Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 IV 56



122 IV 56

10. Urteil des Kassationshofes vom 28. Februar 1996 i.S. H. gegen
Regierungsrat des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 55 Abs. 2 StGB; probeweiser Aufschub der Landesverweisung.

    Wird der Verurteilte aus dem Vollzug der widerrufenen bedingten
Hauptstrafe bedingt entlassen, so ist der probeweise Aufschub der teilweise
bereits vollstreckten Landesverweisung zulässig (E. 3a).

Sachverhalt

    A.- Am 26. August 1992 verurteilte das Bezirksgericht Meilen H. wegen
mehrfachen gewerbsmässigen Diebstahls sowie weiterer Delikte zu 14
Monaten Gefängnis unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs. Überdies
sprach es eine unbedingte Landesverweisung von 10 Jahren aus. Diese wurde
unverzüglich vollzogen.

    1993 reiste H. illegal in die Schweiz ein und beging erneut
Straftaten. Im wesentlichen wegen Widerhandlungen gegen das
Betäubungsmittelgesetz verurteilte ihn das Bezirksgericht Zürich am
20. Oktober 1994 zu 18 Monaten Gefängnis. Den Vollzug dieser neuen Strafe
schob es unter Ansetzung einer vierjährigen Probezeit auf. Dagegen erklärte
es die bedingte Vorstrafe von 14 Monaten Gefängnis für vollziehbar.

    Am 20. Mai 1995 ersuchte H. um bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug
sowie um den probeweisen Aufschub der Landesverweisung.

    Am 30. Juni 1995 verfügte das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug des
Kantons Zürich, H. werde bedingt aus dem Strafvollzug entlassen, sobald
er gemäss der Landesverweisung ausgeschafft werden könne, frühestens
jedoch am 12. Juli 1995. Auf das Gesuch um probeweisen Aufschub der
Landesverweisung trat es nicht ein.

    Einen von H. dagegen erhobenen Rekurs wies der Regierungsrat des
Kantons Zürich am 24. Oktober 1995 ab.

    H. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
des Regierungsrates aufzuheben; der Vollzug der Landesverweisung sei
unter Ansetzung einer angemessenen Probezeit aufzuschieben.

    Der Regierungsrat beantragt Abweisung der Beschwerde.

    Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hat auf einen Antrag
verzichtet. Es neigt jedoch zur Annahme, dass auch im vorliegenden Fall
ein Aufschub der Landesverweisung nicht zum vornherein ausgeschlossen ist.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Vorinstanz ist der Auffassung, ein probeweiser Aufschub
der Landesverweisung komme nicht in Betracht. Eine rechtskräftig
ausgesprochene und bereits vollzogene Landesverweisung könne nicht
nachträglich aufgeschoben werden. Es bleibe kein Raum für eine vom
Gesetzgeber stillschweigend vorgesehene Möglichkeit, den in einem
rechtskräftigen Urteil angeordneten Vollzug der Landesverweisung später
neu beurteilen zu lassen. Aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
ergebe sich, dass die Möglichkeit der Prüfung des probeweisen Aufschubs
einer Landesverweisung auf den in Art. 55 Abs. 2 StGB ausdrücklich
erwähnten Fall beschränkt sei. Der Umstand, dass ein Verurteilter nach
vollzogener Landesverweisung illegal in die Schweiz einreise und hier
erneut straffällig werde, um dadurch im besten Fall eine Neubeurteilung
der Frage des Vollzugs einer bereits vollstreckten Landesverweisung
herbeizuführen, entspreche nicht Sinn und Zweck von Art. 55 Abs. 2
StGB. Dass das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug auf das Gesuch um
probeweisen Aufschub der Landesverweisung nicht eingetreten sei, sei daher
nicht zu beanstanden. Zur Verhinderung des Vollzugs der Landesverweisung
bestehe einzig die Möglichkeit der Begnadigung.

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Verweigerung des
probeweisen Aufschubs der Landesverweisung verletze Art. 55 StGB sowie
den Gleichheitssatz gemäss Art. 4 BV.

Erwägung 2

    2.- Wird der Verurteilte bedingt entlassen, so entscheidet die
zuständige Behörde, ob und unter welchen Bedingungen der Vollzug der
Landesverweisung probeweise aufgeschoben werden soll (Art. 55 Abs. 2 StGB).

