Massgabe des IVG seit
1. September 1990 zu 100% arbeitsunfähig. Im Urteil von Bekannten werde
der Kläger seit dem Unfall als wesensverändert beschrieben.

    An diese Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, die den natürlichen
Kausalzusammenhang betreffen, ist das Bundesgericht von hier nicht
vorliegenden Ausnahmen abgesehen gebunden (Art. 63 Abs. 2 OG; BGE 113
II 52 E. 2 S. 56; 109 II 462 E. 4c S. 469). Insoweit lässt die Beklagte
denn auch das angefochtene Urteil gelten. Streitig ist dagegen, ob der
adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 2. Juni 1988 und den
Beschwerden des Klägers gegeben ist.

Erwägung 3

    3.- Während das Amtsgericht die Prüfung der Adäquanz im Lichte der
Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vornahm und verneinte,
weil es den Unfall als leicht taxierte und den diagnostischen Nachweis
eines HWS-Traumas für gescheitert betrachtete (unter Hinweis auf BGE 117
V 359 E. 6a S. 366 und 115 V 133 E. 6 S. 138 ff.), hielt die Vorinstanz
die sozialversicherungsrechtlichen Kriterien in diesem Punkte nicht für
massgebend und gelangte zum Ergebnis, auch der adäquate Kausalzusammenhang
sei gegeben. Diese Auffassung gibt die Beklagte in der Berufung als
bundesrechtswidrig aus. Der Adäquanzbegriff werde im Sozialversicherungs-
und im Haftpflichtrecht gleich definiert und verfolge in beiden
Rechtsgebieten denselben Zweck der Haftungsbeschränkung. Es rechtfertige
sich daher nicht, in der Praxis nach unterschiedlichen Kriterien zu
verfahren. Nach der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht erarbeiteten
Praxis sei die Adäquanz im vorliegenden Fall abzulehnen. Wenn aber schon
nicht dieselben Kriterien im Haftpflicht- und im Sozialversicherungsrecht
zur Anwendung kämen, dann seien die Anforderungen an die Zurechenbarkeit
jedenfalls im Haftpflichtrecht höher anzusetzen und nicht umgekehrt.

    a) Bundesgericht und Eidgenössisches Versicherungsgericht gehen
von derselben Umschreibung der Adäquanz aus. Danach hat ein Ereignis
als adäquate Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung
an sich geeignet ist, einen Erfolg von der Art des eingetretenen
herbeizuführen, der Eintritt des Erfolges also durch das Ereignis
allgemein als begünstigt erscheint (BGE 122 V 415 E. 2a; 121 V 45 E.
3a S. 49; 121 III 358 E. 5 S. 363, je mit Hinweisen; 113 II 174 E. 2
S. 178; 107 II 238 E. 5a S. 243). Rechtspolitischer Zweck der Adäquanz
ist sowohl im Sozialversicherungs- als auch im Haftpflichtrecht eine
Begrenzung der Haftung (BGE 117 V 369 E. 4a S. 382; 115 V 133 E. 7 S. 142;
96 II 392 E. 2 S. 397; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht,
Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl., Zürich 1995, Rz. 21, S. 114; BREHM,
Berner Kommentar, Bern 1990, N. 161 zu Art. 41 OR; ALFRED KELLER,
Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, 5. Aufl., Bern 1993, S. 66; ALFRED
MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 460). Sie
dient als Korrektiv zum naturwissenschaftlichen Ursachenbegriff, der unter
Umständen der Einschränkung bedarf, um für die rechtliche Verantwortung
tragbar zu sein (BGE 107 II 269 E. 3 S. 276; 122 V 415 E. 2c).

    Beim adäquaten Kausalzusammenhang im Sinne der genannten Umschreibung
handelt es sich um eine Generalklausel, die im Einzelfall durch das Gericht
gemäss Art. 4 ZGB nach Recht und Billigkeit konkretisiert werden muss. Die
Beantwortung der Adäquanzfrage beruht somit auf einem Werturteil. Es muss
entschieden werden, ob eine unfallbedingte Störung billigerweise noch dem
Schädiger oder Haftpflichtigen zugerechnet werden darf (BGE 109 II 4 E. 3
S. 7; 96 II 392 E. 2 S. 397; OFTINGER/STARK, aaO, S. 113; BREHM, aaO,
N. 162 zu Art. 41 OR; HEINZ REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht,
Zürich 1995, Rz. 528). Das Gericht hat dabei die gesamten Umstände
des konkreten Einzelfalles, aber auch den Zweck einer Norm oder eines
ganzen Normenkomplexes, so z.B. im Bereich der Unfallversicherung auch
deren Schutzzweck zu berücksichtigen (MAURER, aaO, S. 463; HANS LAURI,
Kausalzusammenhang und Adäquanz im Haftpflicht- und Versicherungsrecht,
Diss. Bern 1976, S. 89 ff.).

