Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 I 130



122 I 130

22. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 12.
Juni 1996 i.S. U. E. gegen Anwaltskammer und Verwaltungskommission des
Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Zulassung von Behinderten zum Anwaltsberuf; persönliche Freiheit;
Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 BV).

    Subsidiarität der persönlichen Freiheit gegenüber der Handels- und
Gewerbefreiheit (E. 2)?

    Die Handels- und Gewerbefreiheit gibt keinen Anspruch darauf, dass die
Fähigkeitsanforderungen an die Zulassung zum Anwaltsberuf für Behinderte
gesenkt werden (E. 3).

Sachverhalt

    A.- E., geboren 1967, leidet seit seiner Geburt an einer
armbetonten spastischen Halbseitenlähmung links. Damit verbunden
ist eine motorische Behinderung und eine "migraine accompagnée", die
vor allem bei Prüfungsstress zum Teil höher dosierte medikamentöse
Behandlung erforderlich macht. Er unterzog sich am 9. September 1993
der schriftlichen, am 13. September 1993 der mündlichen st. gallischen
Anwaltsprüfung. Mit Schreiben vom 29. Oktober 1993 teilte ihm die
Prüfungskommission mit, dass seine schriftliche Arbeit ungenügend sei;
er erhalte Gelegenheit, diese am 10. März 1994 zu wiederholen.

    Am 10. März 1994 trat E. zur schriftlichen Nachprüfung an. Mit
Schreiben vom 29. April 1994 teilte ihm die Prüfungskommission für
Anwälte mit, dass seine schriftliche Nachprüfungsarbeit ungenügend sei
und er demgemäss die Anwaltsprüfung nicht bestanden habe. Am 27. Mai
1994 reichte E. bei der Prüfungskommission ein Wiedererwägungsgesuch
ein mit dem Hauptantrag, die schriftliche Arbeit bzw. schriftliche
Nachprüfungsarbeit sei als genügend zu befinden; eventualiter sei
ausnahmsweise die schriftliche Prüfung teilweise bzw. die schriftliche
Nachprüfung zu erlassen. Zur Begründung führte er an, während der
schriftlichen Strafrechtsprüfung am Vormittag des 9. Septembers 1993
aufgrund der durch behinderungsbedingte Kopfschmerzen gesteigerten
Empfindlichkeit verstärkt das Wasserplätschern des Brunnens im Innenhof
vor dem Prüfungsraum vernommen zu haben. Im Januar und Februar 1994 habe
er infolge behinderungsbedingter Sehstörungen, Kopfschmerzen und Schwindel
sein Lernen unterbrechen müssen; vor der schriftlichen Nachprüfung habe
er gegen aufkommende Kopfschmerzen Medikamente einnehmen müssen.

    Am 1. Juli 1994 trat das neue st. gallische Anwaltsgesetz vom
11. November 1993 in Kraft, welches in Art. 13 die Bewilligung zur
Berufsausübung als Rechtsanwalt vom Bestehen einer Prüfung abhängig
macht. Gemäss Art. 47 des Anwaltsgesetzes wird, wer nach bisherigem
Recht zur Berufsausübung berechtigt ist, ohne neue Bewilligung in das
Berufsregister eingetragen.

    Mit Schreiben vom 8. Juli 1994 lehnte die Anwaltsprüfungskommission
den im Wiedererwägungsgesuch gestellten Hauptantrag ab und trat auf den
Eventualantrag nicht ein, da nach dem neuen Anwaltsgesetz ein Erlass
der Prüfung nicht mehr möglich sei. Hingegen erklärte sie sich bereit,
einen zweiten Versuch für die Anwaltsprüfung in einem der Behinderung
angepassten Ablauf durchzuführen.

