Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 V 113



122 V 113

17. Urteil vom 13. Juni 1996 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen O.
und Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG, Art. 1 Abs. 1 und 2 GgV, Ziff. 404
GgV Anhang. Zusammenfassung der Rechtsprechung zum psychoorganischen
Syndrom (POS) gemäss Ziff. 404 GgV Anhang. An den Erfordernissen der
Diagnosestellung und Behandlung vor vollendetem 9. Altersjahr als
Anspruchsvoraussetzungen ist festzuhalten.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 3. Juni 1993 lehnte die Ausgleichskasse des
Kantons Basel-Landschaft das am 6. April 1993 von den Eltern der am 31.
Januar 1983 geborenen O. gestellte Begehren um Übernahme medizinischer
Massnahmen gemäss Art. 13 IVG im Zusammenhang mit der Behandlung
eines psychoorganischen Syndroms (POS; Ziff. 404 GgV Anhang) ab, weil
das Gebrechen erst nach Vollendung des 9. Altersjahres als solches
diagnostiziert und behandelt worden sei.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des
Kantons Basel-Landschaft mit Entscheid vom 2. März 1994 gut. Es erachtete
die Voraussetzungen zur Gewährung medizinischer Massnahmen als erfüllt.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen
Entscheides und Wiederherstellung der Kassenverfügung.

    O. lässt sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliessen. Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung.

    Auf die Begründungen wird, soweit erforderlich, in den nachfolgenden
Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 13 IVG (Abs. 1 in der bis Ende 1995 gültig gewesenen,
hier anwendbaren Fassung) haben minderjährige Versicherte Anspruch
auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen
Massnahmen. Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese
Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistung ausschliessen, wenn das
Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2).

    Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen,
die bei vollendeter Geburt bestehen. Die blosse Veranlagung zu einem
Leiden gilt nicht als Geburtsgebrechen. Der Zeitpunkt, in dem ein
Geburtsgebrechen als solches erkannt wird, ist unerheblich (Art. 1 Abs. 1
GgV). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang aufgeführt; das
Eidg. Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die nicht in
dieser Liste enthalten sind, als solche im Sinne von Art. 13 IVG bezeichnen
(Art. 1 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung
eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren,
die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt
sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise
anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV).

    b) Ziff. 404 GgV Anhang umschreibt folgendes Geburtsgebrechen:
Kongenitale Hirnstörungen mit vorwiegend psychischen und kognitiven
Symptomen bei normaler Intelligenz (kongenitales infantiles Psychosyndrom,
kongenitales hirndiffuses psychoorganisches Syndrom, kongenitales
hirnlokales Psychosyndrom), sofern sie mit bereits gestellter Diagnose
als solche vor Vollendung des 9. Altersjahres behandelt worden sind.

    Nach der Verwaltungspraxis gelten die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV
Anhang als erfüllt, wenn vor Vollendung des 9. Altersjahres mindestens
Störungen des Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigung
der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des
Erfassens (perzeptive, kognitive oder Wahrnehmungsstörungen),
der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit ausgewiesen
sind. Diese Symptome müssen kumulativ nachgewiesen sein, wobei es
genügt, wenn sie nicht alle gleichzeitig, sondern erst nach und nach
auftreten. Werden bis zum 9. Geburtstag nur einzelne der erwähnten
Symptome ärztlich festgestellt, sind die Voraussetzungen für Ziff.
404 GgV Anhang nicht erfüllt (Rz. 404.5 des Kreisschreibens über die
medizinischen Eingliederungsmassnahmen [KSME] in der ab 1. Januar 1994
gültigen Fassung). Das Eidg. Versicherungsgericht hat gestützt auf die
ständige Rechtsprechung zu den früher gültigen Verordnungsbestimmungen
und Verwaltungsweisungen einerseits die Gesetzmässigkeit der Ziff. 404
GgV Anhang (in der seit 1. Januar 1986 geltenden Fassung) und anderseits
die Verordnungskonformität der seit 1. Juni 1986 im wesentlichen
unveränderten Verwaltungsweisungen (Rz. 404.5 KSME) bestätigt (ZAK 1988
S. 610 Erw. 1a mit Hinweisen; nicht veröffentlichte Urteile H. vom 7. Mai
1992 und M. vom 10. Oktober 1994). Die Verordnungsregelung beruht auf der
medizinisch begründeten Annahme, dass das Gebrechen vor der Vollendung des
9. Altersjahres diagnostiziert und behandelt worden wäre, wenn es angeboren
gewesen wäre (BGE 105 V 22 Erw. b in fine, ZAK 1984 S. 33 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Die Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts zu Ziff. 404 GgV Anhang
entwickelte sich wie folgt:

    a) In BGE 105 V 22 Erw. b wurde dargelegt, dass der Bundesrat in
Art. 13 Abs. 2 Satz 1 IVG eine umfassende Kompetenz erhielt, aus der
Gesamtheit der Geburtsgebrechen im medizinischen Sinne jene auszuwählen,
für welche Massnahmen nach Art. 13 IVG zu gewähren sind. Er durfte sowohl
die generelle Regel von Art. 1 GgV als auch die speziellen Voraussetzungen
in einzelnen GgV-Ziffern aufstellen und dabei unter anderem Zwecke der
Praktikabilität berücksichtigen. Bei verschiedenen Geburtsgebrechen
ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten bezüglich der Frage, ob sie
bei vollendeter Geburt bestanden haben (Art. 1 GgV) oder erst später
eingetreten sind. Aus Gründen der Praktikabilität wurde in Ziff. 404 GgV
Anhang die Abgrenzung in der medizinisch begründeten Annahme gefunden,
dass das Gebrechen vor Vollendung des 9. Altersjahres diagnostiziert
und behandelt worden wäre, wenn es angeboren gewesen wäre. Eine solche
Abgrenzung ist durchaus berechtigt. Es kann keine Rede davon sein, dass die
Umschreibung in Ziff. 404 GgV Anhang den Rahmen der delegierten Kompetenz
offensichtlich sprenge. Nach dieser Ziffer kommt es einzig darauf an,
ob die Diagnose vor Vollendung des 9. Altersjahres "bereits gestellt" war;
die Frage, ob sie hätte gestellt werden können, ist irrelevant (BGE 105 V
23 Erw. c). Daran hat das Eidg. Versicherungsgericht seither festgehalten
(ZAK 1984 S. 33 Erw. 1, 1985 S. 283 Erw. 1, 1988 S. 610 Erw. 1a).

    b) Zur Frage, ob die bei fehlender Diagnosestellung und Behandlung
vor vollendetem 9. Altersjahr begründete Annahme, es liege kein
Geburtsgebrechen im Rechtssinne vor, widerlegbar sei - ob also dem
Versicherten der Beweis des Gegenteils offenstehe -, hat sich das
Eidg. Versicherungsgericht in BGE 105 V 21 nicht ausdrücklich geäussert. In
den folgenden Urteilen hat es seinen Erwägungen jeweils beigefügt, später
vorgenommene Abklärungsmassnahmen würden "kaum noch zuverlässig Aufschluss
über die Abgrenzungsfrage" geben, ob das Gebrechen bei vollendeter Geburt
bestanden habe oder später eingetreten sei (vgl. Art. 1 Abs. 1 GgV);
diese Formulierung liess offen, welche Rechtsfolge eintreten würde, wenn
bei Diagnosestellung und/oder Behandlung nach Ablauf des 9. Lebensjahres -
entgegen der empirischen Regel - der Nachweis der Existenz des Gebrechens
bei vollendeter Geburt gelingen sollte (ZAK 1984 S. 33 Erw. 1).

    c) Im Urteil K. vom 14. Mai 1981 wurde dagegen ausgeführt,
Ziff. 404 GgV Anhang beruhe auf der medizinisch begründeten Annahme,
dass das Gebrechen vor Vollendung des 9. Altersjahres diagnostiziert
und behandelt worden wäre, wenn es angeboren gewesen wäre. Freilich
hätte der Bundesrat für den Fall, dass bei vollendetem 9. Altersjahr das
Geburtsgebrechen entweder nicht diagnostiziert oder als solches nicht
behandelt worden ist, sich mit der widerlegbaren Vermutung begnügen
können, ein Geburtsgebrechen sei nicht ausgewiesen. Dass statt dessen
die Anspruchsvoraussetzungen schlechthin zu verneinen seien, beruhe
in Anbetracht der geschilderten medizinischen Erfahrungsregel indes
weder auf sinn- und zwecklosen Schlüssen, noch auf einer rechtlichen
Unterscheidung, die eines vernünftigen Grundes entbehren würde. - In
diesem Urteil hielt das Eidg. Versicherungsgericht somit erstmals fest,
dass es sich bei den in Ziff. 404 GgV Angang enthaltenen Erfordernissen
um Anspruchsvoraussetzungen handelt.

