Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 377



122 V 377

57. Auszug aus dem Urteil vom 7. November 1996 i.S. S. gegen IV-Stelle
des Kantons Aargau und Versicherungsgericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 12 IVG, Art. 2 Abs. 1 IVV: Übernahme des Cochlea-Implantats bei
Kindern als medizinische Eingliederungsmassnahme. Die Verwaltungspraxis,
wonach das Cochlea-Implantat auch bei Geburts- und Frühertaubten
von der Invalidenversicherung übernommen wird, lässt sich nicht
beanstanden (Präzisierung der Rechtsprechung). Die Versorgung mit einem
Cochlea-Implantat ist auch bei verknöcherter Cochlea indiziert.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die beim Beschwerdeführer seit 1989 als Folge einer
Pneumokokkensepsis mit Meningoencephalitis bestehende beidseitige
Gehörlosigkeit stellt einen stabilen Defektzustand dar und ist
medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung
daher grundsätzlich zugänglich. Ebenso steht fest, dass es sich beim
Cochlea-Implantat (CI) im Sinne von Art. 2 Abs. 1 IVV um eine nach
bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Massnahme
handelt (BGE 115 V 195 ff. Erw. 4a-d).

    b) Streitig und zu prüfen ist zunächst, ob die Massnahme den
Eingliederungserfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstrebt,
wie dies nach Art. 2 Abs. 1 IVV verlangt wird.

    Im Hinblick auf die geforderte Zweckmässigkeit der Versorgung mit
einem CI als medizinische Eingliederungsmassnahme nach Art. 12 IVG in
Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 IVV wurde in BGE 115 V 198 oben Erw. 4e/bb
u.a. festgehalten, dass sich das CI vor allem für den postlingual Ertaubten
mit guten Kenntnissen der Muttersprache eignet, und gemäss BGE 115 V 207
Erw. 6a i.f. sind die Chancen der kommunikativen Rehabilitation bei einem
Versicherten, der an einer unmittelbar nach der Geburt aufgetretenen -
prälingualen - Gehörlosigkeit leidet, nicht günstig. Bei angeborener
Taubheit würden daher aufgrund der Testerfahrungen nur besonders
ausgewählte Versicherte für ein CI in Frage kommen.

    aa) Das kantonale Gericht führte unter Berufung auf BGE 115 V
198 oben Erw. 4e/bb und 206 f. Erw. 6a aus, dass die Massnahme nicht
als zweckmässig erachtet werden könne, weil beim Beschwerdeführer eine
prälinguale Ertaubung vorliege. Im weiteren müssten die Erfolgsaussichten
bei verknöcherter Cochlea, wie sie beim Versicherten bestehe, aufgrund der
Aussagen der Spezialärzte der Universitätsklinik X und des Kantonsspitals
K. als schlecht eingestuft werden. Aus allen eingeholten Arztberichten
ergebe sich, dass wohl eine Operationsmöglichkeit bestehe, der durch das
Implantat erzielbare Gewinn indessen als gering zu betrachten sei. Unter
den gegebenen Umständen bestehe ein Missverhältnis zwischen den Kosten der
Massnahme und dem damit verfolgten Zweck; das Erfordernis der Einfachheit
sei deshalb ebenfalls nicht erfüllt.

    Der Beschwerdeführer wendet unter Hinweis auf die Darlegungen des
Dr. Seeger, Basel, vorgetragen an der Cochlear Implant-Konsensus-Konferenz
der Schweizer CI-Gruppe (HNO-Kliniken der Universitäts- und
Kantonsspitäler Basel, Bern, Genf, Luzern, Zürich) vom 18. März 1993,
ein, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sei heute gesichert,
dass prälingual ertaubte und geburtstaube Kinder nach einer etwas
längeren Eingewöhnungszeit vom CI in gleicher Weise profitierten
wie peri- und postlingual ertaubte Kinder. Insoweit sei BGE 115 V
206 f. Erw. 6a als wissenschaftlich überholt zu bezeichnen, wovon
im übrigen auch das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) ausgehe:
Nach dessen IV-Rundschreiben Nr. 7 vom 15. Juni 1994 und Nr. 15 vom
10. August 1995 werde das CI auch bei angeborener oder prälingualer
Ertaubung von der Invalidenversicherung übernommen. Unter Beilage
verschiedener wissenschaftlicher Publikationen aus dem Ausland wird
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ferner geltend gemacht, neueste
Erfahrungen zeigten, dass Kinder mit verknöcherter Cochlea ebenso gute
Erfolgsaussichten haben könnten wie Empfänger von Implantaten mit normaler
Cochlea.

    bb) Soweit aus BGE 115 V 198 oben Erw. 4e/bb und 207 Erw. 6a
geschlossen werden muss, dass bei angeborener oder prälingualer Taubheit
nur besonders ausgewählte Versicherte für ein CI in Frage kommen, weil die
Erfolgsaussichten der Versorgung mit einem CI nicht günstig sind, kann
an diesen Aussagen im Lichte neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse
nicht festgehalten werden. Dr. Seeger (CI-Resultate bei Kindern und
Erwachsenen aus internationaler Sicht in: Dokumentation Konsensus-Konferenz
Cochlear Implant, 18. März 1993) hält als wichtige Langzeit-Ergebnisse von
Untersuchungen in den USA, Australien und mehreren europäischen Staaten
bei geburtstauben und prälingual ertaubten Kindern folgendes fest:

    - Alle Kinder zeigen deutliche Verbesserungen ihrer sprachperzeptiven
Fähigkeiten über die Zeit hinweg.

