Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 300



122 V 300

45. Auszug aus dem Urteil vom 15. Oktober 1996 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen N. und Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Regeste

    Art. 2 Abs. 3, Art. 3 Abs. 6 ELG, Art. 7 Abs. 1 lit. c ELV.
   -  Art. 7 Abs. 1 lit. c ELV ist gesetzwidrig.

    -  Eine "gesonderte" Ergänzungsleistungsberechnung für den
Leistungsansprecher und dessen Kind, das Anspruch auf eine Kinderrente
der Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung begründet,
ist nicht zulässig.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 2 Abs. 1 ELG ist den in der Schweiz wohnhaften
Schweizer Bürgern, denen eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung der
Alters- und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung
zusteht, ein Anspruch auf Ergänzungsleistungen einzuräumen, soweit
das anrechenbare Jahreseinkommen einen von den Kantonen innerhalb
eines gesetzlich vorgegebenen Rahmens festzusetzenden Grenzbetrag nicht
erreicht. Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht laut Art. 5 Abs. 1
ELG dem Unterschied zwischen der massgebenden Einkommensgrenze und dem
anrechenbaren Jahreseinkommen (Satz 1).

    b) Bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen sind zu den
Einkommensgrenzen für Alleinstehende und Ehepaare laut Art. 2 Abs. 3
ELG für Kinder, die einen Anspruch auf Zusatzrente der Alters-
und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung
begründen, die für Waisen massgebenden Grenzbeträge hinzuzuzählen
(erster Halbsatz). Laut Art. 3 Abs. 6 ELG regelt der Bundesrat u.a. die
Zusammenrechnung der Einkommensgrenzen und der anrechenbaren Einkommen von
Familiengliedern. Gestützt auf diese Delegationsnorm hat der Bundesrat für
die Berechnung der Ergänzungsleistungen von Alleinstehenden und Ehepaaren
mit Kindern im Sinne von Art. 2 Abs. 3 ELG mit Art. 7 ELV eine Bestimmung
erlassen, die in der bis 31. Dezember 1994 gültig gewesenen Fassung wie
folgt lautete:
       "1Die Einkommensgrenzen und die anrechenbaren Einkommen von Kindern,
   die einen Anspruch auf eine Kinderrente der Alters-, Hinterlassenen-
   oder

    Invalidenversicherung begründen, werden den Eltern zugerechnet oder,
falls
   die Eltern getrennte Ansprüche haben, dem Elternteil, in dessen Obhut
   sich das Kind befindet oder der überwiegend für das Kind aufkommt.

    2Ist im Sinne des AHVG oder des IVG nur einer der Ehegatten
   rentenberechtigt, werden die Einkommensgrenzen und die anrechenbaren

    Einkommen der Kinder diesem Ehegatten zugerechnet."

    Gestützt auf Abs. 2 dieser Bestimmung hatte die Verwaltung bei der
Ergänzungsleistungsberechnung bis Ende 1994 sowohl die für den Sohn K.
massgebende Einkommensgrenze wie auch als anrechenbares Einkommen die
für diesen ausgerichtete Kinderrente der Invalidenversicherung dem
Beschwerdegegner zugerechnet.

    c) Mit der Verordnungsänderung vom 26. September 1994 erhielt Art. 7
ELV mit Wirkung ab 1. Januar 1995 folgenden Wortlaut:

    "1Die Ergänzungsleistung für Kinder, die einen Anspruch auf eine

    Kinderrente der Alters-, Hinterlassenen- oder Invalidenversicherung
   begründen, wird wie folgt berechnet:

    a.Leben die Kinder mit den Eltern zusammen, erfolgt eine gemeinsame

    Berechnung der Ergänzungsleistung.

    b.Leben die Kinder nur mit einem Elternteil zusammen, der
   rentenberechtigt ist oder für den Anspruch auf eine Zusatzrente der

    Alters-, Hinterlassenen- oder Invalidenversicherung besteht, so
wird die

    Ergänzungsleistung zusammen mit diesem Elternteil festgelegt.

    c.Lebt das Kind nicht bei den Eltern oder lebt es bei einem Elternteil,
   der nicht rentenberechtigt ist und für den auch kein Anspruch auf eine

    Zusatzrente besteht, so ist die Ergänzungsleistung gesondert zu
   berechnen.

    2Bei einer Berechnung nach Absatz 1 Buchstaben b und c ist das

    Einkommen der Eltern soweit zu berücksichtigen, als es deren eigenen

    Unterhalt und den der übrigen unterhaltsberechtigten
Familienangehörigen
   übersteigt."

