Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 I 253



122 I 253

34. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. Mai 1996
i.S. P. AG gegen R. und Handelsgericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Staatsrechtliches Beschwerdeverfahren (Art. 83 ff.); Gesetzeslücke;
Waffengleichheit (Art. 6 EMRK).

    Das Fehlen einer sogenannten "Anschlussbeschwerde" im staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren kann weder als Gesetzeslücke (E. 6a-b) noch
als Verstoss gegen den aus Art. 6 EMRK abgeleiteten Grundsatz der
Waffengleichheit betrachtet werden (E. 6b-d).

Sachverhalt

    A.- R. ist Eigentümer eines Grundstücks in B., das zu rund 40% mit
einem Gewerbegebäude überbaut ist. Die P. AG, die Mieträume suchte, traf
im Sommer 1990 durch Vermittlung eines Architekten mit R. zusammen. Sodann
wurde ein Projekt für den Bau eines Gewerbegebäudes auf dem Grundstück
von R. ausgearbeitet, wobei die P. AG beabsichtigte, lediglich einen Teil
des Neubaus zu mieten. Die Parteien liessen Pläne ausarbeiten, konnten
sich aber nicht auf die Höhe des Mietzinses einigen. Anfangs Januar 1992
wurde die Baubewilligung erteilt. Da weiterhin keine Einigung über den
Mietzins erzielt werden konnte, brach die P. AG Ende Januar 1992 die
Verhandlungen ab.

    B.- Am 3. Mai 1993 reichte R. beim Handelsgericht des Kantons Aargau
Klage gegen die P. AG ein. Er verlangte die Zahlung von Fr. 369'977.10
nebst Zins zu 5% seit dem 1. Juni 1992, eventualiter die Liquidation der
einfachen Gesellschaft R./P. AG. Die P. AG beantragte die vollumfängliche
Abweisung der Klage und widerklageweise die Zusprechung von Fr. 58'603.--
nebst 5% Zins seit dem 29. Juli 1993. In der Replik reduzierte R. sein
Begehren auf Fr. 369'689.25.

    In teilweiser Gutheissung der Klage und in Abweisung der Widerklage
verpflichtete das Handelsgericht am 28. April 1995 die P. AG, R. den Betrag
von Fr. 101'970.10 zuzüglich 5% Zins seit dem 3. Mai 1993 zu bezahlen.

    C.- In der Vernehmlassung zur staatsrechtlichen Beschwerde der P. AG
schliesst R. auf Abweisung des Rechtsmittels und erhebt eine sogenannte
"Anschlussbeschwerde", mit der er ebenfalls die Aufhebung des angefochtenen
Urteils beantragt.

    Das Bundesgericht tritt auf die sogenannte "Anschlussbeschwerde"
nicht ein,

Auszug aus den Erwägungen:

                   aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 6

    6.- Der Beschwerdegegner hat "Anschlussbeschwerde" erklärt.  Es ist
ihm bewusst, dass dieses Rechtsmittel im Bundesrechtspflegegesetz nicht
vorgesehen ist. Er macht aber geltend, der Grundsatz der Waffengleichheit
gebiete, dass eine Partei, die sich vorerst mit dem kantonalen Entscheid
abgefunden habe, die Sachverhaltsfeststellungen anfechten könne,
wenn dies die Gegenpartei mit einer staatsrechtlichen Beschwerde getan
habe. Das Bundesgesetz weise eine entsprechende Lücke auf, die von der
Rechtsprechung durch die Zulassung einer sogenannten Anschlussbeschwerde
gefüllt werden müsse.

    a) Für die Interpretation des Prozessrechts gelten die allgemeinen
Regeln über die Gesetzesauslegung. Allfällige Lücken sind analog zu Art. 1
Abs. 2 ZGB durch richterliche Rechtsschöpfung zu füllen (MAX GULDENER,
Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., 1979, S. 52 f.; MEIER-HAYOZ,
Berner Kommentar, N. 72 ff. zu Art. 1 ZGB). Die im materiellen Zivilrecht
für die Lückenfüllung entwickelten Grundsätze gelten analog für das
Prozessrecht (HENRI-ROBERT SCHÜPBACH, Traité de procédure civile, Bd. I,
S. 182 ff.).

    Eine Lücke "praeter legem" liegt vor, wenn das Gesetz auf eine sich
stellende Frage überhaupt jede Antwort schuldig bleibt (echte Lücke)
oder eine Antwort gibt, die aber als sachlich unhaltbar angesehen werden
muss (unechte Lücke; vgl. MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 271 zu Art. 1
ZGB). Ob eine unechte Lücke von den Gerichten über den Rahmen von Art. 2
Abs. 2 ZGB hinaus ausgefüllt werden darf, ist in der Lehre mit guten
Gründen bestritten worden (MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 295 ff. zu
Art. 1 ZGB). Die Frage braucht hier nicht erörtert zu werden, da weder
eine echte noch eine unechte Lücke vorliegt.