    - Alle Kinder, die ihr CI mindestens drei Jahre hatten, also auch die
Geburtstauben und Frühertaubten, erreichten ein offenes Sprachverstehen.

    - Anfängliche Unterschiede zwischen kongenital und prälingual ertaubten
Kindern auf der einen und postlingual ertaubten Kindern auf der andern
Seite wurden mit zunehmender Zeit immer geringer.

    Zusammenfassend stellte Dr. Seeger fest, die bisher vorliegenden
Untersuchungen bei geburtstauben und prälingual ertaubten Kindern
gäben zu Optimismus Anlass: Es scheint, dass sie nach einiger Zeit des
regelmässigen Gebrauchs ähnlich gut von ihrem CI profitieren wie es die
peri- und postlingual ertaubten Kinder tun.

    Dass diese Darlegungen keinen Eingang ins Ergebnisprotokoll der
Cochlear Implant-Konsensus-Konferenz der Schweizer CI-Gruppe vom 18. März
1993 (Protokoll vom 19. April 1993) gefunden haben, spricht nicht gegen
deren Zuverlässigkeit, sondern ist auf die fehlenden Erfahrungen an den
Schweizer Kliniken zurückzuführen, wie aus anderen Stellen im Protokoll
deutlich ersichtlich wird. Es ist demnach nicht zu beanstanden, dass das
CI nach der Verwaltungspraxis (IV-Rundschreiben des BSV Nr. 7 vom 15. Juni
1994 und Nr. 15 vom 10. August 1995) auch bei Geburts- und Frühertaubten
von der Invalidenversicherung übernommen wird.

    cc) Mit dem Erfordernis, dass die medizinische Massnahme
den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise
anstrebt, bringt Art. 2 Abs. 1 IVV den als allgemeines Prinzip
im gesamten Leistungsrecht der Invalidenversicherung geltenden
Verhältnismässigkeitsgrundsatz (BGE 119 V 254 mit Hinweisen) zum Ausdruck,
der die Relation zwischen den Kosten der medizinischen Massnahme
einerseits und dem mit der Eingliederungsmassnahme verfolgten Zweck
anderseits beschlägt. Eine betragsmässige Begrenzung der notwendigen
Massnahme käme mangels einer ausdrücklichen gegenteiligen Bestimmung
nur in Frage, wenn zwischen der Massnahme und dem Eingliederungszweck
ein derart krasses Missverhältnis bestünde, dass sich die Übernahme der
Eingliederungsmassnahme schlechthin nicht verantworten liesse (BGE 115
V 198 Erw. 4e/cc mit Hinweisen).

    Soweit die Vorinstanz die Übernahme des CI unter dem Gesichtswinkel
der Einfachheit der Massnahme mit der Begründung ablehnte, dass bei
verknöcherter Cochlea die Erfolgsaussichten als gering bezeichnet werden
müssten, weshalb zwischen der Massnahme und dem angestrebten Erfolg ein
Missverhältnis bestehe, kann ihr ebenfalls nicht gefolgt werden. Dem
Ergebnisprotokoll der Cochlear Implant-Konsensus-Konferenz ist zwar zu
entnehmen, dass bei Verknöcherung der Schnecke (Cochlea) gewisse operative
Schwierigkeiten auftreten, indem unter Umständen nicht alle Elektroden
implantiert werden können. Indessen wird eingeräumt, dass mehrere Autoren
von guten Ergebnissen auch bei partiellen Implantationen berichteten, und
es wird wiederum auf die mangelnde Erfahrung der Schweizer ORL-Kliniken in
solchen Fällen hingewiesen. Aus den mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
neu aufgelegten wissenschaftlichen Publikationen geht hervor, dass
die Forschung eine Verknöcherung der Cochlea für die Vornahme einer
Cochlear-Implantation anfänglich als Kontraindikation betrachtete. Durch
die Entwicklung der chirurgischen Technik in den letzten Jahren habe
man das Problem der verknöcherten Cochlea jedoch besser in den Griff
bekommen. Neueste Erfahrungen zeigten, dass Kinder mit ossifizierter
Cochlea ebenso gute Erfolgsaussichten haben könnten wie Empfänger von
Implantaten mit normaler Cochlea (JON K. SHALLOP u.a., Multichannel
Cochlear Implant in Children with Labyrinthitis Ossificans, Wien 1994;
O. DEGUINE u.a., Technique chirurgicale et résultats de l'implant
cochléaire dans les cochlées normales et ossifiées, in Revue de
laryngologie, Bd. 114 Nr. 1, 1993, S. 5 ff.; JOHN L. KEMINK u.a.,
Auditory Performance of Children With Cochlear Ossification and Partial
Implant Insertion, in Laryngoscope 102, September 1992). Im Lichte dieser
neuesten wissenschaftlichen Forschungsergebnisse ist der Argumentation
der Vorinstanz, die Versorgung mit einem CI müsse im vorliegenden
Fall wegen der Verknöcherung der Cochlea als unverhältnismässig und
damit dem Gebot der Einfachheit der Massnahme gemäss Art. 2 Abs. 1
IVV widersprechend bezeichnet werden, die Grundlage entzogen. Vielmehr
kann als erstellt gelten, dass die hohen Kosten für das CI auch bei den
vorliegenden anatomischen Gegebenheiten in einem vernünftigen Verhältnis
zum angestrebten Eingliederungserfolg stehen. Die Voraussetzungen nach
Art. 2 Abs. 1 IVV sind somit entgegen den Ausführungen der Vorinstanz
als erfüllt zu betrachten.