    Am 8. August 1994 stellte E. bei der Anwaltskammer den Antrag, er
sei in Anwendung von Art. 47 des Anwaltsgesetzes in das Berufsregister
einzutragen und es sei ihm gemäss Art. 13 die Bewilligung zur
Berufsausübung zu erteilen. Zur Begründung führte er aus, vor Inkrafttreten
des Anwaltsgesetzes habe das auf ihn angewendete Prüfungsreglement für
Anwälte vom 22. Dezember 1988 keine genügende Rechtsgrundlage gehabt und
sei deshalb nicht geltendes Recht gewesen. Aufgrund der damals geltenden
Bestimmung von Art. 59 des Zivilrechtspflegegesetzes vom 20. März 1939 sei
die Bewilligung zur Berufsausübung nicht an das Bestehen einer Prüfung,
sondern nur daran geknüpft gewesen, dass der Bewerber die nötigen
Fähigkeiten besitze. Er, der Gesuchsteller, besitze diese Fähigkeiten;
dass die schriftliche Prüfungsarbeit im Strafrecht vom 9. September
1993 als ungenügend bewertet worden sei, sei nur darauf zurückzuführen,
dass er durch behinderungsbedingten Stress kognitive Störungen erlitten
habe, so dass er im Sachverhalt die Daten nicht richtig habe würdigen
können. Im Lichte der Handels- und Gewerbefreiheit müssten diese
behinderungsbedingten kognitiven Störungen bei der Prüfungsbewertung
Berücksichtigung finden. Eine Wiederholung der Prüfung komme für ihn
wegen der damit verbundenen abnormen Stressbelastung nicht in Frage.

    Die Anwaltskammer lehnte mit Entscheid vom 28. November 1994
die Erteilung der Bewilligung zur Berufsausübung ab, gab aber E. die
Gelegenheit, die schriftlichen Nachprüfungen 1995 zu wiederholen. Gegen
diesen Entscheid erhob E. am 7. Februar 1995 Beschwerde an die
Verwaltungskommission des Kantonsgerichts und stellte den Antrag, den
Entscheid der Anwaltskammer aufzuheben und die Anwaltskammer anzuweisen,
ihn in das Berufsregister einzutragen und ihm die Bewilligung zur
Berufsausübung zu erteilen. Die Verwaltungskommission des Kantonsgerichts
wies die Beschwerde mit Urteil vom 18. Mai 1995 ab.

    E. erhebt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und
31 BV, der persönlichen Freiheit, Art. 27 und 30 KV/SG sowie Art. 6 EMRK.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der persönlichen
Freiheit, indem seine Gesundheit durch prüfungsbedingten Stress erheblich
beeinträchtigt werde, wenn von ihm verlangt werde, zur Ausübung des
Anwaltsberufs eine gleich anspruchsvolle Prüfung abzulegen wie ein
Nichtbehinderter.

    Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung tritt das Grundrecht
der persönlichen Freiheit gegenüber den speziellen Verfassungsrechten
zurück (BGE 117 Ia 27 E. 5b S. 30, mit Hinweisen), so dass die Ausübung
von Erwerbstätigkeiten nur durch die Handels- und Gewerbefreiheit,
nicht aber durch die persönliche Freiheit geschützt ist (BGE 99 Ia 504
E. 3 S. 509; WALTER HALLER, Kommentar zur Bundesverfassung, Rz. 99 zur
persönlichen Freiheit). Ob die besondere Bedeutung der Berufswahlfreiheit
für die Persönlichkeitsentfaltung eine kumulative Berufung auf beide
Grundrechte rechtfertigen kann (so ETIENNE GRISEL, Liberté du commerce
et de l'industrie, Berne 1993, vol. I, S. 112), braucht vorliegend
nicht entschieden zu werden, da den persönlichkeitsbezogenen Aspekten
auch im Rahmen der Handels- und Gewerbefreiheit Rechnung getragen
werden kann. Auf die Frage, wie weit infolge der Behinderung des
Beschwerdeführers allenfalls ein Anspruch auf weniger strenge Beurteilung
von Prüfungsarbeiten besteht, ist demnach im Rahmen der Rüge der Verletzung
der Handels- und Gewerbefreiheit einzugehen. Das gilt nicht nur für das
bundesverfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht der persönlichen
Freiheit, sondern auch für die entsprechende Garantie von Art. 30 der
st. gallischen Kantonsverfassung.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der Handels- und
Gewerbefreiheit und der Rechtsgleichheit.