    b) Aus dem Umstand, dass das Bundesrechtspflegegesetz die Frage nicht
ausdrücklich regelt, kann nicht auf das Vorliegen einer echten Lücke
geschlossen werden. Grundsätzlich sind nur die Rechtsmittel zulässig, die
das Gesetz ausdrücklich vorsieht. Das Nichterwähnen einer sogenannten
Anschlussbeschwerde im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde
kann im Sinn eines qualifizierten Schweigens verstanden werden. Der
Beschwerdegegner behauptet zu Recht nicht, das Gesetz hätte sich zu dieser
Frage ausdrücklich äussern müssen. Er hält vielmehr das Fehlen einer
"Anschlussbeschwerde" als rechtspolitisch nicht vertretbar, als gegen den
aus Art. 6 EMRK abgeleiteten Grundsatz der Waffengleichheit verstossend.

    c) Die neuere Rechtsprechung trägt dem Gebot der Waffengleichheit
insoweit Rechnung, als eine staatsrechtliche Beschwerde nicht bereits
gutzuheissen ist, wenn der kantonalen Instanz in irgendeinem Punkt eine
willkürliche Sachverhaltsfeststellung oder Rechtsanwendung vorgeworfen
werden kann. Der angefochtene Entscheid muss sich vielmehr auch im
Ergebnis als verfassungswidrig erweisen (BGE 118 Ia 118 E. 1c mit
Hinweisen; KARL SPÜHLER, Die Praxis der staatsrechtlichen Beschwerde,
Rz. 502). Der Beschwerdegegner kann sich in seiner Vernehmlassung nicht
nur mit den Rügen der beschwerdeführenden Partei auseinandersetzen. Er
darf auch eigene Rügen erheben, soweit diese darlegen sollen, dass trotz
der Stichhaltigkeit der vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen und
in Abweichung der im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen
und vorgenommenen Rechtsanwendung der getroffene Entscheid im Ergebnis
richtig ist (BGE 101 Ia 521 E. 3, 115 Ia 27 E. 4a; WALTER KÄLIN, Das
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., 1994, S. 221 f.;
MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, S. 229
Fn. 25; KARL SPÜHLER, aaO, Rz. 75). Dem Beschwerdegegner stehen somit
für die Verteidigung des angefochtenen Entscheides, mit dem er sich
grundsätzlich abgefunden hat, der Beschwerde ebenbürtige Behelfe zur
Verfügung. Die Waffengleichheit ist insoweit gewahrt.

    d) Eine Verletzung der Waffengleichheit könnte allenfalls denkbar
sein, wenn die im kantonalen Verfahren unterlegene Partei ausschliesslich
Berufung erhebt, weil das kantonale Gericht Bundesrecht falsch angewendet
haben soll. Diesfalls kann der Rechtsmittelgegner in der Berufungsantwort
nicht geltend machen, der Vorwurf der falschen Rechtsanwendung sei zwar
zutreffend, der Entscheid im Ergebnis aber dennoch richtig, weil das
Gericht den Sachverhalt willkürlich festgestellt habe. In einem solchen
Fall könnte es sich rechtfertigen, mit einer sogenannten staatsrechtlichen
Anschlussbeschwerde auf die Berufung der Gegenpartei zu reagieren. Das
Bundesgericht hat aber auch in diesen Fällen einen anderen Weg beschritten,
indem es - in Abweichung zu einzelnen Entscheiden (BGE 89 I 513 E. 4
S. 523) - die im kantonalen Verfahren obsiegende Partei als legitimiert
angesehen hat, innert der gesetzlichen Frist staatsrechtliche Beschwerde
für den Fall zu erheben, dass die Gegenpartei mit einer Berufung an das
Bundesgericht gelangt (BGE 86 I 224 ff., 96 I 462 E. 3; MESSMER/IMBODEN,
aaO, S. 201 und 229 Fn. 25; siehe auch THOMAS GEISER, in: Prozessieren
vor Bundesgericht, Rz. 1.5).

    Eine vorsorgliche staatsrechtliche Beschwerde, die nur im Hinblick
auf eine allfällige eidgenössische Berufung der Gegenseite ergriffen
wird, kann für die beschwerdeführende Partei mit einem erheblichen
Aufwand verbunden sein, der sich möglicherweise im nachhinein als
überflüssig erweist. Dies gilt aber auch für jene Partei, welche
ihre Berufung mit einer staatsrechtlichen Beschwerde verbindet. Wird
eines der beiden Rechtsmittel gutgeheissen, erweist sich das andere
als vorsorgliche Rechtsvorkehr, und die das Rechtsmittel erhebende
Partei hat die entsprechenden Verfahrenskosten zu tragen, obgleich sie
möglicherweise wegen des anderen Rechtsmittels ihr Ziel erreicht hat. Diese
Unzukömmlichkeiten sind die zwingende Folge des Umstandes, dass mit der
Berufung keine Verfassungsverletzung geltend gemacht werden kann.

    e) Es besteht somit keinerlei Grund, eine sogenannte
Anschlussbeschwerde zuzulassen. Es liegt weder eine echte noch eine unechte
Gesetzeslücke vor. Auf die "Anschlussbeschwerde" des Beschwerdegegners ist
deshalb nicht einzutreten. Als selbständige staatsrechtliche Beschwerde
ist sie verspätet.