Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 123 III 10



123 III 10

2. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. Januar 1997
i.S. S. und L. gegen K. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 47 OR, Art. 4 ZGB; Höhe der Genugtuung, die den in China lebenden
Eltern eines in der Schweiz getöteten Opfers zusteht.

    Bei der Bemessung der Genugtuung sind die Lebenskosten am Wohnsitz
des Berechtigten in der Regel nicht zu berücksichtigen, es sei denn, der
Ansprecher würde aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse
in seinem Wohnsitzland in krasser Weise besser gestellt (Weiterentwicklung
der mit BGE 121 III 252 begründeten Rechtsprechung).

Sachverhalt

    K. tötete am 15. August 1993 seine Ehefrau, zerstückelte ihren
Leichnam und beseitigte diesen, indem er ihn in Abfallsäcke verpackt
in einem Kehrichtcontainer deponierte. Aufgrund dieses Sachverhalts
erklärte das Geschworenengericht des Kantons Zürich K. mit Urteil vom
20./21. September 1995 der vorsätzlichen Tötung und der Störung des
Totenfriedens schuldig und verurteilte ihn zu zwölf Jahren Zuchthaus,
unter Anrechnung der ausgestandenen Untersuchungshaft, sowie zu 15
Jahren Landesverweisung (unbedingt). Ferner stellte es fest, dass K.
grundsätzlich verpflichtet sei, den hinterbliebenen Eltern seiner
Ehefrau S. und L. Schadenersatz in voller Quote zu bezahlen, und verwies
diesen Anspruch zur Beurteilung in quantitativer Hinsicht auf den Weg des
Zivilprozesses. Sodann verpflichtete es den Verurteilten zur Bezahlung
einer Genugtuung an die Eltern in der Höhe von je Fr. 5'000.--.

    Gegen diesen Entscheid führen die Eltern des Opfers S. und
L. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit der sie beantragen, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und K. zur Zahlung einer Genugtuung
von je Fr. 45'000.--, zuzüglich Zins zu 5% seit dem 15. August 1993
zu verurteilen.

    Das Geschworenengericht des Kantons Zürich und K. beantragen die
Abweisung der Beschwerde.

    Mit Beschluss vom 11. Juni 1996 ist das Kassationsgericht des Kantons
Zürich auf eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde der Geschädigten nicht
eingetreten.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Die Vorinstanz bejahte die Voraussetzungen für einen
Genugtuungsanspruch der Beschwerdeführer nach Art. 47 OR. Die
Beschwerdeführer seien durch die Straftaten des Beschwerdegegners in ihren
persönlichen Verhältnissen sehr schwer betroffen worden. Hinsichtlich der
Bemessung der Genugtuungssumme nahm die Vorinstanz an, zu den besonderen
Umständen, unter denen eine angemessene Geldsumme zugesprochen werde,
gehörten auch Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Umfeldes sowie der
Kaufkraft am Ort, wo die Genugtuungsberechtigten lebten. Bestünden ganz
erhebliche Diskrepanzen in der Kaufkraft, dürfe sich der Richter nicht
einfach darüber hinwegsetzen, sondern habe diese besonderen Umstände im
Rahmen seines Ermessens angemessen zu berücksichtigen, wobei er für seinen
Entscheid die notwendigen Beweise zu erheben habe. Die ausschliessliche
Anknüpfung für die Bemessung einer Genugtuung an die am schweizerischen
Gerichtsort anwendbaren Verhältnisse stelle beim Vorliegen besonderer
Umstände ein vom Zufall abhängiges Kriterium dar, welches zu stossenden
Ergebnissen führe. Mit der Genugtuung versuche das Gesetz, erlittenen
seelischen Schmerz in Form einer Geldzahlung auszugleichen. Das Geld diene
dabei dem Empfänger als Wertträger, um sich etwas zu leisten, das ihn
erfreue, womit er vielleicht den erlittenen Schmerz vergessen könne. Daher
sei vernünftigerweise danach zu fragen, welchen tatsächlichen Wert die
erhaltene Geldsumme am Ort des Empfängers darstelle. Würden von der
Schweiz aus Genugtuungszahlungen ausgerichtet, welche die um ein vielfaches
höhere Kaufkraft unserer Währung im Empfängerland nicht berücksichtigten,
entstehe dadurch eine nicht gerechtfertigte Bereicherung des Geschädigten,
welche nicht dem Wesen der Genugtuung entspreche. Ausserdem entstehe
dadurch auch eine Ungleichbehandlung desjenigen Geschädigten, welcher
in der Schweiz lebe. Es sei somit bei der Festsetzung der Höhe einer
Genugtuung auch danach zu fragen, was sich der Genugtuungsempfänger
von der erhaltenen Geldmenge leisten könne, wenn dieser in einem
Lebensraum wohne, wo vollständig andere wirtschaftliche, soziale und
ökonomische Verhältnisse als hierorts herrschten. Aus den verschiedenen
Zeugenaussagen und den Angaben der Beschwerdeführer ergebe sich, dass
der Kaufkraftunterschied im zu beurteilenden Fall rund dem 20-fachen
entspreche. In Berücksichtigung dieser besonderen Verhältnisse und des
sehr schweren Verschuldens des Angeklagten erschienen die Beträge von je
Fr. 5'000.--, nebst 5% Zins sei dem Tattag als hohe Genugtuungssummen für
den erlittenen Schmerz. Auf weitere Erhebungen zur Abklärung der Kaufkraft
im Lebensumfeld der Beschwerdeführer könne somit verzichtet werden.