    Die Auffassung der Beklagten, der Adäquanzbegriff müsse im
Sozialversicherungs- und im Haftpflichtrecht gleich gehandhabt werden, ist
zwar im Grundsatz einleuchtend, lässt aber ausser acht, dass es sich bei
der Adäquanztheorie nicht um eine rein logische Kausalitätstheorie, sondern
um eine wertende Zurechnungstheorie handelt (VON TUHR/PETER, Allgemeiner
Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, 3. Aufl., Zürich 1979,
S. 98; GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Aufl.,
Zürich 1991, S. 64; BRUNO VON BÜREN, Schweizerisches Obligationenrecht,
Allgemeiner Teil, Zürich 1964, S. 55 f.; OFTINGER/STARK, aaO, Rz. 14,
S. 109; MAURER, aaO, S. 463; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens
von Schadenausgleichsystemen, Basel 1984, S. 92; HERMANN WEITNAUER, FS
*Oftinger, Zürich 1969, S. 324). Wohl ist die Umschreibung der Adäquanz im
Haftpflicht- wie im Sozialversicherungsrecht dieselbe, doch muss, da es
sich um eine konkretisierungsbedürftige Generalklausel handelt, auch die
unterschiedliche rechtspolitische Zielsetzung der beiden Rechtsgebiete
berücksichtigt werden (BGE 96 II 392 E. 2 S. 398). Eine schematische
Übernahme sozialversicherungsrechtlicher Kriterien ins Haftpflichtrecht
unbesehen dieser Unterschiede würde dem Zweck, im Einzelfall eine billige,
eben "adäquate" Zurechnungsentscheidung zu fällen, zuwiderlaufen.

    b) Dass die Beurteilung der Adäquanz auf einer wertenden Betrachtung
des Gerichts beruht und unter Berücksichtigung des anwendbaren
Normenkomplexes zu erfolgen hat, hat sich sowohl in den Entscheiden
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts als auch in denjenigen des
Bundesgerichts, wenn auch nicht immer mit derselben Transparenz,
niedergeschlagen. So beruht etwa die Praxis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts, die Leistungspflicht bei Begehrungsneurosen mangels
Adäquanz abzulehnen, auf dem Gedanken, dass das Unfallversicherungsrecht
Begehrungstendenzen auch dann nicht durch Leistungen belohnen und dadurch
fördern will, wenn sie sich zu einer Neurose verfestigen (MAURER,
aaO, S. 408 und Anm. 1040 a.E.). Damit folgt es - der Sache nach -
der deutschen Normzwecktheorie, welche sich mit der Adäquanztheorie in
vielen Punkten deckt und ebenfalls auf eine Haftungsbegrenzung zielt
(vgl. BREHM, aaO, N. 159 zu Art. 41 OR; LAURI, aaO, S. 102 f.; Schaer,
aaO, S. 93). Dieselbe Wertung liegt BGE 115 V 133 E. 7 S. 142 zugrunde,
wo sich das Eidgenössische Versicherungsgericht bei der Beantwortung
der Frage der Adäquanz ebenfalls an den rechtspolitischen Zielsetzungen
der obligatorischen Unfallversicherung orientiert hat. In BGE 115 V 413
E. 12b und c S. 414 f. wurde sodann ausdrücklich festgehalten, dass an die
massgebende Bedeutung der Unfallursache in der sozialen Unfallversicherung
höhere Anforderungen gestellt werden als im privaten Haftpflichtrecht
und die Abgrenzung adäquater Unfallfolgen von inadäquaten in beiden
Rechtsgebieten demnach unterschiedlich ausfallen könne. Schliesslich
weist der unter den Adäquanzkriterien aufgelistete Grad und die Dauer
der Arbeitsunfähigkeit, wie sie im Sozialversicherungsrecht nunmehr
auf Unfälle mit Schleudertrauma der Halswirbelsäule (BGE 117 V 359) und
Schädel-Hirntrauma (BGE 117 V 369; 122 V 415, unveröffentlichte E. 3a)
analog Anwendung finden, auf die spezifische sozialversicherungsrechtliche
Zielsetzung hin.

