Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 218



122 V 218

32. Auszug aus dem Urteil vom 23. Mai 1996 i.S. Z. gegen IV-Stelle Bern
und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 31 Abs. 1 IVG: Mahn- und Bedenkzeitverfahren. Gegenüber einem
Eingliederungsmassnahmen ablehnenden Versicherten darf die Verwaltung in
jedem Fall erst nach durchgeführtem Mahn- und Bedenkzeitverfahren die
Verweigerung oder den Entzug von Versicherungsleistungen verfügen. Das
Mahn- und Bedenkzeitverfahren gemäss Art. 31 Abs. 1 IVG kann nicht durch
einen blossen (in die Ablehnungsverfügung aufgenommenen) Hinweis auf die
Möglichkeit einer späteren Neuanmeldung ersetzt werden, und es muss auch
dann durchgeführt werden, wenn der Versicherte eine konkrete zumutbare
Eingliederungsmassnahme unmissverständlich abgelehnt hat (Änderung der
Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- b) Art. 10 Abs. 2 IVG sieht vor, dass der Anspruchsberechtigte
verpflichtet ist, die Durchführung aller Massnahmen, die
zu seiner Eingliederung ins Erwerbsleben getroffen werden, zu
erleichtern. Die Versicherung kann ihre Leistungen einstellen, wenn der
Anspruchsberechtigte die Eingliederung erschwert oder verunmöglicht;
unter den Begriff der Leistungen im Sinne von Art. 10 Abs. 2 IVG fallen
Eingliederungsmassnahmen und Taggelder. Nach der Rechtsprechung ist die
Einstellung dieser Leistungen allerdings erst nach durchgeführtem Mahn-
und Bedenkzeitverfahren im Sinne von Art. 31 Abs. 1 IVG zulässig (ZAK
1983 S. 28 Erw. 3 Abs. 1; MAURER, Bundessozialversicherungsrecht, Basel
und Frankfurt a.M. 1993, S. 169 f.). Gemäss dieser Gesetzesbestimmung
kann die Verweigerung oder der Entzug der Leistung erst verfügt werden,
wenn die Verwaltung den Versicherten vorgängig durch eine schriftliche
Mahnung und unter Einräumung einer angemessenen Bedenkzeit auf die Folgen
seiner Widersetzlichkeit aufmerksam gemacht hat. Die Sanktion muss in
gehöriger Form und unter Fristansetzung angekündigt werden (MAURER, aaO,
S. 150 und 169 f.; MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im
staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 140 f.; vgl. auch BGE
108 V 215 f. als Beispiel einer Fristansetzung zur Selbsteingliederung).

    Nach der Rechtsprechung (BGE 97 V 175 unten Erw. 2; ZAK 1984
S. 36 f. Erw. 1) erübrigt sich die Durchführung des Mahn- und
Bedenkzeitverfahrens, wenn der Eingliederungsmassnahmen ablehnende
Versicherte in der leistungsausschliessenden oder -beschränkenden
Verfügung auf die Möglichkeit der Neuanmeldung hingewiesen wird
für den Fall, dass er seinen Widerstand gegen die Durchführung von
Eingliederungsmassnahmen aufgibt. Diese Rechtsprechung wurde kritisiert
(MEYER-BLASER, aaO, S. 140 ff., insbes. S. 142): Nur eine konsequente
Handhabung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens schaffe klare Verhältnisse
in dem Sinne, dass der Versicherte wisse, woran er ist; der Hinweis auf
die Möglichkeit einer späteren Neuanmeldung sei nicht zulässig, weil der
rechtsunkundige Versicherte nicht abschätzen könne, welche nachteiligen
Folgen eine verspätete Anmeldung nach sich zieht (Art. 48 Abs. 2 IVG:
Beschränkung der Nachzahlung von Leistungen auf die letzten zwölf der
Anmeldung vorangegangenen Monate). Diese Kritik ist begründet. Sinn
und Zweck von Art. 31 Abs. 1 IVG ist es, den Versicherten in jedem
Fall auf die möglichen nachteiligen Folgen seines Widerstandes gegen
Eingliederungsmassnahmen aufmerksam zu machen und ihn so in die Lage zu
versetzen, in Kenntnis aller wesentlichen Faktoren seine Entscheidung zu
treffen. Die bisherige Praxis erweist sich deshalb als unrichtig, weshalb
daran nicht festgehalten werden kann (BGE 119 V 260 Erw. 4a). Ergänzend
ist darauf hinzuweisen, dass gemäss ZAK 1983 S. 28 Erw. 3 (Abs. 2 und
3) auch an der in BGE 100 V 190 Erw. 4 veröffentlichten Rechtsprechung
nicht festzuhalten ist, wonach sich die Durchführung des Mahn- und
Bedenkzeitverfahrens erübrigt, wenn die Verwaltung eine konkrete,
erfolgversprechende, zumutbare Eingliederungsmassnahme bezeichnet und der
Versicherte diese unmissverständlich abgelehnt hat. Zwar nimmt ZAK 1983
S. 28 Erw. 3 nicht ausdrücklich auf BGE 100 V 190 Bezug; inhaltlich wurde
indessen die in diesem Urteil begründete Rechtsprechung durch den neuen
Entscheid geändert. Es ist somit festzustellen, dass weder unter den in
BGE 97 V 175 Erw. 2 und ZAK 1984 S. 36 f. Erw. 1 noch unter den in BGE
100 V 190 Erw. 4 umschriebenen Voraussetzungen von der Durchführung des
Mahn- und Bedenkzeitverfahrens gemäss Art. 31 Abs. 1 IVG Abstand genommen
werden darf.