Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 372



122 V 372

56. Urteil vom 11. September 1996 i.S. W. gegen Arbeitslosenkasse der
Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) und Rekurskommission des Kantons
Thurgau für die Arbeitslosenversicherung Regeste

    Art. 102 Abs. 1 und 2 AVIG: Beschwerdeberechtigung der
Arbeitslosenkassen. Die Arbeitslosenkassen sind nicht berechtigt, gegen
Verfügungen der Amtsstellen im kantonalen Verfahren Beschwerde zu führen.

Sachverhalt

    A.- W. (geb. 1949) war im Herbst 1995 bei der Arbeitslosenkasse der
Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern
gemeldet. Auf sein Gesuch hin verfügte das Amt für Industrie, Gewerbe
und Arbeit des Kantons Thurgau (KIGA), er könne ab 1. Oktober 1995 seine
Ansprüche bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau geltend machen,
d.h. einen Kassenwechsel vornehmen (Verfügung vom 18. Oktober 1995).

    B.- Dagegen reichte die Arbeitslosenkasse GBI Beschwerde ein. Die
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung
hiess diese gut und hob die angefochtene Verfügung auf (Entscheid vom
27. Oktober 1995).

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt W. die Aufhebung des
kantonalen Entscheids.

    Während die Arbeitslosenkasse GBI sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, beantragen das KIGA und die
Arbeitslosenkasse des Kantons Thurgau deren Gutheissung. Das Bundesamt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) verzichtet auf Vernehmlassung.

    D.- Am 11. September 1996 hat die I. Kammer des
Eidg. Versicherungsgerichts in einer öffentlichen Sitzung über den Fall
beraten.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach ständiger Rechtsprechung prüft das Eidg.  Versicherungsgericht
die formellen Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens von Amtes wegen. Hat
die Vorinstanz übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte,
und hat sie materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren
von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene
Entscheid aufzuheben ist (BGE 119 V 312 Erw. 1b).

Erwägung 2

    2.- Beschwerdeführerin im kantonalen Verfahren war die
Arbeitslosenkasse GBI. Das Gesetz regelt das Beschwerderecht in Art. 102
Abs. 1 und 2 AVIG. Zu prüfen ist, ob die Arbeitslosenkasse GBI aufgrund
dieser Bestimmung zur Beschwerde vor der kantonalen Rekurskommission
legitimiert war.
   a) Art. 102 Abs. 1 AVIG hat folgenden Wortlaut:

    "Zur Beschwerde ist berechtigt, wer durch die Verfügung berührt ist und
   ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat."

    Diese Norm stimmt materiell mit Art. 103 lit. a OG überein, der die
Legitimation zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde regelt. Der Begriff des
schutzwürdigen Interesses der beiden Gesetzesbestimmungen ist demnach
gleich auszulegen. Nach der Rechtsprechung sind die Arbeitslosenkassen
weder nach Art. 103 lit. a OG noch nach Art. 102 Abs. 1 AVIG zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht
legitimiert, da sie kein schutzwürdiges Interesse im Sinne
dieser Bestimmungen haben (BGE 111 V 153 Erw. 2a). Fehlt aber den
Arbeitslosenkassen das schutzwürdige Interesse gemäss Art. 102 Abs. 1 AVIG,
so sind sie auch im kantonalen Verfahren zur Beschwerde nicht berechtigt,
weil Art. 102 Abs. 1 AVIG auf dieses Verfahren ebenfalls anwendbar ist. Der
Auffassung der Vorinstanz, wonach auf die Beschwerde der Arbeitslosenkasse
GBI in Anwendung von Art. 102 Abs. 1 AVIG einzutreten ist, kann daher
nicht gefolgt werden.

    b) Zu prüfen bleibt, ob Art. 102 Abs. 2 AVIG die Arbeitslosenkassen
zur Beschwerde ermächtigt. Bei dieser Prüfung ist vom bis 31. Dezember
1991 gültigen aArt. 102 Abs. 2 AVIG auszugehen, der wie folgt lautete:

    "Beschwerdeberechtigt sind ausserdem:

    a. das BIGA gegen Verfügungen der kantonalen Amtsstellen;

    b. die kantonale Amtsstelle und das BIGA gegen Beschwerdeentscheide
   kantonaler Rekursinstanzen."

    Diese Bestimmung erwähnt die Arbeitslosenkassen nicht, weshalb ihnen
überhaupt kein Beschwerderecht zustand (dazu eingehend BGE 111 V 153
f. Erw. 2c). Dies wurde vor allem damit begründet, dass die Kassen keine
eigene Rechtspersönlichkeit besitzen (Art. 79 Abs. 2 AVIG) und somit keine
eigenen finanziellen Interessen zu vertreten haben. Ausserdem spielte eine
Rolle, dass die öffentlichen kantonalen Kassen (Art. 77 Abs. 1-3 AVIG)
in vielen Kantonen der betreffenden Amtsstelle administrativ unterstellt
sind, weshalb sie kaum gegen ihre vorgesetzte Stelle prozessieren
können (Botschaft des Bundesrates zu einem neuen Bundesgesetz über die
obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung
vom 2. Juli 1980, BBl 1980 III 634 f.; GERHARDS, Kommentar zum AVIG,
Band II, Art. 102 N 34).