    d) In ZAK 1984 S. 33 Erw. 1 bestätigte das Gericht, den in Ziff. 404
GgV Anhang enthaltenen Erfordernissen komme nicht die Bedeutung einer
Beweisregelung, sondern der Gehalt von Anspruchsvoraussetzungen zu, so
dass die Leistungsberechtigung entfalle, wenn auch nur eines der beiden
Kriterien fehle.

    e) Im Urteil G. vom 7. November 1983 stellte das Gericht schliesslich
klar, es gehe nicht nur darum, ob ein POS als solches vorliege; vielmehr
müsse ausserdem feststehen, dass das Leiden angeboren sei. Nach Vollendung
des 9. Altersjahres durchgeführte Abklärungsmassnahmen könnten nach
dieser empirischen Erkenntnis nicht mehr zuverlässig Aufschluss über
die Abgrenzungsfrage geben, ob das Gebrechen angeboren war oder später
erworben wurde. "Somit begründet allein schon die fehlende Diagnosestellung
vor vollendetem 9. Altersjahr gemäss Ziff. 404 GgV die unwiderlegbare
Rechtsvermutung, dass dem POS der Charakter eines angeborenen Leidens
abgeht."

    f) Hinsichtlich des Zeitpunktes der Diagnosestellung gilt nach
der Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts folgendes: Wird die
Diagnose eines POS rechtzeitig gestellt und erfolgt im Hinblick darauf die
Behandlung ebenfalls rechtzeitig, so sind die Anspruchsvoraussetzungen
im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang erfüllt, auch wenn die Verwaltung
zunächst Zweifel an der Diagnosestellung hegte und deswegen eine
ergänzende Abklärung anordnete, die erst nach vollendetem 9. Altersjahr
eine Bestätigung der gestellten Diagnose ergibt (ZAK 1985 S. 284 Erw. 2).

    Gemäss dem Urteil A. vom 2. Mai 1985 müssen die Symptome zwar
kumulativ, nicht aber alle gleichzeitig vorhanden sein. Es genügt daher,
dass aufgrund der gesamten Anamnese alle für das POS symptomatischen
Störungen vor dem 9. Lebensjahr festgestellt werden können, wobei aber
nicht erforderlich ist, dass diese Symptome gleichzeitig in Erscheinung
treten und bei der Leistungszusprechung noch vorhanden sind.

    Mit dem Erfordernis der Diagnosestellung vor dem 9. Lebensjahr wird
nicht verlangt, dass bereits dannzumal sämtliche Symptome, welche den
ärztlichen Schluss auf ein Geburtsgebrechen nach Ziff. 404 GgV Anhang
stützen, genannt und festgehalten sein müssen. Die Anführung der jeweiligen
Krankheitszeichen ist erst für die beweisrechtliche Frage relevant,
ob die Diagnose zutrifft oder nicht (zit. Urteil A.).

    Die in Verordnung und Verwaltungspraxis aufgeführten Symptome sind für
den Arzt im Zeitpunkt der Diagnosestellung insofern massgebend, als er mit
ihrer Feststellung der Verwaltung gegenüber seine Diagnose erhärtet. Die
Verwaltung hat die Richtigkeit des ärztlichen Attests zu prüfen. Dabei darf
vom Vorliegen sämtlicher relevanter Symptome im entscheidenden Zeitpunkt
(9. Geburtstag) und der eingeleiteten Behandlung auf ein Geburtsgebrechen
geschlossen werden. Die Befristung bezweckt, spätere Einflussfaktoren
auszuschliessen, die mit dem Geburtsgebrechen nichts zu tun haben, aber
dennoch zu den erwähnten Symptomen führen können. Die Beweiskraft des
ärztlichen Attests ist deshalb zweifellos dann am grössten, wenn es vor
dem 9. Geburtstag ausgestellt wird. Dies schliesst indessen nicht aus,
dass mit ergänzenden späteren Abklärungen nachweisbar ist, es habe
nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bereits bei
vollendetem 9. Altersjahr die komplette Symptomatik des Geburtsgebrechens
Ziff. 404 GgV Anhang bestanden. Das Risiko der Beweislosigkeit, das mit
zunehmendem Zeitablauf grösser wird, geht zu Lasten des Versicherten
(nicht veröffentlichtes Urteil H. vom 7. Mai 1992).

