Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 IV 356



122 IV 356

54. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. November 1996 i.S.
Generalprokurator des Kantons Bern gegen T. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 92 Abs. 2 SVG; pflichtwidriges Verhalten nach Unfall; Unfall,
Verletzung.

    Atypischer Unfall. Wer mit seinem Personenwagen die Flucht vor einem
Fussgänger ergreift, diesen dabei anfährt und im Wissen darum seine Flucht
fortsetzt, flüchtet nach einem Unfall im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG
(E. 3a).

    Wer bei einem Unfall eine leichte Verstauchung, Prellung und Schürfung
eines Fingers erleidet, wird verletzt im Sinne dieser Bestimmung. Das
gilt ungeachtet davon, ob eine ärztliche Behandlung nötig ist (E. 3b;
Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- T. behinderte F. am 29. Januar 1992 durch seine Fahrweise mehrfach
in dessen freien Fahrt. In der Folge überholte F. den Personenwagen des
T., worauf beide Fahrer anhielten. F. stieg aus und begab sich zum anderen
Fahrzeug. Nachdem entweder T. oder F. die Fahrertüre des Personenwagens T.
geöffnet hatte, fasste F. an deren Griff. In diesem Augenblick gab T. aus
Angst Gas und fuhr weg. Dadurch kam F. zu Fall und zog sich eine leichte
Verletzung an einem Finger zu, die ärztlich nicht behandelt werden musste.

    B.- Mit Urteil vom 7. Juni 1994 gab der Gerichtspräsident von
Niedersimmental dem Verfahren gegen T. wegen Missachtung des Vortritts,
mangelnder Rücksichtnahme auf nachfolgende Fahrzeuge sowie pflichtwidrigen
Verhaltens nach Verkehrsunfall wegen Eintritts der absoluten Verjährung
keine weitere Folge.

    Diesen Entscheid bestätigte das Obergericht des Kantons Bern
(I. Strafkammer) am 9. Mai 1996 auf Appellation sowohl von T. als auch
des Generalprokurators des Kantons Bern.

    C.- Der Generalprokurator des Kantons Bern erhebt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, das Urteil des Obergerichts (I.
Strafkammer) des Kantons Bern vom 9. Mai 1996 aufzuheben und die Sache
zu neuer Entscheidung beziehungsweise zur Verurteilung von T. an die
Vorinstanz zurückzuweisen, soweit es dem Verfahren gegen T. wegen
pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall keine weitere Folge gegeben habe.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Ergreift ein Fahrzeugführer, der bei einem Verkehrsunfall einen
Menschen getötet oder verletzt hat, die Flucht, so wird er mit Gefängnis
bestraft (Art. 92 Abs. 2 SVG; SR 741.01).

    a) Art. 92 Abs. 2 SVG setzt zunächst einen Verkehrsunfall und eine
daran anschliessende Flucht des beteiligten Fahrzeugführers voraus. Nach
der Rechtsprechung gilt als Strassenverkehrsunfall jedes schädigende
Ereignis, das geeignet ist, einen Personen- oder Sachschaden hervorzurufen
(BGE 83 IV 46 E. 1 mit Hinweis). Der Beschwerdegegner ergriff mit seinem
Personenwagen die Flucht vor F., fuhr diesen dabei an und setzte die Fahrt
im Wissen um das Vorgefallene fort. Angesichts des Zusammenstosses zwischen
dem Personenwagen und dem Fussgänger ist vorliegend ein Verkehrsunfall
im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG (i.V.m. Art. 51 Abs. 1 SVG) gegeben. Wohl
zeigt der Unfallhergang unter anderem insofern einen atypischen Verlauf,
als der Beginn der Flucht dem Unfall zeitlich vorgelagert war. Doch
flüchtete der Beschwerdeführer im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG, als er
trotz des Unfalles seine Fahrt fortsetzte und sich vom Unfallort entfernte.

    b) Zu prüfen bleibt, ob das objektive Tatbestandsmerkmal der Verletzung
gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG erfüllt ist.