    Nach der Rechtsprechung setzt der probeweise Aufschub des Vollzuges der
Landesverweisung voraus, dass der des Landes Verwiesene aus dem Vollzug
der Hauptstrafe bedingt entlassen wurde. Die Landesverweisung muss daher
die Nebenstrafe zur Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe sein, aus welcher
der Verurteilte bedingt entlassen wird. Wird die bedingte Entlassung aus
dem Vollzug der Hauptstrafe nicht gewährt, so kann die Landesverweisung,
für die der bedingte Strafvollzug nicht bewilligt worden ist, auch nicht
probeweise aufgeschoben werden, so dass sie an dem Tag wirksam wird, an dem
die Freiheitsstrafe verbüsst ist. Entsprechendes gilt, wenn der Verurteilte
- auch wenn er bedingt entlassen und der Vollzug der Landesverweisung
probeweise aufgeschoben wurde - sich während der Probezeit nicht bewährt
hat; auch in diesem Falle wird die Landesverweisung mit der Verbüssung
des Strafrestes wirksam (Art. 55 Abs. 4 StGB). Ist die Landesverweisung
auf diese Weise rechtskräftig und vollziehbar geworden, kann auf sie nicht
mehr zurückgekommen werden. Selbst die Rehabilitation ist gesetzlich nicht
vorgesehen. Vorbehalten bleibt lediglich die Begnadigung. Eine spätere
Straffälligkeit in der Schweiz mit nachfolgender bedingter Entlassung kann
nicht zum Anlass genommen werden, eine früher verhängte, rechtskräftig
und wirksam gewordene Landesverweisung nachträglich aufzuheben. Dies
wäre ein gesetzlich nicht vorgesehener Eingriff in ein rechtskräftiges
und vollstreckbares Strafurteil. Die für den Vollzug einer später
ausgefällten Hauptstrafe zuständige Behörde ist deshalb nicht befugt,
über den probeweisen Aufschub der in einem früheren Strafverfahren
ausgesprochenen Landesverweisung zu entscheiden (BGE 104 Ib 275 E. 1).

    Art. 55 Abs. 2 StGB findet nur Anwendung bei der bedingten Entlassung
aus dem Strafvollzug, nicht auch bei Ablauf der Probezeit für eine bedingt
ausgesprochene Freiheitsstrafe (BGE 114 IV 95).

Erwägung 3

    3.- a) Zum Vollzug gelangte hier die vom Bezirksgericht Meilen
ausgesprochene Strafe von 14 Monaten Gefängnis. Die Landesverweisung bildet
dazu die Nebenstrafe. Unter diesem Gesichtspunkt steht dem probeweisen
Aufschub der Landesverweisung nichts entgegen. Der zu beurteilende Fall
unterscheidet sich von BGE 104 Ib 275. Dort wurde der Verurteilte aus
dem Vollzug einer späteren Freiheitsstrafe bedingt entlassen, zu der die
Landesverweisung nicht die Nebenstrafe bildete.

    Die Voraussetzungen für die bedingte Entlassung aus dem Vollzug der
Hauptstrafe waren hier gegeben. Nach dem Wortlaut von Art. 55 Abs. 2 StGB
hatte deshalb die zuständige Behörde zu entscheiden, ob und unter welchen
Bedingungen der Vollzug der Landesverweisung probeweise aufgeschoben werden
soll. Es ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 55 Abs. 2 StGB nicht,
dass der probeweise Aufschub der Landesverweisung nur bei bedingter
Entlassung aus einer von Anfang an unbedingt ausgesprochenen Strafe
möglich wäre, nicht aber bei bedingter Entlassung aus einer zunächst
bedingt ausgesprochenen und nachher vollziehbar erklärten Strafe.