Erwägung 3

    3.- a) aa) Die Vorinstanz erwog in ihrem Entscheid zunächst,
der Gesetzgeber habe dem Bundesrat in der Delegationsnorm einen weiten
Ermessensspielraum nur in der Auswahl der aufzunehmenden Geburtsgebrechen
gelassen. Sobald aber ein bestimmter Befund Aufnahme in die Liste
und damit Anerkennung als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG
gefunden habe, seien die Grenzen des normativen Ermessensspielraumes
erreicht. Die vorliegend streitigen Erfordernisse von Ziff. 404 GgV Anhang
fielen nicht mehr in den Bereich abschliessender Rechtsetzungsbefugnis
des Bundesrates, da sie sich als auf einen Listenbestandteil bezogenes
Abgrenzungskriterium nur mehr mittelbar auf die gesetzliche Delegationsnorm
stützen könnten. Es dürfe deshalb anhand von normunmittelbaren Kriterien
sowie des Regelungszusammenhangs mit der Delegationsnorm von einer
streng am Wortlaut orientierten Auslegung abgewichen werden, weil der
reine Wortsinn von der gesetzlichen Delegationsnorm selbst formal zwar
noch gedeckt werde, hingegen nicht mehr dem - mit dem Ermessensspielraum
identischen - Kernbereich der Delegation zuzuordnen sei.

    bb) Nach der Rechtsprechung kann das Eidg. Versicherungsgericht
Verordnungen des Bundesrates grundsätzlich, von hier nicht in Betracht
fallenden Ausnahmen abgesehen, auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen. Bei
(unselbständigen) Verordnungen, die sich auf eine gesetzliche Delegation
stützen, prüft es, ob sie sich in den Grenzen der dem Bundesrat im Gesetz
eingeräumten Befugnisse halten. Wird dem Bundesrat durch die gesetzliche
Delegation ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung
auf Verordnungsebene eingeräumt, muss sich das Gericht auf die Prüfung
beschränken, ob die umstrittenen Verordnungsvorschriften offensichtlich aus
dem Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz delegierten Kompetenzen herausfallen
oder aus andern Gründen verfassungs- oder gesetzwidrig sind. Es kann
jedoch sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen des Bundesrates
setzen und es hat auch nicht die Zweckmässigkeit zu untersuchen. Die vom
Bundesrat verordnete Regelung verstösst allerdings dann gegen Art. 4 BV,
wenn sie sich nicht auf ernsthafte Gründe stützen lässt, wenn sie sinn-
oder zwecklos ist oder wenn sie rechtliche Unterscheidungen trifft, für
die sich ein vernünftiger Grund nicht finden lässt. Gleiches gilt, wenn die
Verordnung es unterlässt, Unterscheidungen zu treffen, die richtigerweise
hätten berücksichtigt werden sollen (BGE 118 V 225 Erw. 2b mit Hinweis;
vgl. auch BGE 120 V 49 Erw. 3a, 118 Ib 538 Erw. 1).

