Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 185



122 V 185

27. Auszug aus dem Urteil vom 15. Mai 1996 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen G. und P. E. und Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Regeste

    Art. 52 AHVG. Die Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers kann in
sinngemässer Anwendung von Art. 4 VG bzw. Art. 44 Abs. 1 OR herabgesetzt
werden, wenn und soweit eine grobe Pflichtverletzung der Verwaltung für
die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens adäquat kausal gewesen
ist (Änderung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) In der nicht veröffentlichten Erw. II/6 des in ZANK 1991
S. 125 ff. publizierten Urteils H. vom 23. November 1990 sowie im nicht
veröffentlichten Urteil gleichen Datums in Sachen W.+S. hat das Eidg.
Versicherungsgericht festgestellt, dass im Rahmen von Art. 52 AHVG eine
gesetzliche Grundlage für die Anerkennung von Herabsetzungsgründen fehlt
und dass, selbst wenn solche Gründe in Anlehnung an Art. 44 OR oder
Art. 4 VG zugelassen würden, die Voraussetzungen für eine Herabsetzung
im konkreten Fall nicht gegeben seien. Im gleichen Sinn hat das Gericht
in den nicht veröffentlichten Urteilen G.+D. vom 22. April 1991 und
L. vom 29. September 1992 entschieden. Es hat damit die in der Literatur
(MAURER, Schweiz. Sozialversicherungsrecht, Bd. II, S. 70 f.; KNUS,
Die Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers in der AHV, Diss. Zürich 1989,
S. 56) wiederholt bejahte Frage nach der Zulassung von Herabsetzungsgründen
bei der Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG offen gelassen.

    In dem in AHI-Praxis 1994 S. 102 ff. veröffentlichten Urteil F.+T. vom
1. Oktober 1993 hat das Eidg. Versicherungsgericht ausgeführt, dass bei
der Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers eine Verschuldenskompensation
nicht in Betracht fällt und allfällige Unterlassungen der Ausgleichskasse
zu keiner Herabsetzung des Schadenersatzes führen. Das Gericht hat diesen
in der Folge wiederholt bestätigten Entscheid (nicht veröffentlichte
Urteile L. vom 22. November 1993 und T. vom 5. Oktober 1994 sowie das
in SVR 1996 AHV Nr. 74 S. 223 auszugsweise publizierte Urteil S. vom
31. August 1995) nicht näher begründet und sich auf die Urteile W.+S. und
H. vom 23. November 1990 sowie auf die Meinungsäusserung von KNUS gestützt,
wo die Frage jedoch offen gelassen bzw. im gegenteiligen Sinn beantwortet
worden ist. Es fragt sich, ob an dieser Praxis festgehalten werden kann.

    b) Das AHV-Recht enthält keine Bestimmung hinsichtlich der
Zulassung von Herabsetzungsgründen im Rahmen der Arbeitgeberhaftung
nach Art. 52 AHVG. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ein
qualifiziertes Schweigen des Gesetzgebers im Sinne eines Ausschlusses
von Herabsetzungsgründen vorliegt. Gesetz und Verordnung regeln die
Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers lediglich in allgemeiner Form,
und es lässt sich den Materialien nichts entnehmen, was auf eine negative
Stellungnahme des Gesetzgebers schliessen liesse. Weder äussert sich die
Botschaft des Bundesrates zum AHVG vom 24. Mai 1946 zur Herabsetzungsfrage
(BBl 1946 II 540), noch bildete die Frage Gegenstand der parlamentarischen
Beratungen (Sten.Bull. 1946 N 636, S 411). Es ist daher davon auszugehen,
dass das Gesetz in diesem Punkt lückenhaft ist (MAURER, aaO, S. 70; KNUS,
aaO, S. 56).

    Bezüglich der zivilrechtlichen Haftung aus unerlaubter Handlung
bestimmt Art. 44 Abs. 1 OR, dass der Richter die Ersatzpflicht
ermässigen oder gänzlich von ihr entbinden kann, wenn der Geschädigte
in die schädigende Handlung eingewilligt hat oder wenn Umstände,
für die er einstehen muss, auf die Entstehung oder Verschlimmerung
des Schadens eingewirkt oder die Stellung des Ersatzpflichtigen sonst
erschwert haben. Die Zulassung von Herabsetzungsgründen, wie sie Art. 44
Abs. 1 OR vorsieht, entspricht einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des
Haftungsrechts (vgl. OFTINGER/STARK, Schweiz. Haftpflichtrecht, 5. Aufl.,
Bd. I § 7 N. 9), welcher auch im öffentlichen Recht, insbesondere
im Staatshaftungsrecht, Anwendung findet (SCHWARZENBACH-HANHART,
Die Staats- und Beamtenhaftung in der Schweiz, 2. Aufl., S. 40). Das
Verantwortlichkeitsgesetz vom 14. März 1958 (VG; SR 170.32) sieht in
Art. 4 denn auch eine Art. 44 Abs. 1 OR analoge Regelung bezüglich der
Haftung des Bundes für den Schaden vor, den ein Beamter in Ausübung seiner
amtlichen Tätigkeit einem Dritten widerrechtlich zugefügt hat. Danach
kann die zuständige Behörde die Ersatzpflicht u.a. dann ermässigen oder
gänzlich von ihr entbinden, wenn der Geschädigte auf die Entstehung oder
Verschlimmerung des Schadens eingewirkt hat.

