Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 IV 207



122 IV 207

31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 27. August 1996
i.S. L. gegen E. und Staatsanwaltschaft des Kantons Appenzell A.Rh.
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 217 Abs. 1, 28 Abs. 1 StGB; Vernachlässigung von
Unterhaltspflichten, Übertragung des Antragsrechts.

    Für die Übertragung des Strafantragsrechts auf die Behörde oder
Stelle, die mit der Wahrung der Interessen der unterhaltsberechtigten
Person betraut ist, genügt eine generelle Ermächtigung; diese muss
sich nicht auf eine bestimmte, bereits begangene Vernachlässigung der
Unterhaltspflichten beziehen.

Sachverhalt

    A.- Mit Scheidungsurteil des Bezirksgerichts Wil vom 12. Juli
1989 wurde L. verpflichtet, an den Unterhalt des gemeinsamen Kindes bis
längstens zu dessen vollendetem 20. Altersjahr monatlich vorauszahlbare und
indexierte Beiträge zuzüglich der Kinderzulagen zu bezahlen. Seit Mai 1993
blieben regelmässige Zahlungen aus. Mit Schreiben vom 12. Juli 1995 erhob
die "Beratungsstelle und Sozialdienst für Frauen und Familien, St. Gallen",
gegen L. Strafklage wegen Vernachlässigung von Unterhaltspflichten beim
Verhöramt Trogen.

    Das Kantonsgericht Appenzell A.Rh. erklärte L. mit Urteil vom
14. Dezember 1995 der mehrfachen Vernachlässigung der Unterhaltspflichten
schuldig und verurteilte ihn zu fünf Wochen Gefängnis, mit bedingtem
Strafvollzug und einer Probezeit von zwei Jahren. Auf Appellation des
Verurteilten hin bestätigte das Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh. mit
Urteil vom 23. April 1996 den angefochtenen Entscheid im Schuldpunkt,
setzte jedoch die ausgesprochene Strafe auf drei Wochen Gefängnis, mit
bedingtem Strafvollzug und einer Probezeit von zwei Jahren herab.

    Gegen diesen Entscheid führt L. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde,
mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die
Sache zu seiner Freisprechung an den Kanton zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Nach Art. 28 Abs. 1 StGB kann, wenn eine Tat nur auf Antrag
strafbar ist, jeder, der durch sie verletzt worden ist, die Bestrafung des
Täters beantragen. Nach der Rechtsprechung ist der Antrag im Sinne von Art.
28 StGB gültig erhoben, wenn der Berechtigte innert der in Art. 29 StGB
vorgesehenen Frist bei der nach kantonalem Recht zuständigen Behörde
und in der vorgeschriebenen Form seinen unbedingten Willen bekundet,
der Täter sei strafrechtlich zu verfolgen. Es bestimmt sich somit nach
kantonalem Recht, welche formellen Voraussetzungen erfüllt sein müssen,
wenn das Antragsrecht von einem Vertreter ausgeübt wird. Wurde der Antrag
von einem nicht berechtigten Vertreter eingereicht, muss die Bestätigung
durch den Verletzten innerhalb der Antragsfrist erfolgen (BGE 118 IV 167
E. 1b; 108 Ia 97 E. 2; 106 IV 244 je mit Hinweisen).

    b) Gemäss Art. 217 Abs. 1 StGB wird auf Antrag mit Gefängnis bestraft,
wer seine familienrechtlichen Unterhalts- oder Unterstützungspflichten
nicht erfüllt, obschon er über die Mittel dazu verfügt oder verfügen
könnte. Nach Abs. 2 der genannten Bestimmung steht das Antragsrecht
auch den von den Kantonen bezeichneten Behörden und Stellen zu. Im zu
beurteilenden Fall stand der Beratungsstelle nach den verbindlichen
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz kein eigenständiges
Antragsrecht zu.

