Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 I 8



122 I 8

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. März 1996 i.S. P.H.
gegen Obergericht des Kantons Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 4 BV, Art. 67 f. GebVSchKG; unentgeltliche Rechtspflege im
SchKG-Beschwerdeverfahren.

    Der aus Art. 4 BV abgeleitete Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung kann im SchKG-Beschwerdeverfahren nicht grundsätzlich
mit dem Hinweis ausgeschlossen werden, gemäss Art. 67 f. GebVSchKG würden
keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen zugesprochen. Soweit das
SchKG-Beschwerdeverfahren der Offizialmaxime untersteht, ist jedoch die
Mitwirkung eines Rechtsanwaltes in aller Regel nicht erforderlich.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügungen vom 6. bzw. 7. November 1995 erhöhte das
Betreibungsamt Wasseramt (Solothurn) in der gegen P.H. laufenden
Lohnpfändung den pfändbaren Einkommensteil per 1. April 1996 von Fr. 147.--
auf Fr. 341.-- pro Monat.

    Dagegen beschwerte sich P.H. beim Obergericht des Kantons
Solothurn als Aufsichtsbehörde über Schulbetreibung und Konkurs. Für das
Beschwerdeverfahren ersuchte er um die Beiordnung eines unentgeltlichen
Rechtsbeistandes, welches Gesuch vom Vizepräsidenten der Aufsichtsbehörde
mit Verfügung vom 8. Januar 1996 abgewiesen wurde.

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 22. Januar 1996 beantragt
P.H. dem Bundesgericht im wesentlichen, die Verfügung der Aufsichtsbehörde
aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege
wurde von der Aufsichtsbehörde mit der Begründung abgewiesen, die Praxis
schliesse aus Art. 67 f. GebVSchKG (SR 281.35), dass im Beschwerdeverfahren
vor der Aufsichtsbehörde kein Anspruch auf kostenlose Verbeiständung
bestehe. Das Bundesgericht habe sich zu dieser speziellen Frage noch
nie geäussert. Der Beschwerdeführer erachtet diese Auffassung für
verfassungswidrig und hält dafür, dass die Aufsichtsbehörde gestützt auf
Art. 4 BV die unentgeltliche Rechtsvertretung hätte bewilligen müssen.

    a) Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege wird in erster Linie
durch das kantonale Prozessrecht geregelt. Unabhängig davon wird ein
Mindestanspruch der bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtspflege in
einem nicht aussichtslosen Prozess direkt aus Art. 4 BV abgeleitet. Dieser
Anspruch beinhaltet einerseits die Befreiung von den Verfahrenskosten
und anderseits - soweit notwendig - das Recht auf einen unentgeltlichen
Rechtsbeistand (BGE 121 I 60 E. 2a S. 61 f. mit Hinweisen).

    b) Das SchKG-Aufsichtsverfahren ist gemäss Art. 67 GebVSchKG
gebührenfrei. Soweit der Vizepräsident der Aufsichtsbehörde in der
Kurzbegründung seiner Verfügung auf die Gebührenfreiheit anspielt
und mit Hinweis auf Art. 67 GebVSchKG den Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung ausschliesst, ist der Entscheid zum vornherein unhaltbar,
weil die Gebührenfreiheit keinen Einfluss auf die Frage der Beiordnung
eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes haben kann.

    c) In seiner neueren Rechtsprechung hat das Bundesgericht den
verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung
kontinuierlich ausgedehnt (vgl. 121 I 60 E. 2a/bb S. 62 und 121 I
314 E. 2b S. 315 f., je mit Hinweisen). Namentlich im Bereich des
SchKG wurde der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung für das
Konkursverfahren zufolge Insolvenzerklärung bejaht (BGE 118 III 27,
118 III 33, 119 III 113). Umgekehrt hat das Bundesgericht unter Hinweis
auf die Gebühren- und Entschädigungsfreiheit des Beschwerdeverfahrens
(Art. 68 Abs. 2 GebVSchKG) in bezug auf das Verfahren vor Bundesgericht
gemäss Art. 78 ff. OG eine gesetzliche Grundlage für die Beiordnung eines
Armenanwaltes nach Massgabe von Art. 152 OG verneint (BGE 102 III 10
E. 1 S. 12 f.). Dieser letzte Entscheid wurde in der Literatur als allzu
formalistisch kritisiert (FRITZSCHE/WALDER, Schuldbetreibung und Konkurs
nach schweizerischem Recht, Band I, Zürich 1984, § 15 Rz. 14). Die neuere
Literatur befürwortet die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege - und
damit auch der unentgeltlichen Verbeiständung - im Betreibungsverfahren
(ADRIAN STAEHELIN, Die betreibungsrechtlichen Streitigkeiten, in FS 100
Jahre SchKG, Zürich 1989, S. 81 f.; PIERMARCO ZEN-RUFFINEN, Assistance
judiciaire et administrative: Les règles minima imposées par l'article
4 de la constitution fédérale in: JdT 137 [1989], S. 58 f.).

    Gemäss Art. 68 Abs. 2 GebVSchKG wird im Beschwerdeverfahren keine
Parteientschädigung zugesprochen; wer sich durch einen Rechtsanwalt
vertreten lässt, wird dessen Kosten ungeachtet des Verfahrensausgangs
stets selber zu tragen haben. Im Lichte von Art. 4 BV darf die Möglichkeit
des Beizugs eines Rechtsanwalts indessen nicht von der finanziellen
Leistungsfähigkeit der Partei abhängen. Der Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung kann deshalb für das Beschwerdeverfahren nicht
grundsätzlich ausgeschlossen werden, sowenig als dies für das ebenso
kosten- und entschädigungsfreie mietrechtliche Schlichtungsverfahren
(Art. 274d Abs. 2 OR) zutrifft (BGE 119 Ia 264 E. 4c S. 268).

    Natur und Besonderheiten des Beschwerdeverfahrens, in welchem in
gewissen Fällen von Bundesrechts wegen die Offizialmaxime gilt (BGE 107
III 1 E. 1 S. 2), rechtfertigen es jedoch, an die Voraussetzungen, unter
denen eine Verbeiständung durch einen Rechtsanwalt sachlich geboten ist
(BGE 121 I 314 E. 2b S. 315 f. mit Hinweisen), wie in mietrechtlichen
Schlichtungsverfahren einen strengen Masstab anzulegen (BGE 119 Ia
264 E. 4c S. 269 mit Hinweisen). In einem vom Untersuchungsgrundsatz
beherrschten Verfahren - und bei der Ermittlung des pfändbaren Einkommens
haben die Betreibungsbehörden die massgebenden tatsächlichen Verhältnisse
von Amtes wegen abzuklären (BGE 106 III 11 E. 2 S. 13 mit Hinweisen) -
wird sich die Mitwirkung eines Rechtsanwalts in aller Regel als nicht
erforderlich erweisen (BGE 119 I 264 E. 4c S. 269).

    d) Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben. Das Obergericht wird zu
prüfen haben, ob die Voraussetzungen zur unentgeltlichen Verbeiständung
des Beschwerdeführers durch einen Rechtsanwalt im Beschwerdeverfahren
erfüllt sind.