    a) Die Handels- und Gewerbefreiheit gewährleistet das Recht, einen
bestimmten Beruf, unter anderem auch den Anwaltsberuf, zu ergreifen oder
auszuüben (BGE 103 Ia 394 E. 2c S. 401; 116 Ia 237 E. 2d S. 240; 119 Ia
41 E. 4a S. 42, 374 E. 2a S. 375; GRISEL, aaO, S. 120 f.; RENÉ RHINOW,
Kommentar zur Bundesverfassung, Rz. 79 zu Art. 31; CHRISTOPH ANDREAS
ZENGER, Die Bedeutung der Freiheit wirtschaftlicher Entfaltung für eine
freie Berufswahl, Diss. Bern 1985, S. 381 ff.). Einschränkungen müssen auf
einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen
und die Grundsätze der Verhältnismässigkeit sowie der Rechtsgleichheit
beachten (BGE 119 Ia 374 E. 2a S. 375; 120 Ia 126 E. 4a S. 132; 121 I
129 E. 3b S. 131 f., 326 E. 2b, S. 329).

    b) Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen einer genügenden
gesetzlichen Grundlage für das Erfordernis, eine Anwaltsprüfung abzulegen.

    aa) Art. 59 des bis zum 30. Juni 1994 geltenden Gesetzes vom 20. März
1939 über die Zivilrechtspflege (ZP) lautete wie folgt:

    "Das Kantonsgericht erteilt die Bewilligung zur Ausübung des Berufs
eines

    Anwaltes oder Rechtsagenten an Personen, welche die nötigen Fähigkeiten
   besitzen, Schweizerbürger sind und in bürgerlichen Ehren und Rechten
   stehen. Es kann die Bewilligung zur Berufsausübung nach Anhören der

    Aufsichtskommission dauernd oder zeitweise zurückziehen.

    Es erlässt eine Anwaltsordnung, die der Genehmigung durch den

    Regierungsrat untersteht... ."

    Gestützt darauf erliess das Kantonsgericht am 2. Juni 1958 eine (vom
Regierungsrat am 24. Juni 1958 genehmigte) Anwaltsordnung, deren Art. 1
wie folgt lautete:

    "Die Bewilligung zur Ausübung des Anwalts- oder Rechtsagentenberufs
wird

    Schweizerbürgern und Schweizerbürgerinnen erteilt, die handlungsfähig,
gut
   beleumdet und zutrauenswürdig sind und in bürgerlichen Ehren und
   Rechten stehen.

    Der Bewerber muss vor der st. gallischen Prüfungskommission mit Erfolg
   eine Fähigkeitsprüfung bestanden haben oder einen Fähigkeitsausweis im

    Sinne von Art. 5 der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung
besitzen.

    Die Fähigkeitsprüfung kann dem Bewerber ausnahmsweise ganz oder
teilweise
   erlassen werden, wenn die Fähigkeit zur Berufsausübung in anderer
   Weise einwandfrei festgestellt ist... ."

    bb) Eine Bewilligungspflicht für die Ausübung eines Berufes ist ein
schwerer Eingriff in die Handels- und Gewerbefreiheit und bedarf einer
formell-gesetzlichen Grundlage (BGE 104 Ia 196 E. 3b S. 200; vgl. BGE 115
Ia 277 E. 7a S. 288). Das schliesst nicht aus, dass das formelle Gesetz
sich auf die Regelung der Grundzüge beschränkt und die nähere Ausgestaltung
der Einzelheiten einer nachgeordneten Instanz überlässt (BGE 115 Ia 277
E. 7a S. 288). Vorliegend legt das formelle Gesetz als Voraussetzung
für die Bewilligung u.a. das Erfordernis der nötigen Fähigkeiten fest und
beauftragt das Kantonsgericht, eine (der regierungsrätlichen Genehmigung
unterliegende) Anwaltsordnung zu erlassen. Diese gesetzliche Bestimmung
kann nicht anders verstanden werden, als dass das Kantonsgericht in der
von ihm zu erlassenden Anwaltsordnung auch die Anforderungen an die
nachzuweisenden "nötigen Fähigkeiten" präzisiert. Das Bundesgericht
hat wiederholt entschieden, dass das st. gallische Staatsrecht eine
Rechtsetzungsdelegation nicht verbietet (BGE 88 I 31, S. 33 ff.;
118 Ia 305 E. 2b/3a S. 310 f.; Urteil i.S. B. vom 22. März 1996,
E. 5a). Es ist nicht ersichtlich und wird vom Beschwerdeführer auch
nicht dargetan, inwiefern die Delegation nur an den Regierungsrat, nicht
aber an das Kantonsgericht zulässig sein soll, oder inwiefern Art. 27 der
st. gallischen Kantonsverfassung, wonach "die Gesetzgebung" Beschränkungen
der Handels- und Gewerbefreiheit trifft (vgl. auch Art. 21 KV), eine solche
Delegation verbieten würde. Es ist nicht zu beanstanden, sondern dient
im Gegenteil dem Anliegen der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, wenn
das Kantonsgericht die Kriterien, welche es seiner Bewilligungserteilung
zugrundelegt, in generell-abstrakter Form festlegt.