    Indes ist zu prüfen, ob die geschiedene Ehefrau des Beschwerdeführers
als Inhaberin der elterlichen Gewalt über das unterhaltsberechtigte Kind
das Antragsrecht gültig auf die Beratungsstelle übertragen hat.

    c) Das Recht, Strafantrag zu stellen, ist grundsätzlich
höchstpersönlicher Natur und unübertragbar (BGE 99 IV 1 E. a
bezügl. Ehrverletzung; REHBERG, Strafrecht I, 5. Aufl., Zürich 1993,
S. 226; REHBERG, Der Strafantrag, ZStR 85/1969, S. 256; TRECHSEL,
Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 28 N. 5). Aus der
höchstpersönlichen Natur des Antragsrechts folgt aber nicht, dass dieses
nicht auch von einem Vertreter ausgeübt werden kann (Vertretung in der
Erklärung). Dabei genügt auch die Erteilung einer generellen Vollmacht. Es
kann somit einem bevollmächtigten Vertreter die Befugnis eingeräumt werden,
die Willenserklärung abzugeben (REHBERG, Strafrecht I, S. 226; REHBERG,
Strafantrag, S. 256/7).

    Fraglich ist, ob eine Vollmacht genügt, die dem Vertreter die
Entscheidung überlässt, ob er Strafantrag erheben will (Vertretung
im Willen). Dies ist nach der Rechtsprechung dort zu bejahen, wo die
Verletzung materieller Rechtsgüter in Frage steht, die nicht direkt
von der Person des Berechtigten abhängen, sondern etwa vom Inhalt einer
vertraglichen Beziehung (z.B. bei Hausfriedensbruch). In solchen Fällen
ist die Vertretung durch eine generelle Ermächtigung zulässig. Der Antrag
ist somit auch dann gültig, wenn er sich auf eine vom Geschädigten vor
der Tat erteilte Vollmacht stützt. Insbesondere darf die Ermächtigung
des Vertreters zur Antragstellung in der Regel angenommen werden,
wenn das betreffende Delikt materielle Rechtsgüter verletzt, mit deren
Wahrung oder Verwaltung der Vertreter allgemein betraut ist (BGE 118
IV 167 E. 1b und c; 99 IV 1 E. d/aa; 86 IV 83 E. 2; 73 IV 68 E. 4;
REHBERG, Strafantrag, S. 257/258; vgl. auch SCHÖNKE/SCHRÖDER/STREE,
Strafgesetzbuch, 24. Aufl., § 77 N. 27; a.M. TRECHSEL, aaO, Art. 28
N. 5). Einer speziellen, auf den konkreten Fall zugeschnittenen
ausdrücklichen oder konkludenten Ermächtigung bedarf der Bevollmächtigte
nur bei Verletzung höchstpersönlicher immaterieller Rechtsgüter, welche
dem Berechtigten naturgemäss innewohnen oder von ihrem Status herrühren
(Leib und Leben, Ehre, persönliche Freiheit sowie Eheschliessung,
Kindesverhältnis). Dementsprechend ist wegen der nahen Beziehung des
Verletzten auch bei den relativen Antragsdelikten eine Ermächtigung für den
gegebenen Fall erforderlich (BGE 118 IV 167 E. 1b und c; TRECHSEL/NOLL,
Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 4. Aufl., Zürich 1994, S. 265;
REHBERG, Strafantrag, S. 258).

    d) Art. 217 StGB schützt die Gläubigerrechte jener Personen, deren
Ansprüche auf einem familienrechtlichen Grundverhältnis beruhen, und
dient somit der Durchsetzung familienrechtlich begründeter Unterhalts-
und Unterstützungspflichten (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht,
Bes. Teil II, 4. Aufl., Bern 1995, § 26 N. 20; URS BRODER, Delikte gegen
die Familie, insbesondere Vernachlässigung von Unterhaltspflichten,
ZStR 109/1992, S. 296; vgl. auch Botschaft zu einem Gesetzesentwurf
enthaltend das schweizerische Strafgesetzbuch vom 23.7.1918, BBl 1918 IV,
S. 46). Dem entspricht, dass das Antragsrecht abgesehen von den unmittelbar
Verletzten auch den vom Gesetz genannten Behörden und Stellen zuerkannt
wird. Damit soll der unbefriedigenden Situation entgegengewirkt werden,
dass unterhalts- oder unterstützungsberechtigte Frauen unter dem Druck
des säumigen Schuldners sich nicht trauen, gegen diesen vorzugehen, oder
auch bloss aus Gleichgültigkeit oder irgendwelchen anderen Überlegungen
zum Nachteil der Kinder den Strafantrag unterlassen (BGE 119 IV 315 E. 1b
mit Hinweis auf BGE 78 IV 95 E. 3). Dass der Strafantrag bei Art. 217
StGB nicht (auch) der Eintreibung der Forderung dient, sondern (einzig)
die Sühne des Unrechts ermöglichen soll (so noch BGE 78 IV 213, S. 216),
lässt sich daher nicht sagen.