    Im Hinblick auf diese Verordnungsänderung nahm die Verwaltung eine
Neuberechnung der Ergänzungsleistungen des Beschwerdegegners vor. Weil
der Sohn K. bei seiner Mutter lebt, welche nicht rentenberechtigt ist und
auch keine Zusatzrente beanspruchen kann, wurde die Ergänzungsleistung
ausschliesslich aufgrund der Einkommensverhältnisse des Beschwerdegegners
ermittelt. Diese Berechnung, die einen jährlichen Einkommensüberschuss
von Fr. 3'940.-- ergab, erweist sich nach den zutreffenden Feststellungen
der Vorinstanz als richtig, was unter der Voraussetzung, dass Art. 7
Abs. 1 lit. c ELV überhaupt Anwendung finden kann, zur Verneinung der
Anspruchsberechtigung führt.

Erwägung 3

    3.- a) Das kantonale Gericht gelangte zum Schluss, Art. 7 Abs. 1
lit. c ELV in der ab 1. Januar 1995 geltenden Fassung sei gesetzwidrig,
weshalb die darauf gestützte Ergänzungsleistungsberechnung der Verwaltung
nicht geschützt werden könne.

    Im einzelnen erwog die Vorinstanz, das ELG stelle in Art. 2 Abs. 3 den
Berechnungsgrundsatz auf, dass zu den Einkommensgrenzen für Alleinstehende
und Ehepaare für Kinder, die einen Anspruch auf Zusatzrente der Alters-
und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung begründen, die für
Waisen massgebenden Grenzbeträge hinzuzuzählen sind; Art. 3 Abs. 6 ELG
überlasse sodann die Regelung der Zusammenrechnung der Einkommensgrenzen
und der anrechenbaren Einkommen von Familienmitgliedern dem Bundesrat,
welcher in Ausführung dieser Bestimmung in Art. 7 ELV in der bis
Ende 1994 gültig gewesenen Fassung Vorschriften darüber erlassen habe,
welchem Elternteil die Einkommensgrenzen und anrechenbaren Einkommen von
Kindern anzurechnen sind, falls die Eltern getrennte Ansprüche haben
oder wenn nur einer der beiden Ehegatten rentenberechtigt ist; Art. 7
Abs. 1 ELV in der revidierten Fassung stelle nun insofern eine gänzlich
neue Regelung auf, als dessen lit. c eine "gesonderte" Berechnung der
Ergänzungsleistungen in jenen Fällen vorsieht, in welchen das Kind,
das Anspruch auf eine Kinderrente der Alters- und Hinterlassenen- oder
der Invalidenversicherung begründet, nicht bei den Eltern lebt oder aber
bei einem Elternteil, der nicht rentenberechtigt ist und für welchen auch
kein Anspruch auf eine Zusatzrente besteht; mit dieser Ausnahmeregelung
setze sich der Verordnungsgeber in Widerspruch zu dem in Art. 2 Abs. 3 ELG
festgehaltenen Grundsatz der Zusammenrechnung der Einkommensgrenzen bei
Ergänzungsleistungsbezügern mit Kindern, die einen Anspruch auf Zusatzrente
begründen, und gehe damit über die ihm im Gesetz delegierte Kompetenz zur
Realisierung der Zusammenrechnung hinaus. Da dies bundesrechtswidrig sei,
erklärte das Gericht Art. 7 Abs. 1 lit. c ELV für die Beurteilung des
Ergänzungsleistungsanspruchs des Beschwerdegegners als nicht anwendbar
und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese den Anspruch
unter Hinzurechnung der für den Sohn K. massgebenden Einkommensgrenze
neu berechne.

    b) Dem hält das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) in seiner
Verwaltungsgerichtsbeschwerde entgegen, aufgrund der in Art. 3 Abs. 6
ELG erfolgten Delegation der Zusammenrechnung sei der Bundesrat befugt,
zu regeln, für welche Personen die Einkommensgrenzen und anrechenbaren
Einkommen zusammenzurechnen sind und für welche eben nicht; da es sich
gezeigt habe, dass eine Zusammenrechnung bei Personen, die nicht im
gleichen Haushalt leben, immer wieder zu Schwierigkeiten führt, habe der
Bundesrat in der Verordnung vorgesehen, dass die Ergänzungsleistung bei vom
anspruchsberechtigten Elternteil getrennt lebenden Kindern auch getrennt
zu berechnen ist. Dazu führt das Bundesamt aus, wenn beispielsweise Kinder
in Heimen oder Grossfamilien untergebracht sind, ermögliche diese Ordnung,
sofern notwendig, die Auszahlung höherer Ergänzungsleistungen; Ziel der
Ergänzungsleistungen sei die Deckung des Existenzbedarfs; mit der neuen
Regelung habe der Bundesrat erreichen wollen, dass der Existenzbedarf
für die Kinder an dem Ort gewährleistet ist, an welchem sie wohnen
(z.B. im Heim, bei Verwandten, in Grossfamilien, bei Drittpersonen); da
zudem oft eine Fürsorgebehörde die finanziellen Angelegenheiten dieser
Kinder regle, stelle die getrennte Ergänzungsleistungsberechnung eine
klare Vereinfachung dar.