    Nebst dem Wortlaut sprechen auch Sinn und Zweck von Art. 55 Abs. 2 StGB
dafür, in einer Konstellation wie hier die Möglichkeit des probeweisen
Aufschubs der Landesverweisung zuzulassen. Ziel des Strafvollzugs ist
die Resozialisierung des Verurteilten (Art. 37 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Die
bedingte Entlassung ist Teil des Strafvollzuges. Sie bildet die letzte
Stufe im Stufenstrafvollzug. Beendet ist der Strafvollzug erst mit der
endgültigen Entlassung. Auch bei der bedingten Entlassung ist deshalb
das Resozialisierungsziel zu berücksichtigen. Der Entscheid über den
probeweisen Aufschub der Landesverweisung steht mit dem über die bedingte
Entlassung in engem Zusammenhang. Auch beim Entscheid über den probeweisen
Aufschub der Landesverweisung ist dem Resozialisierungsziel Rechnung zu
tragen. Massgebend ist, ob in der Schweiz oder im Ausland die besseren
Chancen für die Resozialisierung bestehen (BGE 116 IV 283 E. 2a mit
Hinweisen; vgl. auch SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des
Strafrechts, 2. Band, 4. Aufl., S. 130; PETER MARTIN TRAUTVETTER, Die
Ausweisung von Ausländern durch den Richter im schweizerischen Recht,
Diss. Zürich 1957, S. 47). Wird eine bedingte Hauptstrafe nachträglich
für vollziehbar erklärt, so bildet die Resozialisierung das Ziel des
Strafvollzugs gleich wie da, wo der Verurteilte zu einer unbedingten
Freiheitsstrafe verurteilt wird. Entsprechend ist auch bei der bedingten
Entlassung aus dem Vollzug einer widerrufenen bedingten Vorstrafe zu
fragen, ob die Resozialisierungschancen in der Schweiz oder im Ausland
besser sind. Sind sie in der Schweiz besser, ist der probeweise Aufschub
der Landesverweisung zu gewähren. Dieser stellt wie die bedingte Entlassung
einen vom Gesetz ausdrücklich vorgesehenen Eingriff in das rechtskräftige
Strafurteil dar. Da der Richter im Urteilszeitpunkt die Entwicklung
des Verurteilten im Strafvollzug und die Verhältnisse bei der bedingten
Entlassung nicht voraussehen kann, räumt das Gesetz der Vollzugsbehörde
die Befugnis ein, auf die unbedingte Landesverweisung zurückzukommen,
wenn und soweit das im Interesse der Resozialisierung liegt.

    Die unterschiedliche Behandlung des Verurteilten, der sich in
der Probezeit in einem Fall wie hier nicht bewährt, und dem, der sich
bewährt, ist sachlich gerechtfertigt. Denn nur beim ersteren kommt es zum
Strafvollzug und besteht für die Schweizer Behörden damit die Pflicht,
die vom Gesetz im Interesse der Resozialisierung vorgesehenen Vorkehren zu
treffen. Insgesamt wird der Rückfällige gegenüber dem Nichtrückfälligen
nicht bessergestellt. Denn er muss die widerrufene und gegebenenfalls
auch die neue Strafe verbüssen. Er hat sodann keine Gewähr, dass es zur
bedingten Entlassung kommt, und selbst wenn es dazu kommt, steht immer
noch nicht fest, dass die Landesverweisung probeweise aufgeschoben wird. Im
Gegenteil stellt die erneute Straffälligkeit in der Schweiz regelmässig ein
Indiz dafür dar, dass die Resozialisierungschancen hier nicht gut sind. In
Anbetracht dessen erscheint auch die Gefahr gering, dass der Verurteilte
einzig deshalb in die Schweiz zurückkehrt und erneut Straftaten begeht,
um den probeweisen Aufschub der Landesverweisung zu erreichen. Die
fremdenpolizeiliche Ausweisung bleibt im übrigen ohnehin vorbehalten.

    b) Die kantonalen Instanzen haben danach Bundesrecht verletzt, wenn
sie davon ausgegangen sind, dass in einem Fall wie hier der probeweise
Aufschub der Landesverweisung ausgeschlossen ist. Die Beschwerde ist
insoweit gutzuheissen. Nicht eingetreten werden kann auf den Antrag,
der Vollzug der Landesverweisung sei unter Ansetzung einer angemessenen
Probezeit aufzuschieben. Materiell haben sich die kantonalen Instanzen
zur Frage des probeweisen Aufschubs der Landesverweisung noch nicht
ausgesprochen. Insoweit liegt kein letztinstanzlicher kantonaler
Entscheid vor. Damit dem Beschwerdeführer der Rechtsweg gewahrt bleibt,
ist die Sache zur materiellen Beurteilung an das Amt für Straf- und
Massnahmenvollzug zurückzuweisen (Art. 114 Abs. 2 OG). Dieses wird
sich darüber auszusprechen haben, ob die Resozialisierungschancen des
Beschwerdeführers in der Schweiz oder im Ausland besser sind. Sollten sich
die Resozialisierungschancen in der Schweiz als besser erweisen, wäre der
noch nicht vollstreckte Teil der Landesverweisung probeweise aufzuschieben;
andernfalls wäre er zu vollziehen. Soweit der Beschwerdeführer die
gesamte widerrufene Strafe inzwischen verbüsst hat, darf das nicht zum
Ausschluss der Möglichkeit des probeweisen Aufschubs der Landesverweisung
führen. Denn dies wäre auf das rechtsfehlerhafte Vorgehen der Behörden
zurückzuführen. Das darf dem Beschwerdeführer nicht zum Nachteil gereichen.

Erwägung 4

    4.- (Kostenfolgen).