    Dasselbe gilt auch für das vom Kantonsgericht selbständig
erlassene Prüfungsreglement. Art. 5 Abs. 2 der (vom Regierungsrat
genehmigten) Anwaltsordnung ermächtigt das Kantonsgericht ausdrücklich,
die Prüfungsbestimmungen zu erlassen, ohne hiefür eine Genehmigung
durch den Regierungsrat vorzuschreiben. Selbst wenn darin nicht eine
Konkretisierung eines Vollzugsauftrags, sondern eine Ermächtigung
zu gesetzesvertretender Rechtsetzung erblickt wird (in diesem Sinne
BERNHARD NOTTER, Die st. gallische Rechtsetzung in der Form des Gesetzes
und der Verordnung, Diss. Freiburg 1967, S. 134 f.), so ist jedenfalls
nicht dargetan, inwiefern eine solche Subdelegation nach st. gallischem
Staatsrecht unzulässig sein soll (vgl. BGE 118 Ia 245 E. 3 S. 247 ff.). Der
blosse Einwand des Beschwerdeführers, die Prüfungsordnung von 1988 sei vom
Regierungsrat nicht genehmigt worden, ist nach dem Gesagten unbehelflich.

    cc) Freilich darf die Verordnung keine neuen Rechtsnormen enthalten,
sondern muss sich darauf beschränken, diejenigen Bestimmungen, die im
Gesetz bereits angelegt sind, auszuführen (BGE 114 Ia 286 E. 5a S. 288;
115 Ia 277 E. 7a S. 288; vgl. auch Art. 65 KV). Aus der gesetzlichen
Formulierung in Art. 59 des Gesetzes über die Zivilrechtspflege
ergibt sich, dass das Kantonsgericht die Möglichkeit haben muss, das
Vorhandensein der nötigen Fähigkeiten zu überprüfen. Die Durchführung
einer Anwaltsprüfung ist ein geeignetes Mittel, um festzustellen, ob
diese Fähigkeiten vorhanden sind. Das Erfordernis, eine Prüfung abzulegen,
entspricht somit dem Sinn und Zweck des Gesetzes.

    Für die Beurteilung der Frage, ob eine Ausführungsmassnahme vom
Gesetz abgedeckt ist, kann auch darauf abgestellt werden, ob sie dem
allgemein üblichen Standard entspricht oder völlig neue, bisher ungewohnte
Anforderungen stellt (Urteil des Bundesgerichts vom 22. März 1996 i.S. B.,
E. 5d aa/dd; BGE 121 I 22 E. 4a S. 27, 273 E. 5a S. 277 f.). Die meisten
Kantone verlangen das Bestehen einer Anwaltsprüfung als Voraussetzung für
die Berufszulassung (DOMINIQUE DREYER, L'avocat dans la société actuelle,
ZSR 115/1996 II S. 395-519, 420; FELIX WOLFFERS, Der Rechtsanwalt in der
Schweiz, Diss. Bern 1986, S. 64). Das Bundesgericht hat sogar entschieden,
dass im Normalfall das Ablegen einer Prüfung als Standardanforderung für
die interkantonale Anerkennung von Anwaltspatenten gilt (BGE 111 Ia 108
E. 2 S. 112).