    b) Die Beschwerdeführer machen geltend, der angefochtene Entscheid
widerspreche der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Wenn ein Täter nach
schweizerischen Massstäben für eine Tat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt
werde, so sei folgerichtig, dass auch die Genugtuung nach schweizerischem
Rechtssystem und nach schweizerischen Massstäben zu bemessen sei. Da der
Beschwerdegegner in der Volksrepublik China für seine Tat sehr viel härter
bestraft worden wäre, verschaffe die von der Vorinstanz ausgesprochene
Freiheitsstrafe den Opfern seiner Tat nicht die gleiche Satisfaktion,
so dass konsequenterweise auch bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes
schweizerische Massstäbe angewendet werden müssten, um auf diese Weise
eine angemessene Genugtuung zu verschaffen.

    c) aa) Der Richter kann unter Würdigung der besonderen Umstände,
mithin nach Recht und Billigkeit (Art. 4 ZGB), den Angehörigen eines
Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen (Art. 47
OR). Dabei beruht die Festlegung der Höhe der Genugtuung auf richterlichem
Ermessen. Ob der kantonale Richter sein Ermessen richtig ausgeübt hat,
ist eine Rechtsfrage, die das Bundesgericht im Berufungsverfahren bzw. im
Verfahren der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde bei der adhäsionsweise
geltend gemachten Genugtuungsforderung frei überprüft. Das Bundesgericht
beachtet dabei jedoch praxisgemäss, dass dem Sachrichter ein eigener
weiter Spielraum des Ermessens zusteht. Dementsprechend auferlegt es
sich bei der Überprüfung Zurückhaltung und schreitet nur ein, wenn der
Sachrichter grundlos von den in Lehre und Rechtsprechung ermittelten
Bemessungsgrundsätzen abgewichen ist, wenn er Tatsachen berücksichtigt
hat, die für den Entscheid im Einzelfall keine Rolle spielen, oder wenn er
umgekehrt Umstände ausser Betracht gelassen hat, die er in seinen Entscheid
hätte miteinbeziehen müssen. Es greift ausserdem in Ermessensentscheide
ein, wenn sich diese als offensichtlich unbillig bzw. als in stossender
Weise ungerecht erweisen (BGE 118 II 410 E. 2a; 116 II 295 E. 5a; 115 II
156 E. 1 je mit Hinweisen).