    Mit der Teilrevision 1992 wurde nun Art. 102 Abs. 2 lit. b AVIG
insofern geändert, dass nebst der kantonalen Amtsstelle und dem BIGA neu
auch die Kassen beschwerdeberechtigt sind gegen Beschwerdeentscheide
kantonaler Rekursinstanzen. Art. 102 Abs. 2 lit. a AVIG, welcher das
erstinstanzliche Beschwerdeverfahren vor der kantonalen Rekursinstanz
regelt, hat anlässlich dieser Revision keine Änderung erfahren. Dies
bedeutet, dass seit 1. Januar 1992 die Arbeitslosenkassen zwar gegen
Entscheide kantonaler Rekurskommissionen beschwerdeberechtigt sind; dagegen
steht ihnen dieses Recht gegen Verfügungen der kantonalen Amtsstellen,
mithin im erstinstanzlichen kantonalen Beschwerdeverfahren, nach wie vor
nicht zu.

    Es fragt sich, in welchem Verhältnis diese Regelung zur Rechtsprechung
des Eidg. Versicherungsgerichts in bezug auf die Legitimation zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde steht. Danach dürfen bei Streitigkeiten
des Bundesverwaltungsrechts, die mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
an das Eidg. Versicherungsgericht weitergezogen werden können,
auf kantonaler Ebene an die Beschwerdebefugnis nicht strengere
Anforderungen gestellt werden, als sie Art. 103 OG für die Legitimation
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorsieht. Wer gemäss Art. 103 OG
im letztinstanzlichen Verfahren beschwerdeberechtigt ist, muss darum
auch im kantonalen Rechtsmittelverfahren zum Weiterzug berechtigt sein
(BGE 120 V 40 Erw. 2c, 114 V 95 f. Erw. 2a). Dies bedeutet, dass einer
Behörde, die wie hier in Anwendung von Art. 103 lit. c OG in Verbindung
mit einem Bundesgesetz zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert ist,
auch auf kantonaler Ebene ein Beschwerderecht zustehen muss. Im hier zur
Diskussion stehenden Bereich hat nun aber der Gesetzgeber eine andere
Regelung getroffen. Im Rahmen der Teilrevision 1992 hatte der Bundesrat
keine Änderung des ursprünglichen Art. 102 AVIG vorgesehen. Nationalrat
Rolf Mauch stellte dann anlässlich der Kommissionssitzung vom 1. Juni
1990 den Antrag, das Beschwerderecht der Kassen einzuführen und machte
dazu geltend, dass diese nach bisherigem Recht gegen erstinstanzliche
Entscheide beschwerdeberechtigt seien. Es sei ein Kuriosum, dass jemand
gegenüber dem erstinstanzlichen Entscheid ein Beschwerderecht besitze,
vom nachfolgenden Verfahren jedoch ausgeschlossen bleibe. Dazu führte
der damalige Direktor des BIGA, Klaus Hug, aus, entgegen der Auffassung
von Herrn Mauch hätten die Kassen überhaupt kein Beschwerderecht, auch
nicht gegen erstinstanzliche Verfügungen der kantonalen Amtsstellen. Nach
heutiger Regelung würden die Kassen das BIGA auf besondere Fälle aufmerksam
machen, wenn sie fänden, dass eine Beschwerde angebracht sei. Auch Roland
Jost, Abteilungschef des BIGA, wies darauf hin, dass den Kassen kein
Beschwerderecht zustehe (Protokoll der Kommission des Nationalrats,
Sitzung vom 1. Juni 1990, S. 28 ff.). Trotz dieser Einwände, somit im
Wissen um die fehlende Beschwerdeberechtigung der Kassen gegen Verfügungen
der kantonalen Amtsstellen, wurde der Antrag Mauch von der Kommission
mit 7 zu 2 Stimmen und schliesslich vom National- und Ständerat ohne
Diskussion angenommen (Amtl.Bull. 1990 N 1451; Amtl.Bull. 1990 S 699).

    Diese aus den Materialien hervorgehende klare Absicht des
Gesetzgebers hat im Gesetzestext ihren Niederschlag gefunden, indem
die Arbeitslosenkassen nur in Art. 102 Abs. 2 lit. b AVIG aufgeführt,
jedoch in Art. 102 Abs. 2 lit. a AVIG nicht als zur Beschwerde gegen
Verfügungen kantonaler Amtsstellen legitimierte Amtsstellen erwähnt
sind. Es liegt somit nicht eine vom Richter auszufüllende echte
Gesetzeslücke, sondern ein qualifiziertes Schweigen des Bundesgesetzes
vor, welches für das Eidg. Versicherungsgericht verbindlich ist
(Art. 113 Abs. 3, Art. 114bis Abs. 3 BV; BGE 118 V 173 Erw. 2b, 117 V
403 Erw. 1a). Die Arbeitslosenkassen sind nach der neuen gesetzlichen
Regelung ausdrücklich nur gegen Entscheide kantonaler Rekursinstanzen
beschwerdeberechtigt. Sollte sich diese Regelung als unbefriedigend
erweisen, so wäre es jedenfalls nicht Sache des Richters, sondern des
Gesetzgebers, korrigierend einzugreifen.

    c) Aus dem Gesagten folgt, dass die Arbeitslosenkasse GBI weder
gestützt auf Art. 102 Abs. 1 AVIG noch gestützt auf Art. 102 Abs. 2
AVIG zur Beschwerde gegen die Verfügung des KIGA legitimiert war. Die
Vorinstanz ist demnach zu Unrecht auf die Beschwerde eingetreten. Dies
führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (vgl. Erw. 1 hievor),
ohne dass dazu materiell Stellung zu nehmen wäre.

Erwägung 3

    3.- (Kostenpunkt)