    cc) Die Auffassung der Vorinstanz erweist sich als allzu
formalistisch. Der Anspruch gemäss Art. 13 IVG auf die zur Behandlung
von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen bei bis zu
20jährigen Versicherten besteht - anders als nach der allgemeinen
Bestimmung des Art. 12 IVG - unabhängig von der Möglichkeit einer
Eingliederung in das Erwerbsleben. Die Behandlung des Leidens an sich
ist hier nicht ausgeschlossen. Art. 13 IVG nimmt mit der weitgehenden
Privilegierung seiner Anwendungsfälle eine besondere Stellung im System
der Invalidenversicherung ein. Er trägt der Erkenntnis Rechnung, dass
es sich bei den Geburtsgebrechen weder um Krankheiten noch um Unfälle
handelt, so dass deren Behandlung begrifflich weder in das Gebiet der
Krankenversicherung noch in das der Unfallversicherung fällt. Im Hinblick
auf diese Vorzugsstellung kommt dem invalidenversicherungsrechtlichen
Begriff des Geburtsgebrechens eine besondere Bedeutung zu (ZAK 1961
S. 206). Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit gebieten nach zutreffender
Auffassung der Vorinstanz aufgrund dieser Sonderstellung eine strikte
Abgrenzung des Anwendungsbereiches dieser Bestimmung. In der GgV werden die
einzelnen leistungsbegründenden Geburtsgebrechen denn auch abschliessend
aufgezählt (unter Vorbehalt von Erweiterungen gemäss Art. 1 Abs. 2 Satz
2 GgV) sowie teilweise noch in qualitativer oder zeitlicher Hinsicht
näher umschrieben.

    Mit Art. 13 Abs. 2 IVG wurde dem Bundesrat somit eine umfassende
Kompetenz erteilt, aus der Gesamtheit der Geburtsgebrechen im medizinischen
Sinne jene auszuwählen, für welche Massnahmen nach Art. 13 IVG zu gewähren
sind (Geburtsgebrechen im Rechtssinne des IVG; BGE 105 V 22 Erw. b mit
Hinweisen). Kongenitale Hirnstörungen im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang
können sowohl angeboren (prä- oder perinatale Entstehung) als auch
nachgeburtlich erworben sein. Invalidenversicherungsrechtlich stellt
sich mithin nicht nur die Frage, ob ein POS als solches vorliegt;
vielmehr muss ausserdem feststehen, dass das Leiden angeboren
ist. Es ist somit notwendig, die prä- oder perinatal entstandenen
von den erworbenen Hirnstörungen abzugrenzen. Dabei geht es nicht
darum, auf dem Verordnungsweg eine zusätzliche Einschränkung eines
anspruchsbegründenden Tatbestandes einzuführen. Daraus folgt, dass -
entgegen der Meinung der Vorinstanz - für den Verordnungsgeber die Grenzen
des normativen Ermessensspielraumes mit der Aufnahme eines medizinischen
Erscheinungsbildes in die GgV noch nicht erreicht sind.

    dd) Der Verordnungsgeber durfte daher eine bestimmte Altersgrenze
und Kriterien sowohl der Diagnosestellung als auch der Behandlung
zur Bewältigung des Abgrenzungsproblems einführen. Die in Kraft
stehende Fassung von Ziff. 404 GgV Anhang wurde vom Bundesrat auf
Vorschlag der Eidg. Kommission für die medizinische Eingliederung in der
Invalidenversicherung, in welcher auch Kinderpsychiater vertreten waren,
beschlossen (Urteil K. vom 14. Mai 1981).

    Ziff. 404 GgV Anhang beruht demnach auf der medizinisch begründeten
und empirisch belegten Annahme, dass das Gebrechen vor Vollendung des 9.
Altersjahres diagnostiziert und behandelt worden wäre, wenn es angeboren
gewesen wäre. Zu einem spätern Zeitpunkt durchgeführte Abklärungsmassnahmen
können nach dieser empirischen Erkenntnis nicht mehr zuverlässig
Aufschluss über die Abgrenzungsfrage geben, ob das Leiden angeboren war
oder später erworben wurde (BGE 105 V 22; ZAK 1984 S. 33). Dabei handelt
es sich entgegen der unbelegten vorinstanzlichen Behauptung nicht um "eine
stark schematisierende und auf groben Annahmen beruhende Regelung". Das
kantonale Gericht unterlässt es im übrigen zu Recht, die vom Bundesrat
und der Verwaltung gewonnenen medizinischen Erkenntnisse in Frage zu
stellen. Es besteht auch heute kein Anlass, davon abzuweichen. Schliesslich
anerkennt auch die Vorinstanz ausdrücklich die Altersgrenze von 9 Jahren
als Anspruchsvoraussetzung. Sie findet nach den zutreffenden Ausführungen
des BSV ihre Begründung im wesentlichen darin, dass mit zunehmendem Alter
eine Abgrenzung zwischen angeborenen und erworbenen Störungen medizinisch
nicht mehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit möglich ist.