    Nach der Rechtsprechung sind bei der Bemessung der Genugtuung
die Lebenshaltungskosten des Berechtigten an seinem ausländischen
Wohnsitz nicht zu berücksichtigen. Das Bundesgericht hielt in einem
neueren Entscheid fest, die Genugtuung stelle im Unterschied zur
Schadenersatzleistung nicht einen Ausgleich für eine Vermögensminderung
dar. Sie solle vielmehr den Schmerz durch eine Geldsumme aufwiegen. Diese
Geldsumme sei nach dem am Gerichtsstand geltenden Recht zu bemessen ohne
Rücksicht darauf, wo der Kläger leben und was er mit dem Geld machen
werde. Die gegenteilige Auffassung hätte zur Folge, dass nicht nur bei
ausländischem Wohnsitz die Frage einer Reduktion geprüft werden müsste,
sondern gegebenenfalls auch bei schweizerischem Wohnsitz an einem Ort
mit geringen Lebenshaltungskosten. Es wäre schwer nachvollziehbar, wenn
bei der Bemessung der Genugtuung danach unterschieden werden müsste,
ob der Ansprecher in einer Grossstadt oder in einer ländlichen Gegend
mit niedrigen Lebenshaltungskosten wohne. Die gegenteilige Auffassung
würde auch dazu führen, dass der Ansprecher mit ausländischem Wohnsitz
gegebenenfalls mehr verlangen könnte, wenn er in einer ausländischen
Metropole mit höheren Lebenshaltungskosten als in der Schweiz wohne. Im
übrigen würde je nach dem auch die Freiheit des Genugtuungsberechtigten,
sich anderswo niederzulassen, faktisch beeinträchtigt (BGE 121 III 252
E. 2; vgl. auch HAUSER, Die Zusprechung von Genugtuung im Adhäsionsurteil,
in: Le droit pénal et ses liens avec les autres branches du droit,
Mélanges en l'honneur du Professeur Jean Gauthier, Bern 1996, S. 193).

    bb) Nach der zitierten Rechtsprechung ist grundsätzlich davon
auszugehen, dass die Genugtuung in aller Regel nach dem am Gerichtsstand
geltenden Recht festzusetzen und unerheblich ist, wo der Ansprecher
leben und was er mit dem Geld machen wird. An dieser Rechtsprechung
etwas zu ändern, besteht kein Anlass. Bei ausländischem Wohnsitz des
Berechtigten gilt dies jedenfalls dann ohne Einschränkung, wenn sich
die dortigen Lebensbedingungen nicht in einem Masse von denjenigen
in der Schweiz unterscheiden, dass eine Grundlage für einen Vergleich
praktisch fehlt, oder wenn der Berechtigte eine besondere Beziehung zur
Schweiz hat, namentlich hier lebt und arbeitet oder als Angehöriger des
Verletzten sich in der Schweiz niederlassen kann. Allfällige Unterschiede
in den Lebenshaltungskosten zwischen der Schweiz und dem ausländischen
Wohnort des Berechtigten rechtfertigen in diesen Fällen ebensowenig eine
unterschiedliche Bemessung der Genugtuungssumme wie ungleiche Einkommens-
oder Vermögensverhältnisse der Berechtigten. Denn dass der eine Berechtigte
vermögend ist und von daher für einen gleichwertigen Ausgleich der
erlittenen Beeinträchtigungen einen höheren Betrag beanspruchen
könnte als ein in bescheideneren Verhältnissen lebender Kläger,
erlaubt nach überwiegender Auffassung keine unterschiedlich Bemessung
der Genugtuungssumme (HÜTTE/DUCKSCH, Die Genugtuung, 3. Aufl., Stand
April 1996, I/10 Ziff. 3.1, I/15 und I/56f.; TERCIER, Die Genugtuung, in
Strassenverkehrsrechts-Tagung 1988, S. 17; OFTINGER/STARK, Schweizerisches
Haftpflichtrecht I, § 8 N. 29; SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen
Strassenverkehrsrechts, Band II: Haftpflicht und Versicherung, N. 1410;
a.M. BREHM, Berner Kommentar, N. 11 zu Art. 47 OR).

    Im zu beurteilenden Fall liegen jedoch derart besondere Umstände vor,
dass die genannte Rechtsprechung den tatsächlichen Verhältnissen nicht
angemessen ist und somit nicht unbesehen angewendet werden kann. Dabei
steht im Vordergrund, dass Ansprecher vorliegend nicht das unmittelbare
Opfer ist, sondern die Genugtuung von dessen Eltern gefordert wird,
die seit jeher in der Volksrepublik China leben, dort auch in Zukunft
leben werden und keinerlei direkte Beziehungen zur Schweiz haben. Da
sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Volksrepublik
China, wie sich aus den im vorinstanzlichen Verfahren erhobenen Beweisen
in hinreichender Weise ergibt, markant von den hiesigen Verhältnissen
unterscheiden, würde die Zusprechung einer Genugtuungssumme in der Höhe,
wie sie grundsätzlich nach schweizerischem Recht zu bemessen wäre, zu einer
krassen Besserstellung der Beschwerdeführer und somit zu einem Ergebnis
führen, das nach Abwägung aller Interessen mit sachlichen Gründen nicht
zu rechtfertigen und daher unbillig wäre. Aus diesen Gründen ist bei
der Festsetzung der Genugtuung im zu beurteilenden Fall im Sinne eines
besonderen Umstandes zu berücksichtigen, dass gemäss den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz der Betrag von Fr. 100.-- einer sehr tiefen
Rente und derjenige von Fr. 200.-- dem Monatslohn eines Angestellten in
einer gutgehenden Fabrik entsprechen.