    Wenn das Kantonsgericht von den Bewerbern um eine
Berufsausübungsbewilligung das Ablegen einer Prüfung verlangt, so bewegt
es sich deshalb innerhalb des Gesetzes. Das gilt um so mehr, als in der
Anwaltsordnung das Bestehen einer Prüfung nicht zwingend vorgeschrieben
ist; vielmehr ist vorgesehen, dass die Prüfung erlassen werden kann,
wenn die Fähigkeit auf andere Weise festgestellt ist. Damit wird dem
Umstand Rechnung getragen, dass, wie der Beschwerdeführer vorbringt, das
Vorhandensein der nötigen Fähigkeiten auch auf andere Weise als durch
das Bestehen einer Prüfung nachgewiesen werden kann. Es kann deshalb
nicht gesagt werden, dass die vom Kantonsgericht erlassene Anwaltsordnung
den Rahmen des Gesetzes sprengen und neue, vom Gesetz nicht abgedeckte
Bestimmungen enthalten würde. Art. 1 der Anwaltsordnung von 1958 hält
sich im Rahmen dessen, was in einer Vollziehungsverordnung zulässig ist,
ohne dass dafür auf Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden müsste.

    c) Ist es somit nicht zu beanstanden, dass das Kantonsgericht im
Normalfall die Berufsausübungsbewilligung nur aufgrund einer bestandenen
Prüfung erteilte, bleibt zu prüfen, ob, wie der Beschwerdeführer vorbringt,
aufgrund seiner Behinderung an die Prüfungsarbeit ein weniger strenger
Beurteilungsmassstab anzulegen sei.

    aa) Verfassungsmässige Rechte schützen in erster Linie gegen
staatliche Eingriffe. Darüberhinaus enthalten sie eine konstitutive
oder programmatische Komponente (JÖRG PAUL MÜLLER, Elemente einer
schweizerischen Grundrechtstheorie, Bern 1982, S. 8 ff.). Das
kann allerdings nichts daran ändern, dass die Menschen aufgrund
ihrer faktischen Ungleichheit (Vermögen, Gesundheit, Begabung) in
unterschiedlichem Masse in der Lage sind, von den ihnen rechtlich
zustehenden Möglichkeiten und Rechten Gebrauch zu machen. Der Staat ist
weder aufgrund der Rechtsgleichheit noch aufgrund spezifischer Grundrechte
verpflichtet, sämtliche faktischen Ungleichheiten zu beheben. Das schlägt
sich zwangsläufig auch in der Möglichkeit nieder, bestimmte Berufe zu
ergreifen. Viele Berufe erfordern besondere Eigenschaften und Fähigkeiten,
die nicht alle Menschen im gleichen Masse besitzen. Der blosse Umstand,
dass einzelne Personen ohne eigenes Verschulden diese Fähigkeiten nicht
besitzen, kann nicht dazu führen, dass die Anforderungen reduziert werden
müssten. So können körperlich behinderte Personen bestimmte Berufe,
die eine volle körperliche Leistungsfähigkeit verlangen (z.B. Polizist,
Bergführer, Turnlehrer), nicht ergreifen. Die Handels- und Gewerbefreiheit
kann keinen Anspruch darauf geben, dass solche Berufe von allen Personen
ungeachtet ihrer individuellen Fähigkeiten ergriffen und ausgeübt werden
dürfen.

    bb) Aus der menschenrechtlichen Komponente, die der Handels- und
Gewerbefreiheit insbesondere in der Ausgestaltung der Berufswahlfreiheit
innewohnt (ZENGER, aaO, S. 140 ff.), ergibt sich hingegen, dass der
Staat die Berufszulassung nicht unnötigerweise von Voraussetzungen
abhängig machen darf, die Behinderte nicht erfüllen können. Solange
jedoch polizeilich gerechtfertigte Anforderungen zur Diskussion stehen,
kann der blosse Umstand, dass einzelne Personen diese nicht zu erfüllen
vermögen, noch kein Grund sein, die Anforderungen zu senken. So können
zum Beispiel Personen, die infolge eines Gebrechens nicht in der Lage
sind, ein Motorfahrzeug sicher zu führen, keinen Führerausweis erwerben,
auch wenn sie dadurch in ihrem beruflichen Fortkommen behindert werden
(BGE 103 Ib 29 E. 1a S. 32). Dasselbe gilt auch für gewerbepolizeilich
begründete Anforderungen an bestimmte Berufe.