    In einem älteren Entscheid hat das Bundesgericht erwogen, der Begriff
der Körperverletzung gemäss Art. 36 Abs. 2 MFG umfasse namentlich innere
Verletzungen, die äusserlich nicht sichtbar seien, sowie Quetschungen
und Schürfwunden, sofern es sich hierbei nicht bloss um geringfügige,
praktisch bedeutungslose Schäden handle. Eine Quetschung mit Bluterguss,
zumal wenn sie eine Arbeitsunfähigkeit von mindestens vier Tagen zur
Folge habe, sei eine Verletzung im Sinne von Art. 36 Abs. 2 MFG (BGE 83
IV 42). Seit dem Inkrafttreten des geltenden Strassenverkehrsgesetzes hat
sich das Bundesgericht in zwei publizierten Entscheiden zum Begriff der
Verletzung gemäss Art. 92 Abs. 2 SVG geäussert. Es führte aus, das Gesetz
spreche ohne Einschränkung von einem "verletzten" Menschen, weshalb es auf
die Schwere der Verletzung nicht ankomme und es somit unerheblich sei, dass
sie ambulant behandelt werden könne. Eine Person sei schon dann "verletzt"
im Sinne dieser Bestimmung, wenn sie kleine Schürfungen oder Prellungen
erleide (BGE 95 IV 150 E. 1; 97 IV 224). Diese Rechtsprechung wurde im
Schrifttum überwiegend zustimmend aufgenommen (BADERTSCHER/SCHLEGEL,
Strassenverkehrsgesetz, 2. Aufl., Zürich 1967, S. 257; BUSSY/RUSCONI,
Commentaire du code suisse de la circulation routière, 3e éd.,
Lausanne 1996, N. 2.2 ad Art. 92 LCR; GIGER/SIMMEN, Kommentar zum
SVG, 5. Aufl., Zürich 1996, S. 237; LEIPOLD, Verkehrsunfallflucht,
Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Länder Österreich, Schweiz
und Bundesrepublik Deutschland, Diss. Pfaffenweiler 1987, S. 151;
SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I,
Bern 1984, N. 804; SCHULTZ, Die Strafbestimmungen des Bundesgesetzes
über den Strassenverkehr vom 19. Dezember 1958, Bern 1964, S. 218;
ders., Die strafrechtliche Rechtsprechung zum Strassenverkehrsrecht
in den Jahren 1968-1972, S. 179; ULLRICH, Strafrechtlich sanktionierte
Hilfeleistungspflichten in der Schweiz, Diss. Diessenhofen 1980, S. 174
f.; vgl. auch FRANCIS MEYER, Les dispositions pénales de la loi fédérale
sur la circulation routière, ZStrR 76/1960, S. 44 f.; WEIGEND/GEUENICH,
Verkehrsunfallflucht im europäischen Ausland, Deutsches Autorecht 57/1988,
S. 267 Fn. 104; anders THALMANN, Pflichtwidriges Verhalten, Im Stiche
lassen eines Verletzten und Führerflucht nach Unfällen im Strassenverkehr,
Diss. Basel 1968, S. 107).

    Wie dargelegt wurde, trifft Art. 92 Abs. 2 SVG keine Unterscheidung
zwischen schweren und leichten Verletzungen (BGE 83 IV 42; 95 IV 150
E. 1). Die Rechtsprechung hat aber anerkannt, dass eine Person nicht
als verletzt im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG zu betrachten sei, wenn
sie nur absolut geringfügige, praktisch bedeutungslose Schäden erlitten
habe, denen kaum Beachtung geschenkt werden müsse (BGE 83 IV 42). Kleine
Schürfungen oder geringfügige Prellungen genügten jedoch, damit jemand als
verletzt im Sinne der fraglichen Bestimmung gelte (BGE 95 IV 150 E. 1). An
dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der Umstand, dass Art. 55 Abs. 2
der Verkehrsregelverordnung (VRV; SR 741.11) vom 13. November 1962 "bei
kleinen Schürfungen und Prellungen" eine Benachrichtigung der Polizei nicht
vorschreibt, steht dem nicht entgegen, zumal der Verursacher auch bei solch
geringfügigen Verletzungen seinen Namen und seine Adresse anzugeben hat
(Art. 55 Abs. 2 VRV). Damit wird vorausgesetzt, dass er den Unfallort nicht
einfach verlassen darf. Nur weil das in Art. 51 SVG festgelegte allgemeine
Erfordernis der Polizeibenachrichtigung bei Unfällen mit Personenschaden
entfällt, darf nicht angenommen werden, solche kleinen Verletzungen machten
keinerlei Hilfe erforderlich und eine Führerflucht sei nicht möglich. Da
Kollisionen zwischen einem Fahrzeug und einem Fussgänger oft schwere,
nicht immer sichtbare Folgen nach sich ziehen, soll der Verletzer in
jedem Fall nach dem Verunfallten sehen und auch bei harmlos scheinenden
Verletzungen genau abklären, ob der Verletzte nicht noch grössere Schäden
erlitten hat (LEIPOLD, aaO, S. 151; ULLRICH, aaO, S. 175 mit Hinweisen).

    Vorliegend hat die Vorinstanz verbindlich festgestellt
(Art. 277bis BStP), dass F. durch den Unfall eine "leichte
Verstauchung/Prellung/Schürfung" eines Fingers der rechten Hand
erlitt. Dennoch verneinte sie die Erfüllung des objektiven Tatbestandes der
Führerflucht aufgrund fehlender Verletzung im Sinne von Art. 92 Abs. 2
SVG, weshalb sie sich zum subjektiven Tatbestand und zu allfälligen
Rechtfertigungsgründen nicht äusserte. Nach dem Gesagten war hier das
Tatbestandsmerkmal der Verletzung im Sinne von Art. 92 Abs. 2 SVG jedoch
erfüllt. Indem die Vorinstanz dies verkannte, hat sie Bundesrecht verletzt.
Folglich ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei dieser Sachlage ist
unerheblich, ob der Beschwerdegegner den Vorsatz hatte, F. zu verletzen.