Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 367



122 V 367

55. Urteil vom 6. November 1996 i.S. Bundesamt für Industrie, Gewerbe und
Arbeit gegen A. und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 95 Abs. 1 AVIG, Art. 30 AVIV, Art. 74quater IVV, Art. 58
VwVG. Sind formlos zugesprochene, d.h. faktisch verfügte Leistungen noch
nicht rechtsbeständig geworden, kann die Verwaltung darauf grundsätzlich
ohne Rechtstitel (Wiedererwägung oder prozessuale Revision) zurückkommen.

    Art. 24 Abs. 1 AVIG. Zwischeneinkommen aus selbständiger
Nebenerwerbstätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ist in dem Zeitpunkt
erzielt, in welchem der Versicherte die geldwerte Leistung erbracht hat.

Sachverhalt

    A.- Der 1964 geborene A. arbeitete bis Ende Mai 1993 als
Computer-Service-Techniker bei der Firma X. Ab 1. Juni 1993
unterzog er sich der Stempelkontrolle und beanspruchte Taggelder der
Arbeitslosenversicherung. Nachdem er seit Monaten mit Gitarren- und
Bassunterricht einen unselbständigen Zwischenverdienst erzielt hatte,
konnte er im Verlaufe des Monats August 1994 seine bisherigen Schüler auf
eigene Rechnung unterrichten. In der Folge rechnete die Arbeitslosenkasse
der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) für die Abrechnungsperiode
August 1994 ein infolge selbständiger Erwerbstätigkeit als Musiklehrer
erzieltes Einkommen von Fr. 1'113.-- sowie für die Abrechnungsperiode
September 1994 ein solches von Fr. 689.-- als Zwischenverdienst an. Mit
Abrechnung vom 7. Oktober 1994 verfügte sie die Rückforderung von im Monat
August 1994 zuviel bezahlten Betreffnissen in der Höhe von Fr. 435.15,
welche sie mit dem Entschädigungsanspruch für den Monat September 1994
zur Verrechnung brachte.

    B.- In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob
das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den angefochtenen
Verwaltungsakt vom 7. Oktober 1994 auf, und es wies die Sache an die
Kasse zurück, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und die
Differenzzahlung vornehme (Entscheid vom 30. Mai 1995).

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) die Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheides.

    A. hat sich nicht vernehmen lassen; die Arbeitslosenkasse trägt auf
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.-  (Kognition)

Erwägung 2

    2.- Der Abrechnung des Monats September 1994, mit welcher die
Kasse die nach ihren Berechnungen im Monat August 1994 zuviel bezahlten
Entschädigungen verrechnungsweise zurückforderte, kommt trotz Fehlens
formeller Verfügungsmerkmale materiell Verfügungscharakter zu (BGE 121
V 53 Erw. 1 mit Hinweis; vgl. auch ARV 1993/1994 Nr. 25 S. 179 Erw. 3b
und 1992 Nr. 1 S. 69 Erw. 2a). Denn sie stellt eine behördliche Anordnung
dar, durch welche verbindlich festgelegt wird, dass der Versicherte für
die in Frage stehende Kontrollperiode weniger Arbeitslosenentschädigung
beanspruchen kann. Die Vorinstanz ist daher zu Recht auf die hiegegen
eingereichte Beschwerde eingetreten.

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 95 Abs. 1 AVIG muss die Kasse Leistungen der
Versicherung, auf die der Empfänger keinen Anspruch hatte, zurückfordern.

    Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts
kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige Verfügung, welche
nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, in
Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung
von erheblicher Bedeutung ist (BGE 119 V 183 Erw. 3a, 477 Erw. 1 a,
je mit Hinweisen).

    Diese für die Wiedererwägung formell rechtskräftiger Verfügungen
massgebenden Voraussetzungen gelten auch mit Bezug auf die Rückerstattung
zu Unrecht bezogener Geldleistungen der Arbeitslosenversicherung
gemäss Art. 95 AVIG (BGE 110 V 179 mit Hinweisen; SVR 1995 AlV Nr. 53
S. 162 Erw. 3a), und zwar unbesehen darum, ob sie förmlich oder formlos
zugesprochen worden sind (BGE 111 V 332 Erw. 1; ARV 1995 Nr. 12 S. 64
Erw. 2b).