    Diese Berücksichtigung der besonderen individuellen Verhältnisse des
Berechtigten aus Billigkeitserwägungen steht im Einklang mit dem Zweck der
Genugtuung. Dieser liegt nach Lehre und Rechtsprechung in erster Linie
darin, beim Verletzten für die erlittene immaterielle Unbill bzw. das
empfundene Unrecht einen Ausgleich zu schaffen, indem das Wohlbefinden
anderweitig gesteigert oder dessen Beeinträchtigung erträglicher gemacht
wird (BGE 118 II 404 E. 3b/aa; 117 II 50 E. 4a/aa; 116 II 733 E. 4f;
115 II 156 E. 2; HÜTTE/DUCKSCH, aaO, I/10 Ziff. 3.1 und I/16; BREHM, aaO,
N. 9 zu Art. 47 OR; OFTINGER/STARK, aaO, § 8 N. 8/11, 14/16 und 82; KELLER,
Haftpflicht im Privatrecht, Bd. II, S. 106; VON TUHR/PETER, Allgemeiner
Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, S. 126 f.). Obwohl
in der Wiedergutmachung einer erlittenen immateriellen Beeinträchtigung
durch einen Vermögenswert im Grunde ein gewisser Widerspruch liegt, da
grundsätzlich erlittener seelischer Schmerz nicht mit Geld aufgewogen
werden kann (SCHAFFHAUSER, aaO; OFTINGER/STARK, aaO, § 8 N. 1; BREHM,
aaO, N. 6; REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, N. 488), wird die
Genugtuung in Form einer geldwerten Entschädigung ausgerichtet, weil Geld
den Berechtigten in die Lage versetzt, sich ein Gefühl des Wohlbefindens
zu verschaffen bzw. sich etwas zu leisten, das am ehesten die erlittenen
Beeinträchtigungen wettmachen könnte (TERCIER, aaO, S. 2 f. mit Hinweis
auf die Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches
[Persönlichkeitsschutz: Art. 28 ZGB und 49 OR] vom 5. Mai 1982, BBl 1982
II, S. 681). Vom Zweckgedanken des Schmerzensgeldes nicht gedeckt wird
jedoch die unverhoffte Herbeiführung eines finanziellen Wohlstandes. Damit
würde nicht der Ausgleich der immateriellen Unbill erzielt, sondern
vielmehr eine eigentliche ungerechtfertigte Bereicherung (HÜTTE/DUCKSCH,
aaO, I/57; DONATSCH, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons
Zürich, Zürich 1996, Vorbem. §§ 49 ff. N. 53). Dass der Pflichtige bei
dieser Sachlage gegebenenfalls besser fährt, spielt keine Rolle, da mit
der Genugtuung nicht dessen Bestrafung oder Sühneleistung bezweckt wird
(OFTINGER/STARK, aaO, § 8 N. 8; BREHM, aaO, N. 44; REY, aaO, N. 447).

    Dass die zugesprochene Summe bei Berücksichtigung der individuellen
Verhältnisse am ausländischen Wohnsitz unangemessen ist, machen die
Beschwerdeführer nicht geltend und ist auch nicht ersichtlich. Die
Vorinstanz hat somit bei der Festsetzung der Genugtuungssumme allen
wesentlichen Kriterien Rechnung getragen und ihr Ermessen nicht verletzt,
wenn sie die Lebenshaltungskosten in der Volksrepublik China bei der
Festsetzung der Genugtuungssumme berücksichtigt hat.

    Was die Beschwerdeführer dagegen einwenden, führt zu keinem
anderen Ergebnis. Namentlich spielt keine Rolle, dass die gegen den
Beschwerdegegner auszusprechende Strafe in der Volksrepublik China
ungleich härter ausgefallen wäre als die von der Vorinstanz ausgefällte
Freiheitsstrafe (vgl. BGE 82 II 36 E. 5; vgl. auch BREHM, aaO, N. 38). Die
Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als unbegründet.