    ee) Nach dem Gesagten kann keine Rede davon sein, dass die in Ziff. 404
GgV Anhang umschriebenen Voraussetzungen im Sinne von Abgrenzungskriterien
nicht mehr in den Bereich der durch die Delegationsnorm des Art. 13 Abs. 2
Satz 1 IVG gedeckten Verordnungskompetenz des Bundesrates fielen. Die
Kriterien zur Abgrenzung des angeborenen vom erworbenen POS stützen sich
unmittelbar auf die gesetzliche Delegationsnorm und sind sachgerecht. Daran
ist festzuhalten.

    b) aa) Weiter argumentiert das kantonale Gericht, sei ein bestimmtes
angeborenes Leiden als Geburtsgebrechen im Sinne des Gesetzes anerkannt,
stehe es dem Verordnungsgeber nicht mehr frei, Voraussetzungen zu
statuieren, welche sich nicht ausschliesslich auf die Verifizierung des
medizinischen Befundes oder auf einen für die Anspruchsberechtigung
erforderlichen Intensitätsgrad im Sinne eines Abgrenzungskriteriums
beschränkten. Dies erhelle aus der Charakteristik von Art. 13 IVG als
Auffangnorm: Der Regelungsbereich dieser Bestimmung erfasse eine Gruppe
von Risiken, die sozialversicherungsmässig abzusichern seien und doch von
keinem der klassischen Sozialversicherungsgebiete abgedeckt würden. Der
Inhalt einschränkender Normen sei deshalb stets vor dem Hintergrund dieses
Gedankens gesetzgeberischer Motivation zu sehen.

    bb) Die Vorinstanz kann auch aus diesen Überlegungen zum
Normzweckgedanken nichts zugunsten ihrer Auffassung ableiten. Sie
übersieht, dass es mit den in Ziff. 404 Anhang GgV umschriebenen
Voraussetzungen - im Sinne von Abgrenzungskriterien - ausschliesslich
darum geht, ein bestimmtes Leiden als angeboren zu qualifizieren, damit
es als Geburtsgebrechen im Sinne des Gesetzes anerkannt werden kann.

    c) aa) Sodann argumentiert die Vorinstanz, die Auffassung des
Eidg. Versicherungsgerichts, wonach es sich bei den Erfordernissen
von Ziff. 404 GgV Anhang um Anspruchsvoraussetzungen handle,
folge einer streng am Wortlaut orientierten Auslegung. Aufgrund des
Verhältnismässigkeitsgrundsatzes sei es zur rechtsgenüglichen Bestimmung
eines POS-Befundes als Geburtsgebrechen indessen nicht erforderlich,
Diagnose und Behandlung kategorisch als Anspruchsvoraussetzungen zu
behandeln. Aus dem Normzweckgedanken heraus genüge gleichermassen die
dahingehende Umsetzung von Ziff. 404 GgV Anhang, dass bei fehlender
Diagnosestellung und Behandlung vor vollendetem 9. Altersjahr bloss die
widerlegbare Vermutung begründet werde, es liege kein Geburtsgebrechen
im Rechtssinne vor. Dabei sei zu beachten, dass die Altersgrenze von 9
Jahren an sich als Anspruchsvoraussetzung nicht zu beanstanden sei; einer
differenzierten Handhabung bedürften einzig die darauf bezogenen Kriterien
der Diagnose und der darauf gestützten Behandlung, und zwar wie folgt:

    "Die medizinisch-therapeutische Betreuung muss sich insgesamt als
   kontinuierlicher, zusammenhängender Vorgang darstellen und darf in
   der schliesslich zur endgültigen Diagnose führenden Form nicht erst
   nach dem massgeblichen Zeitpunkt gemäss Ziff. 404 des Anhanges zur
   GgV eingesetzt haben.

    Vor Vollendung des neunten Altersjahres mussten Untersuchungen bzw.

    Behandlungen vorgenommen worden sein, welche durch im wesentlichen
gleiche

    Symptome und Erscheinungen veranlasst worden waren, die danach zur
   zutreffenden Diagnose nach dem neunten Geburtstag geführt haben. (...)

    Das Erfordernis der Behandlung ist (...) im Sinne einer (...)