    Bei faktischem Verwaltungshandeln sind jedoch die Rückkommenstitel
der Wiedererwägung oder prozessualen Revision nur erforderlich, wenn
die in Frage stehende Taggeldabrechnung auch vom Versicherten nicht
mehr beanstandet werden kann, das Verwaltungshandeln vielmehr eine mit
dem Ablauf der Beschwerdefrist bei formellen Verfügungen eintretende
vergleichbare Rechtsbeständigkeit erreicht hat. Entsprechend der im
Bereich des KUVG entwickelten, auf den Prinzipien des Vertrauensschutzes
und der Rechtssicherheit beruhenden Praxis kann die Rechtsbeständigkeit
als eingetreten gelten, wenn anzunehmen ist, ein Versicherter habe
sich mit einer getroffenen Regelung abgefunden. Dies ist nach der
Rechtsprechung dann der Fall, wenn er sich nicht innert (nach den
Umständen) angemessener Überlegungs- und Prüfungsfrist dagegen verwahrt
(BGE 110 V 168 Erw. 2b; RKUV 1990 Nr. K 835 S. 82 Erw. 2a, 1988 Nr. K 783
S. 395 Erw. 3a mit Hinweisen; vgl. auch BGE 107 V 191 Erw. 1). Vorher darf
die Verwaltung unter Vorbehalt des Vertrauensschutzes (BGE 116 V 298)
grundsätzlich frei, d.h. ohne Bindung an Wiedererwägung oder Revision,
auf ihre Abrechnung zurückkommen (MEYER-BLASER, Die Rückerstattung von
Sozialversicherungsleistungen, in: ZBJV 131/1995 S. 498 Fn. 125), so gut
wie es ihr zusteht, während laufender Rechtsmittelfrist voraussetzungslos
auf eine formelle Verfügung zurückzukommen (BGE 107 V 191 f.; vgl. auch
BGE 121 II 276 Erw. 1a/aa mit zahlreichen Hinweisen auf Lehre und
Rechtsprechung).

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 24 AVIG (in der revidierten, auf den 1. Januar 1992 in
Kraft gesetzten Fassung) gilt als Zwischenverdienst jedes Einkommen aus
unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, das der Arbeitslose
innerhalb einer Kontrollperiode erzielt (Abs. 1). Als Verdienstausfall
gilt die Differenz zwischen dem in der Kontrollperiode erzielten
Zwischenverdienst, mindestens aber dem berufs- und ortsüblichen Ansatz
für die betreffende Arbeit, und dem versicherten Verdienst (Abs. 3 Satz 1).

Erwägung 5

    5.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass das Einkommen, welches
der Beschwerdegegner als selbständiger Musiklehrer verdient, grundsätzlich
als Zwischenverdienst im Sinne von Art. 24 AVIG anzurechnen ist. Da die
Abrechnung für August 1994 damals vom Versicherten bei Nichteinverständnis
noch hätte beanstandet werden können, war sie nicht rechtsbeständig
geworden, als die Kasse darauf am 7. Oktober 1994 zurückkam. Diese
Verfahrensweise ist nach dem Gesagten (Erw. 3) zulässig, ohne dass es
eines Rückkommenstitels bedarf. Streitig und zu prüfen ist einzig, wann,
d.h. in welcher Kontrollperiode, dieses Einkommen erzielt und bei der
Entschädigungsbemessung zu berücksichtigen ist.

    a) Das kantonale Gericht hat die Beschwerde unter Bezugnahme auf
GERHARDS (Arbeitslosenversicherung: "Stempelferien", Zwischenverdienst
und Kurzarbeitsentschädigung für öffentliche Betriebe und Verwaltungen
- Drei Streitfragen, in: SZS 1994 S. 321, insbes. S. 346)
sowie die bundesamtlichen Weisungen betreffend Behandlung von
Zwischenverdiensteinkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit (ALV-Praxis
94/1 vom 15. Dezember 1994, Blatt 3/12) geschützt mit der Begründung, die
Anwendung des Entstehungs- oder Fakturierungsprinzips, d.h. des Zeitpunkts,
in welchem das Einkommen verrechnet, aber noch nicht eingegangen sei,
erscheine nicht als vertretbar, da es dazu führe, dass dem Versicherten
ein Einkommen angerechnet werde, obwohl der Eingang der Zahlung auf
sich warten lasse. Damit aber laufe er Gefahr, keine oder nur geringe
Differenzzahlungen zu erhalten, von denen er nicht leben könne. Aus diesen
schutzrechtlichen Überlegungen heraus sei das Einkommen aus selbständiger
Erwerbstätigkeit erst in jener Kontrollperiode zu berücksichtigen, in
der es tatsächlich anfalle.

    Demgegenüber bringt das BIGA im wesentlichen vor, es sei mittlerweile
zur Überzeugung gelangt, dass das von ihm in den erwähnten Weisungen
als massgeblich erachtete Realisierungsprinzip mit Sinn und Zweck der
Zwischenverdienstregelung nicht vereinbar sei. Insbesondere widerspreche
es dem Gleichbehandlungsgebot, da Zwischenverdiensteinkommen aus einer
unselbständigen Erwerbstätigkeit nach dem Entstehungsprinzip behandelt
würden. Bei diesen Lohnempfängern erfolge nämlich die Anrechnung des
Zwischenverdienstes für die in der jeweiligen Kontrollperiode erbrachte
geldwerte Arbeitsleistung ohne Rücksicht auf den Realisierungszeitpunkt,
d.h. unabhängig davon, ob der Lohn verspätet zur Auszahlung
gelange. Entscheidend sei daher nicht, in welchem Zeitpunkt das Entgelt
in die Verfügungsgewalt des Versicherten übergehe, sondern wann der
wirtschaftliche Wert für die Arbeits- oder Dienstleistung erbracht
bzw. entstanden sei.