    Wenn aber das Gesetz gemäss Art. 217 Abs. 2 StGB den von den Kantonen
bezeichneten Instanzen ein selbständiges Antragsrecht mit der Befugnis
einräumt, im Einzelfall selbst zu entscheiden, ob gegen den jeweiligen
Täter eine Strafverfolgung stattfinden soll, ist nicht einzusehen,
weshalb nicht auch die unmittelbar verletzte Person selbst einer solchen
Stelle eine generelle Vollmacht mit Entscheidbefugnis soll erteilen
können. Einer ausdrücklichen Ermächtigung für den konkreten Fall bedarf
es daher bei Art. 217 StGB nicht. Es genügt eine generelle Ermächtigung,
die sich nicht auf eine bestimmte, bereits begangene Vernachlässigung der
Unterhaltspflichten beziehen muss. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die
berechtigte Person diejenige Stelle generell zum Strafantrag ermächtigt,
die damit beauftragt ist, deren Interessen im Hinblick auf die Erfüllung
der Unterhaltspflichten zu wahren.

    e) Somit fragt sich, ob die von der geschiedenen Ehefrau des
Beschwerdeführers als Inhaberin der elterlichen Gewalt über das
unterhaltsberechtigte Kind erteilte Inkassovollmacht die Beratungsstelle
überhaupt zum Erheben eines Strafantrags generell ermächtigt. Dies ist
eine Auslegungsfrage, die sich nach dem Vertrauensprinzip beurteilt und
als Rechtsfrage vom Bundesgericht frei überprüft wird (BGE 117 II 273
E. 5a; 113 II 49 E. 1a je mit Hinweisen; vgl. auch ZÄCH, Berner Kommentar,
N. 114 zu Art. 33 OR).

    Die geschiedene Ehefrau des Beschwerdeführers übergab mit Vollmacht
vom 16. Juli 1991 der Beratungsstelle das Inkasso der Unterhaltsbeiträge
für den gemeinsamen Sohn und erklärte sich gleichzeitig mit allen
dafür notwendigen Massnahmen einverstanden. Zweck der Vollmacht war,
die geschiedene Ehefrau von der Eintreibung der Unterhaltsbeiträge für
das gemeinsame Kind zu entlasten und der Beratungsstelle sämtliche für
das Inkasso derselben notwendigen Mittel an die Hand zu geben. Zu diesen
Massnahmen zählt aufgrund der Interessenlage der Unterhaltsberechtigten
bzw. der gesetzlichen Vertreterin des unterhaltsberechtigten Kindes
nach dem Gesagten auch die Erhebung des Strafantrags, da Art. 217
StGB der Durchsetzung familienrechtlich begründeter Unterhalts- und
Unterstützungspflichten dient. Damit ist eine Ermächtigung für die
Erhebung des Strafantrags nach Art. 217 StGB zu bejahen. Die Vollmacht
unterscheidet sich insofern denn auch vom Vertrag zwischen dem Gemeinderat
und der Fürsorgekommission Speicher einerseits und der Beratungsstelle
andererseits vom 13./21. April 1982, in welchem der Aufgabenbereich der
Beratungsstelle ausdrücklich auf die Inkassohilfe, die Entgegennahme
von Gesuchen um Vorschüsse und deren Auszahlung sowie das Inkasso der
bevorschussten Beiträge beschränkt ist und der das Antragsrecht nicht
mitumfasst. Die Beratungsstelle war somit zum Antrag berechtigt. Dass
sie den Strafantrag nicht ausdrücklich im Namen der geschiedenen Ehefrau
des Beschwerdeführers stellte, ändert daran nichts, da allein wesentlich
ist, ob sie dazu legitimiert war. Die Beschwerde erweist sich somit
als unbegründet.