    Behandlungsbedürftigkeit zu interpretieren. Bei einem optimalen
Verlauf der
   diagnostischen Vorgänge wäre deshalb eine POS-spezifische Behandlung vor

    Vollendung des neunten Altersjahres angezeigt gewesen. (...)"

    Nach Sinn und Zweck von Ziff. 404 GgV Anhang darf schliesslich nach
Meinung der Vorinstanz ein POS, das vor Vollendung des 9. Altersjahres
feststellbar war, ohne weiteres als Geburtsgebrechen betrachtet
werden. Könnten die Erfordernisse der Verordnung umständehalber bis
zu diesem Zeitpunkt nicht eingehalten werden, so müsse aufgrund der
faktischen Quasi-Unmöglichkeit eines direkten Beweises das Vorliegen
eines POS (bzw. die Möglichkeit einer Diagnose und einer darauf
gestützten Behandlung) vor Vollendung des 9. Altersjahres nach dem
im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit erstellt sein.

    bb) Diese Argumentation vermag die Rechtsprechung des Eidg.
Versicherungsgerichts zum hier streitigen Geburtsgebrechen nicht in Frage
zu stellen.

    Die Vorinstanz verkennt, dass es bei den in Ziff. 404  GgV Anhang
umschriebenen Voraussetzungen nicht um "Eingriffe in Rechtspositionen
eines prinzipiell Anspruchsberechtigten aus Gründen der Praktikabilität"
geht, sondern um die Definition von Anspruchsvoraussetzungen mittels
Abgrenzungskriterien. Insbesondere hat es das Eidg. Versicherungsgericht
klar abgelehnt, diese Bestimmung dahingehend umzusetzen, dass bei
fehlender Diagnose und Behandlung vor dem 9. Altersjahr bloss die
widerlegbare Vermutung begründet würde, es liege kein Geburtsgebrechen im
Rechtssinne vor. Vielmehr ist daran festzuhalten, dass fehlende Diagnose
und Behandlung vor vollendetem 9. Altersjahr die unwiderlegbare
Rechtsvermutung begründen, dass es sich nicht um ein angeborenes
POS handelt. Damit entfällt auch der nachträgliche Beweis, dass die
Möglichkeit der Diagnosestellung und Behandlung vor Vollendung des
9. Altersjahres bestanden habe, und zwar unabhängig davon, dass laut
Auffassung der Vorinstanz beim Befundtypus des POS "eine Verzögerung
von Diagnose und spezifischer Behandlung gewissermassen in der Natur der
Sache liegt". Sodann ändert in diesem Zusammenhang der von der Vorinstanz
relevierte Umstand nichts, dass das POS ein komplexes Krankheitsbild
darstellt. Gerade auch deshalb erweist es sich als notwendig, an
den Erfordernissen der Ziff. 404 GgV Anhang, welche entgegen der
vorinstanzlichen Auffassung keinen teilweise hypothetischen Charakter
haben, festzuhalten. Weder kann zugestanden werden, dass eine mögliche
rechtzeitige Diagnose aus objektiver Sicht ex post als zulässig erscheint,
noch ist das Erfordernis der Behandlung aufgrund einer nachträglich
möglichen Diagnosestellung als Behandlungsbedürftigkeit zu interpretieren.

    cc) Abschliessend ist darauf hinzuweisen, dass die jüngste
Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts zur Frage des Zeitpunktes
der Diagnosestellung (Erw. 2f hievor) dem von der Vorinstanz im
angefochtenen Entscheid vertretenen Anliegen weitgehend entgegenkommt. Denn
laut dem zitierten Urteil H. vom 7. Mai 1992 ist nicht ausgeschlossen,
dass mit ergänzenden Abklärungen nach dem 9. Geburtstag nachweisbar
ist, es habe nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
bereits bei vollendetem 9. Altersjahr die komplette Symptomatik des
Geburtsgebrechens Ziff. 404 GgV Anhang bestanden.