    b) Der Auffassung des Bundesamtes ist im Ergebnis beizupflichten. Als
der für die Berechnung des Taggeldes zugrunde zu legende (Art. 22
Abs. 1 AVIG) versicherte Verdienst gilt gemäss Art. 23 Abs. 1
AVIG (in der bis Ende 1995 gültig gewesenen Fassung) der für die
Beitragsbemessung massgebende Lohn (Art. 3), der während eines
Bemessungszeitraumes normalerweise erzielt wurde, einschliesslich
der vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen, soweit sie nicht
Entschädigung für arbeitsbedingte Inkonvenienzen sind (Satz 1). Für die
Beitragsbemessung selber verweist Art. 3 Abs. 1 AVIG auf den massgebenden
Lohn im Sinne der AHV-Gesetzgebung. Wie das Eidg. Versicherungsgericht
im Zusammenhang mit der AHV-Beitragspflicht wiederholt entschieden hat,
gilt Einkommen grundsätzlich in dem Zeitpunkt als erzielt, in welchem
der Rechtsanspruch auf die Leistung erworben wird (EVGE 1953 S. 55; ZAK
1989 S. 308 Erw. 3c mit Hinweisen, 1953 S. 223; vgl. auch BGE 73 I 141;
MASSHARDT, Kommentar zur direkten Bundessteuer, 2. Aufl. 1985, S. 104,
Rz. 5 zu Art. 21 BdBSt; LOCHER, System des Steuerrechts, 5. Aufl. 1995, §
15 S. 238). Einkommen ist mit anderen Worten erzielt, sobald die Forderung
für die erbrachte Leistung entstanden ist, nicht erst bei der Gutschrift
oder Erfüllung in bar (HÖHN, Steuerrecht, 5. Aufl., S. 193). Es erscheint
naheliegend, diese Rechtsprechung auch im Rahmen von Art. 24 Abs. 1 AVIG
zur Anwendung zu bringen. Übt ein Versicherter in einer Kontrollperiode,
für die er Taggelder der Arbeitslosenversicherung beansprucht, eine
Zwischenverdiensttätigkeit aus, hat er sich das vereinbarte (oder
berufs-/ortsübliche; Art. 24 Abs. 3 AVIG) Entgelt in der gleichen Periode,
in welcher er die geldwerte Leistung erbracht hat, anrechnen zu lassen,
unabhängig davon, welchen Fälligkeitstermin die Parteien vereinbart
haben. Die gegenteilige Auffassung würde nicht nur dem in Art. 24 AVIG
mitenthaltenen Gebot der Schadensminderung (GERHARDS, aaO, S. 331)
widersprechen, sondern hätte auch zur Folge, dass der Versicherte
den Fälligkeitstermin nach Belieben festsetzen und beispielsweise
beträchtliche Entschädigungsforderungen in missbräuchlicher Weise auf
einen Zeitpunkt fällig stellen könnte, in welchem die Arbeitslosigkeit
noch nicht eingetreten oder bereits überwunden ist. Dies kann nicht
hingenommen werden.

    Zwar ist nicht zu verkennen, dass durch die Anrechnung ausstehender
Zahlungen das Ersatzeinkommen des Versicherten geschmälert wird. Es
ist aber nicht Sache der Arbeitslosenversicherung, solche Ausstände zu
"bevorschussen" und alsdann wieder - sei es direkt vom Versicherten,
sei es (über das Rechtsinstitut der Zession) von dessen Schuldner -
zurückzufordern. Vielmehr obliegt es dem Ansprecher selber, dafür zu
sorgen, dass er durch entsprechende Zahlungsvereinbarungen nicht in
finanzielle Engpässe gerät. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, dass
die Versicherten bei Rückforderungen bereits einen gewissen Schutz
geniessen, indem der Verrechnungsabzug mit laufenden Leistungen auf
das betreibungsrechtliche Existenzminimum begrenzt ist (Rz. 22 des
bundesamtlichen Kreisschreibens über die Rückforderung unrechtmässig
bezogener Leistungen, die Verrechnung und über die Behandlung von
Erlassgesuchen [RVE] vom Juli 1986; vgl. in diesem Zusammenhang auch BGE
115 V 343 Erw. 2c, 113 V 285 Erw. 5b, 111 V 103 Erw. 3b mit Hinweisen)
oder indem die Möglichkeit besteht, bei der Arbeitslosenkasse den (ganzen
oder teilweisen) Erlass der Rückforderung zu beantragen (vgl. Art. 95
Abs. 2 AVIG; BGE 116 V 290; ARV 1992 Nr. 7 S. 100; Rz. 43 ff. RVE).

    c) Im Lichte des Gesagten hat die Arbeitslosenkasse die von den
Musikschülern für die Monate August und September 1994 geschuldeten
Entgelte zu Recht in denjenigen Kontrollperioden berücksichtigt, in welchen
der Beschwerdegegner seine Leistung erbracht hat. Der vorinstanzliche
Entscheid ist daher in diesem Punkt aufzuheben.