    cc) Das Erfordernis eines Fähigkeitsnachweises für Rechtsanwälte
dient namentlich dem Schutz des rechtsuchenden Publikums (Ioanna Coveris,
Certificat de capacité et liberté du commerce et de l'industrie, Thèse
Lausanne 1988, S. 128 f.; WOLFFERS, aaO, S. 65 f.). Zu diesem Zweck
ist es gerechtfertigt, hohe Anforderungen an die Fachkenntnisse eines
Anwaltes zu stellen (BGE 113 Ia 286 E. 4c S. 290; vgl. MICHAEL PFEIFER,
Der Rechtsanwalt in der heutigen Gesellschaft, ZSR 115/1996 II S. 253-393,
356). Die blosse Bestätigung über ein absolviertes Praktikum kann in der
Regel nicht als genügender Nachweis der Befähigung anerkannt werden (BGE
111 Ia 108 E. 3 S. 112 f). Im Lichte dieser Überlegungen wäre es nicht
zu rechtfertigen, mit Rücksicht auf bestimmte Eigenschaften einzelner
Kandidaten weniger strenge Anforderungen zu stellen. Das rechtsuchende
Publikum muss sich darauf verlassen können, dass der Anwalt über die
notwendigen Fähigkeiten verfügt, um seinen Beruf richtig auszuüben. Dazu
gehört auch die Fähigkeit, unter Stressbedingungen richtig entscheiden und
Sachverhalte zutreffend würdigen zu können. Es verletzt daher die Handels-
und Gewerbefreiheit nicht, wenn die kantonalen Behörden es abgelehnt haben,
mit Rücksicht auf die Behinderung des Beschwerdeführers die zu stellenden
Anforderungen zu senken.

    dd) Die kantonalen Behörden haben erwogen und berücksichtigt, dass die
Wiederholung der ganzen Prüfung unter den gegebenen Umständen unzumutbar
wäre, und aus diesem Grunde nicht die Wiederholung der gesamten Prüfung,
sondern nur der schriftlichen Nachprüfung verlangt. Zudem haben sie
sich bereit erklärt, den Prüfungsablauf der spezifischen Situation des
Beschwerdeführers anzupassen. Sie haben damit durchaus auf die besondere
Lage des Beschwerdeführers und seine individuelle Belastbarkeit Rücksicht
genommen. Auch soweit sich aus der Handels- und Gewerbefreiheit ein
Anspruch auf individuelle Gestaltung des Prüfungsablaufs ableiten
lassen sollte, ist dieser Anspruch vorliegend jedenfalls nicht
verletzt. Die Anforderungen, welche die kantonalen Behörden gestellt
haben, können nicht als unverhältnismässig betrachtet werden. Die Rüge
des Beschwerdeführers, eine Prüfung, die länger als acht Stunden dauere,
sei im Reglement nicht vorgesehen und wäre für ihn mit zu grossem Stress
verbunden, geht von vornherein fehl, weil die kantonalen Behörden den
anzupassenden Prüfungsablauf noch gar nicht festgelegt haben. Vielmehr
weigert sich der Beschwerdeführer grundsätzlich, überhaupt noch einmal eine
schriftliche Nachprüfung abzulegen. Diese Weigerung erscheint um so weniger
verständlich, als nach den von ihm nicht beanstandeten Feststellungen des
Kantonsgerichts im Wiedererwägungsverfahren sein Vater vertretungsweise
den Subeventualantrag gestellt hatte, eine Wiederholung der Prüfung mit
einem angepassten Ablauf durchzuführen. Zwar hat die Prüfungskommission in
ihrem Wiedererwägungsentscheid vom 8. Juli 1994 diesen Antrag abgelehnt;
hingegen entspricht der Entscheid der Anwaltskammer vom 28. November 1994
im Ergebnis dem vom Beschwerdeführer selber (bzw. vertretungsweise von
seinem Vater) gestellten Subeventualantrag.

    d) Der angefochtene Entscheid verletzt nach dem Gesagten auch
nicht die Rechtsgleichheit. Die kantonalen Behörden haben, indem sie
dem Beschwerdeführer das Absolvieren nur der schriftlichen Nachprüfung
mit angepasstem Ablauf zugestanden haben, seiner besonderen Situation
Rechnung getragen und das verfassungsrechtliche Gebot, Ungleiches ungleich
zu behandeln, beachtet. Dass sie die zu stellenden Anforderungen nicht
reduziert haben, ist auch im Lichte der Rechtsgleichheit nicht zu
beanstanden.