Erwägung 4

    4.- a) Nach der Rechtsprechung kann das Eidg.  Versicherungsgericht
Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht
fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei
(unselbständigen) Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation
stützen, prüft es, ob sie sich in den Grenzen der dem Bundesrat im Gesetz
eingeräumten Befugnisse halten. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche
Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung
auf Verordnungsebene eingeräumt, muss sich das Gericht auf die Prüfung
beschränken, ob die umstrittenen Verordnungsvorschriften offensichtlich aus
dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen
oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann
jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates
setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die vom
Bundesrat verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen Art. 4 BV,
wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn-
oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für
die sich ein vernünftiger Grund nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die
Verordnung es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise
hätten berücksichtigt werden sollen (BGE 122 V 93 Erw. 5a/bb, 120 V 457
Erw. 2b, je mit Hinweisen).

    b) Der Argumentation des beschwerdeführenden Bundesamtes liegt
die unzutreffende Annahme zugrunde, dass Kinder, die einen Anspruch auf
Kinderrente begründen und beim nicht rentenberechtigten Elternteil oder bei
Dritten leben, einen eigenen Anspruch auf Ergänzungsleistung besitzen. Wie
das Eidg. Versicherungsgericht in dem in ZAK 1989 S. 224 publizierten
Urteil W. vom 25. November 1988 indessen ausführte, haben aufgrund von
Art. 2 Abs. 1 ELG nur Personen Anspruch auf Ergänzungsleistungen, welchen
eine Rente oder Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen-
oder der Invalidenversicherung zusteht; gemeint sei damit ein selbständiger
Rentenanspruch; von Gesetzes wegen keinen solchen originären Rentenanspruch
besitze eine Person, für die ein Versicherter eine Zusatzrente bezieht (ZAK
1968 S. 171 f. Erw. 2a); entsprechend fänden die Bezüger von Kinderrenten,
welche derivative Zusatzrenten zur Stammrente von Vater oder Mutter
darstellen (vgl. Art. 22ter AHVG, Art. 35 IVG; BGE 108 V 78 Erw. 3), in
Art. 2 Abs. 1 ELG keine Erwähnung, sondern nur Alleinstehende, Ehepaare,
minderjährige Bezüger einer Invalidenrente und Waisen, die ebenfalls
originär rentenberechtigt sind (Art. 25 AHVG).

    Seine Auffassung vertritt das BSV unter Hinweis auf ZAK 1989
S. 224 auch in der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV
und IV (WEL). Es fügte in Rz. 2005 WEL jedoch bei, in den Fällen von
Art. 7 Abs. 1 lit. c ELV gälten Personen, für welche eine Kinderrente
ausgerichtet wird, als rentenberechtigt. Dieser Zusatz ist nicht
gerechtfertigt. Ein selbständiger Ergänzungsleistungsanspruch des
Kindes, das einen Anspruch auf eine Zusatzrente der Alters- und
Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung begründet, lässt
sich selbst aufgrund der Tatsache nicht konstruieren, dass die den
Eltern oder einem Elternteil zustehende Ergänzungsleistung auch den
unterhaltsberechtigten Kindern zugutekommt. Ausschliesslicher Zweck der
Ergänzungsleistungen bleibt dennoch, den zum Leben notwendigen Bedarf
des Anspruchsberechtigten zu gewährleisten (BGE 115 V 353 Erw. 5c mit
Hinweisen). Das Eidg. Versicherungsgericht hat es denn auch abgelehnt,
Kinder, für die eine Kinderrente der Invalidenversicherung gewährt wird,
aufgrund wirtschaftlicher Betrachtungsweise als Destinatäre eines Teils
der Ergänzungsleistung zu betrachten (ZAK 1989 S. 226 Erw. 2c). Gerade
im Hinblick auf familiäre Unterhaltsverpflichtungen sind aber die für
die Kinder massgebenden Grenzwerte in die Ergänzungsleistungsberechnung
des Berechtigten miteinzubeziehen.

    c) Aus dem Gesagten folgt, dass Art. 7 Abs. 1 lit. c ELV,
welcher offenbar ebenfalls von einem dem Kind selbst zustehenden
Ergänzungsleistungsanspruch ausgeht, gesetzwidrig ist. Abgesehen
davon, dass die Bestimmung nach den zutreffenden Ausführungen der
Vorinstanz von Art. 3 Abs. 6 ELG nicht gedeckt ist, verstösst sie
gegen den in Art. 2 Abs. 1 ELG festgehaltenen Grundsatz, wonach zu den
Einkommensgrenzen für Alleinstehende und Ehepaare die für Kinder, die einen
Anspruch auf eine Zusatzrente der Alters- und Hinterlassenen- oder der
Invalidenversicherung begründen, massgebenden Grenzbeträge hinzuzuzählen
sind. An der Gesetzwidrigkeit dieser Bestimmung vermag auch die vom BSV
angeführte Zielsetzung der neuen Ordnung, nämlich die Gewährleistung des
Existenzbedarfs für Kinder an dem Ort, an dem sie leben, nichts zu ändern.