    Auch das Bundesgericht hat in BGE 113 II 86 E. 1c S. 90
f. unter Hinweis auf BGE 96 II 398 festgehalten, die Abgrenzung
adäquater Unfallursachen und -folgen von inadäquaten brauche im
Sozialversicherungsrecht nicht gleich auszufallen wie im Haftpflichtrecht,
da nach Art. 91 KUVG (SR 832.10) unfallfremde Mitursachen eines Schadens
berücksichtigt werden könnten, die den Haftpflichtanspruch nicht zu
beeinflussen vermöchten. Daran ändert auch nichts, dass das Bundesgericht
anschliessend ausführt, es sei nicht einzusehen, weshalb ein Umstand,
der sich in beiden Bereichen auswirke, in jenem erheblich, in diesem
hingegen unerheblich sein solle. Damit ist lediglich gesagt, dass ein
solcher Umstand im allgemeinen in beiden Rechtsgebieten berücksichtigt
werden muss, nicht aber unter welchen rechtlichen Gesichtspunkten die
Berücksichtigung zu erfolgen habe. Das Haftpflichtrecht erlaubt nämlich
eine Berücksichtigung im Rahmen der Schadenersatzbemessung, während
es im Anwendungsbereich des UVG (SR 832.20) um die Alternative des
Alles-oder-nichts geht, soweit sich vorbestandene Gesundheitsschäden
nicht auf die Erwerbsfähigkeit ausgewirkt haben (Art. 36 Abs. 2 UVG,
2. Satz e contrario).

    c) Aus diesen Gründen vermag auch die Auffassung der Beklagten,
dass an die Adäquanz im Haftpflichtrecht höhere Anforderungen zu
stellen seien, wenn die Zurechnungskriterien schon nicht dieselben sein
sollten, nicht zu überzeugen. In BGE 113 II 86 E. 1b S. 89 f. führte
das Bundesgericht denn auch aus, nach Lehre und Rechtsprechung zum
rechtserheblichen Kausalzusammenhang genüge es grundsätzlich, dass
der Haftpflichtige eine Schadensursache gesetzt habe, ohne die es
nicht zum Unfall gekommen wäre, während Mitursachen - in jenem Fall
die konstitutionelle Prädisposition des Geschädigten - den adäquaten
Kausalzusammenhang in der Regel weder zu unterbrechen noch auszuschliessen
vermöchten. Hingegen könne ein vorbestehendes Leiden des Geschädigten
für den Umfang der Haftpflichtansprüche gemäss Art. 42 bis 44 OR von
Bedeutung sein. Demgegenüber kann das soziale Unfallversicherungsrecht
Gesundheitsschädigungen, die vor dem Unfall bestanden haben, jedoch nicht
zu einer Verminderung der Erwerbsfähigkeit geführt haben, gemäss Art. 36
Abs. 2 UVG nicht durch eine angemessene Kürzung der Entschädigungszahlung
Rechnung tragen. Die Zurechnung kann auch in Grenzfällen nicht abgestuft
werden, sondern nur über den adäquaten Kausalzusammenhang und damit über
den Haftungsgrundsatz erfolgen. Im Haftpflichtrecht dagegen kann der
geringen Intensität einer Unfallursache im Zusammenspiel mit andern im
Rahmen der Ersatzbemessung Rechnung getragen werden (OFTINGER/STARK, aaO,
Rz. 24 ff., S. 116 f.; BREHM, aaO, N. 53 f. zu Art. 43 OR; von TUHR/PETER,
aaO, S. 98 f.). Bei der Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs
dürfen derartige Unterschiede nicht unberücksichtigt bleiben. Die
Vorinstanz durfte daher die Adäquanzprüfung bundesrechtskonform unter
Ausserachtlassung der dafür im Sozialversicherungsrecht geltenden Kriterien
vornehmen, so dass offen bleiben kann, ob die Adäquanz in Anwendung dieser
Kriterien zu verneinen gewesen wäre.