Erwägung 4

    4.- a) Zur Krankengeschichte der Versicherten äussert sich die
Vorinstanz wie folgt:

    "Im vorliegenden Fall wurde das Kind im April 1991, also im Alter von
   achteinviertel Jahren, beim Schulpsychologischen Dienst (SPD) wegen

    Verdachts auf Legasthenie und Dyskalkulie angemeldet. Die zuständige

    Psychologin bestätigte mit Schreiben vom 30. August 1993 gegenüber der

    Vorinstanz die Darstellung der Eltern, dass in der Folge eine

    Legasthenietherapie durchgeführt worden sei, welche aber sistiert
worden
   sei, da die in der Therapie erzielten Leistungen nicht in den
   Schulalltag hätten umgesetzt werden können. In diesem Zusammenhang sei
   auch eine 'starke Geschwisterproblematik' festgestellt worden. Im Herbst
   1991 wurde der Tochter des Beschwerdeführers aufgrund des Erscheinens
   von 'Doppelbildern' eine Brille verordnet, wovon man sich eine Behebung
   der festgestellten visuellen Wahrnehmungsschwäche erhoffte. Zur selben
   Zeit fanden aufwendige Abklärungen (Magnetresonanztomographie,

    Elektroenzephalogramm) zwecks Ausschlusses eines allfälligen Hirntumors
   statt. Am 31. Januar 1992 vollendete die Tochter des Beschwerdeführers
   ihr neuntes Altersjahr. Anlässlich einer Untersuchung vom 31. März
   1993 wurde in der Kinderklinik des Spitals X schliesslich ein POS
   diagnostiziert. In seinem Bericht zuhanden der IV vom 26. April 1993
   hielt der behandelnde

    Arzt PD Dr. med. L. diesen Befund anhand der anamnestischen Daten
   (Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Konzentrations- und Antriebsstörungen,
   affektive Unausgeglichenheit, motorische Unruhe) und der Auswertung
   sogenannter Kinsbourne-Fragebogen fest."

    b) Gemäss dem kantonalen Gericht liessen die erwähnten Untersuchungen
und die Therapie vor dem 9. Geburtstag eine rechtzeitige Diagnose als
denkbar erscheinen. Legasthenie und Dyskalkulie begründeten im Zusammenhang
mit den konkreten Begleiterscheinungen jedenfalls den Verdacht auf
hirnfunktionelle Störungen, so dass die POS-spezifischen Abklärungen eher
zufällig erst nach anderen Untersuchungen vorgenommen worden seien. Das
zunächst als 'Geschwisterproblematik' gedeutete auffällige Sozialverhalten
habe zum kinderpsychiatrischen Befund mangelnden Selbstwertgefühls geführt,
welcher ohne weiteres durch die den 'POS-Kindern' gemeinhin zugeschriebene
Reizüberempfindlichkeit und Leistungsinkonstanz bedingt sein könne. Deshalb
schloss die Vorinstanz, die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang seien
nach der Aktenlage mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
vor dem 9. Geburtstag erfüllt gewesen.

    c) Diese Argumente vermögen nichts an der Tatsache zu ändern, dass
das POS im vorliegenden Fall nicht rechtzeitig diagnostiziert worden
ist. Zwar haben unbestrittenermassen seit 1991 und damit vor Vollendung
des 9. Altersjahres Untersuchungen stattgefunden. Diese Abklärungen
bezogen sich jedoch nie auf ein POS, sondern auf andere Krankheiten wie
Hirntumor, Sehprobleme und psychische Leiden. Selbst wenn sich dabei
Fehldiagnosen seitens der Ärzte ergeben haben sollten, lässt sich daraus
keine rechtzeitig gestellte richtige Diagnose ableiten. Daran ändert der
Umstand nichts, dass die objektive Erkennbarkeit des Geburtsgebrechens bei
richtiger Betreuung an sich möglich gewesen wäre. Zudem geht es nicht an,
bei der festgestellten Behandlungsbedürftigkeit bereits eine Behandlung
im Verordnungssinne anzunehmen; denn bei einer solchen Betrachtungsweise
würde der Rechtsbegriff der Behandlung die erforderliche Bestimmtheit
verlieren, und demzufolge könnte Ziff. 404 GgV Anhang die ihr zugedachte
Abgrenzungsfunktion praktisch nicht mehr erfüllen.

    Fehlt es aber an der Diagnosestellung und Behandlung des Gebrechens vor
Vollendung des 9. Altersjahres, so verneinte die Verwaltung den Anspruch
auf medizinische Massnahmen zu Recht.