Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 166



122 V 166

23. Auszug aus dem Urteil vom 10. April 1996 i.S. M. gegen
Arbeitslosenkasse des Kantons Zug und Verwaltungsgericht des Kantons
Zug Regeste

    Art. 4 BV, Art. 62 Abs. 3 VwVG, Art. 132 lit. c OG. Im Rahmen der
Anhörung vor einer beabsichtigten reformatio in peius ist die von einer
Verschlechterung der Rechtslage bedrohte Partei ausdrücklich darauf
hinzuweisen, dass sie ihr Rechtsmittel zurückziehen kann (Praxisänderung).

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Dauer der Einstellung bemisst sich nach dem Grad des
Verschuldens (Art. 30 Abs. 3 AVIG) und beträgt 1 bis 10 Tage bei leichtem,
11 bis 20 Tage bei mittelschwerem und 21 bis 40 Tage bei schwerem
Verschulden (Art. 45 Abs. 2 AVIV in der hier intertemporalrechtlich
anwendbaren, bis 31. Dezember 1995 gültig gewesenen Fassung). Die
Arbeitslosenkasse hat die Beschwerdeführerin für vier Tage eingestellt und
demzufolge ein leichtes Verschulden angenommen; die Vorinstanz hingegen
erachtete das Verschulden als mittelschwer und erhöhte die Einstellung
auf fünfzehn Tage. Der Entscheid des kantonalen Gerichts hat auf diese
Weise die angefochtene Verfügung zuungunsten der beschwerdeführenden
Partei geändert. Es liegt somit eine reformatio in peius vor (BGE 120
V 94 Erw. 5b und 104 Erw. 5b; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege,
2. Aufl., S. 249; ZIMMERLI, Zur reformatio in peius vel melius im
Verwaltungsrechtspflegeverfahren des Bundes, in: Mélanges Henri Zwahlen,
Lausanne 1977, S. 511 ff.).

Erwägung 2

    2.- a) Beabsichtigt eine Behörde, auf ein Rechtsmittel hin zu einer
reformatio in peius zu schreiten, hat sie gemäss konstanter Praxis die
betroffene Partei vorgängig darauf aufmerksam zu machen und ihr Gelegenheit
zu einer Stellungnahme einzuräumen. Dieser Grundsatz fliesst direkt aus
der verfassungsrechtlichen Garantie des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 4
BV. Dies gibt dem von einer Verschlechterung bedrohten Beschwerdeführer die
Möglichkeit, sein Rechtsmittel zurückzuziehen und damit den in Aussicht
stehenden ungünstigen Entscheid abzuwenden (BGE 120 V 94 Erw. 5a und 104
Erw. 5a, 118 V 188 Erw. 2d, je mit Hinweisen).

    b) aa) Gemäss der bisherigen Rechtsprechung hatte die Behörde der
von der reformatio in peius bedrohten Partei wohl das rechtliche Gehör
hinsichtlich der ins Auge gefassten Erledigung zu gewähren. Hingegen
bestand bisher keine Verpflichtung, ausdrücklich auf die Möglichkeit
des Beschwerderückzugs hinzuweisen (BGE 118 V 188 Erw. 2d in fine,
107 V 248 Erw. 1a in fine). Lediglich in dem in SVR 1995 AlV
Nr. 27 S. 67 veröffentlichten Urteil H. vom 12. Juli 1994 hat das
Eidg. Versicherungsgericht die Verpflichtung zum Hinweis auf die
Rückzugsmöglichkeit beiläufig erwähnt.

    bb) Der Sozialversicherungsprozess kennzeichnet sich u.a. durch
Einfachheit, was die Rechtsprechung als allgemeines für jeden
Verfahrensabschnitt beachtliches Prinzip bezeichnet hat (BGE 110
V 61 Erw. 4b). Der Gedanke der Einfachheit in Verbindung mit dem
Verfassungsprinzip der Fairness gemäss Art. 4 BV (dazu grundlegend
SALADIN, Das Verfassungsprinzip der Fairness, in: Erhaltung und Entfaltung
des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts,
Basel 1975, S. 41 ff.) ist auch in der vorliegenden Verfahrenslage
zu berücksichtigen: Die sich abzeichnende Verschlechterung der
Rechtsstellung im Verfahren einerseits, die Rückzugsmöglichkeit, welche
das Verfahren unmittelbar beendet, anderseits, hängen so eng zusammen,
dass konsequenterweise im Rahmen der richterlichen Gehörsgewährung
auf beide Punkte (Gefahr der Schlechterstellung und Möglichkeit des
Beschwerderückzuges) aufmerksam zu machen ist. Dies entspricht dem
Fairnessgebot, indem der das rechtliche Gehör gewährende Richter
selber um die Rückzugsmöglichkeit weiss, in vielen Fällen, gerade in
der Sozialversicherung, wo häufig ohne fachkundige Rechtsvertretung
prozessiert wird, aber nicht der Adressat dieser Mitteilung. Eine
erweiterte Aufklärungspflicht, wie sie das Eidg. Versicherungsgericht im
schon zitierten Urteil H. vom 12. Juli 1994 erwähnte, trägt daher dem
verfassungsrechtlichen Gehörsschutz am besten Rechnung. Im Rahmen eines
Meinungsaustausches in der Sache F., wo es zufolge Beschwerderückzuges
zu keinem Urteil kam, haben sich die beiden öffentlichrechtlichen
Abteilungen des Bundesgerichts dieser Auffassung für den Bereich des
Sozialversicherungsrechts angeschlossen.

    c) Der Klarheit halber sei beigefügt, dass von dieser Anerkennung
einer erweiterten richterlichen Hinweispflicht und ihren Folgen für
das Rechtsmittelverfahren die Frage zu unterscheiden ist, ob und
unter welchen Abänderungstiteln die Verwaltung im Anschluss an einen
den Prozess beendenden Beschwerderückzug befugt ist, auf die materiell
richterlich unbeurteilt gebliebene Verfügung zu Lasten des Versicherten
zurückzukommen. Unter dem Gesichtswinkel des Beschwerderückzuges im erst-,
nicht aber im zweitinstanzlichen Verfahren, wo es diesfalls beim Entscheid
des kantonalen Gerichtes bleibt, ist ein Zurückkommen auf die Verfügung
durch die Verwaltung grundsätzlich möglich, und zwar nach Massgabe der
Grundsätze der Rechtsprechung zur Abänderung formell rechtskräftiger
Verwaltungsakte (BGE 119 V 183 f. Erw. 3, 477 Erw. 1a, 116 V 298). Damit
ist die erweiterte richterliche Hinweispflicht, welche die Beendigung der
Rechtsmittelverfahren erleichtert, mit dem Gebot der Durchsetzung des
objektiv richtigen Rechtes vereinbar, um dessentwillen der Gesetzgeber
die reformatio in peius (vel melius) im Sozialversicherungsprozess
grundsätzlich zugelassen hat.

Erwägung 3

    3.- Vorliegend hat das kantonale Verwaltungsgericht die
Beschwerdeführerin im Rahmen eines zweifachen Schriftenwechsels vor der
Entscheidfällung weder auf die drohende Verschärfung der verfügten Sanktion
noch auf die Möglichkeit des Beschwerderückzugs hingewiesen. Wegen dieser
Verletzung des rechtlichen Gehörs ist ihr Entscheid aufzuheben, damit
sie der Versicherten Gelegenheit zu einer Stellungnahme zur reformatio
in peius gebe und sie darauf aufmerksam mache, dass sie die Beschwerde
zurückziehen kann.