    Wie das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt ausgeführt hat, stellt
Art. 52 AHVG eine Spezialbestimmung innerhalb des Verantwortlichkeitsrechts
des Bundes dar, weshalb die dem VG zugrundeliegenden allgemeinen
Rechtsnormen auch bei der Auslegung von Art. 52 AHVG heranzuziehen sind
(BGE 114 V 220 Erw. 3b, 96 V 125). Dies hat auch dann zu gelten, wenn
das Haftungsrecht der AHV für eine bestimmte Rechtsfrage keine Regelung
enthält (vgl. BGE 112 Ia 262 Erw. 5). Art. 4 VG, welcher Ausdruck
eines allgemeinen haftungsrechtlichen Grundsatzes bildet, ist daher auch
im Rahmen von Art. 52 AHVG als sinngemäss anwendbar zu erachten. Zwar
betrifft die Bestimmung die Haftung des Bundes gegenüber geschädigten
Dritten, wogegen Art. 52 AHVG die Innenhaftung zwischen Bund und dem aus
öffentlichrechtlicher Organstellung haftenden Arbeitgeber beschlägt.
Mit KNUS (aaO, S. 56) ist jedoch darauf hinzuweisen, dass allfällige
Herabsetzungsgründe nach Art. 4 VG auch den vom Beamten gegenüber dem Bund
zu leistenden Schadenersatz beeinflussen (Art. 7 und 8 VG). Zudem sind die
Bestimmungen des OR über die Entstehung von Obligationen aus unerlaubter
Handlung und damit die Herabsetzungsgründe nach Art. 44 OR auch im Rahmen
der auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkten Innenhaftung des
Beamten gegenüber dem Bund sinngemäss anwendbar (Art. 8 und 9 Abs. 1
VG). Stichhaltige Gründe gegen eine analoge Anwendbarkeit im Rahmen von
Art. 52 AHVG und der - der Beamtenhaftung weitgehend nachgebildeten -
Haftung der Gründerverbände für Schäden, die infolge absichtlicher oder
grobfahrlässiger Missachtung der Vorschriften durch Kassenorgane oder
Kassenfunktionäre entstanden sind (Art. 70 AHVG), sind nicht ersichtlich
(vgl. zu Art 70 AHVG: BGE 105 V 119 ff., 106 V 204 ff. und 112 V 265 ff.,
wo das Eidg. Versicherungsgericht die Möglichkeit einer Herabsetzung
des Schadenersatzes im Hinblick auf eine allfällige Verletzung der
Aufsichtspflichten des Bundesamtes für Sozialversicherung zumindest in
Erwägung gezogen hat). Für die Zulassung von Herabsetzungsgründen sprechen
vielmehr auch verfassungsrechtliche Gründe. Denn wenn eine Haftung
der Kassenträger wegen grobfahrlässiger Missachtung von Vorschriften
(insbesondere Kontroll- und Aufsichtsvorschriften) durch Kassenorgane
oder Kassenfunktionäre anerkannt wird (Art. 70 AHVG), muss schon aus
Gründen der Rechtsgleichheit auch ein allfälliges Mitverschulden der
Aufsichtsbehörde berücksichtigt werden. Desgleichen verlangen die
Rechtsgleichheit und das Legalitätsprinzip, dass der Staat nicht nur
bei seiner Aussenhaftung gegenüber einer Privatperson (Art. 3 VG) ein
schadenerhöhendes Mitverschulden des Geschädigten, sondern als Geschädigter
auch das Mitverschulden eines seiner Organe berücksichtigt (Art. 8 VG,
Art. 52 AHVG).

    c) Nach dem Gesagten ist in Änderung der bisherigen Praxis
festzustellen, dass die Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG
einer Herabsetzung wegen Mitverschuldens der Verwaltung zugänglich
ist. Voraussetzung ist, dass sich die Verwaltung einer groben
Pflichtverletzung schuldig gemacht hat, was namentlich dann der Fall
ist, wenn sie elementare Vorschriften der Beitragsveranlagung und des
Beitragsbezugs missachtet hat.

    Wie im übrigen öffentlichen Verantwortlichkeitsrecht setzt die
Herabsetzung des Schadenersatzes im Rahmen von Art. 52 AHVG des weitern
voraus, dass zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem Schaden ein
adäquater Kausalzusammenhang besteht (SCHWARZENBACH-HANHART, aaO, S. 73
f.; GROSS, Schweizerisches Staatshaftungsrecht, S. 180 f. mit weiteren
Hinweisen; vgl. auch OFTINGER/STARK, aaO, § 7 N. 14). Eine Herabsetzung
kann daher nur erfolgen, wenn und soweit das pflichtwidrige Verhalten der
Verwaltung für die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens adäquat
kausal gewesen ist (vgl. zur Haftung des Arbeitgebers nach Art. 52 AHVG:
BGE 119 V 406 Erw. 4a).