Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 II 246



122 II 246

35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
17. Juni 1996 i.S. Schweizerische Bundesbahnen, Kreisdirektion III, gegen
First Church of Christ, Scientist, und Eidgenössische Schätzungskommission,
Kreis 10 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Teilenteignung, Belastung eines Kirchengrundstücks mit einem Tunnelbau-
und Eisenbahnbetriebsservitut, Entschädigungsbemessung.

    Wirft die bestehende Nutzung eines überbauten Grundstücks keinen Ertrag
ab und wäre ein solcher auch bei einem Umbau nicht zu erzielen, so ist
die Entschädigung für ein auf dem Enteignungswege auferlegtes Tunnelbau-
und Bahnbetriebsservitut anhand des Minderwertes zu bestimmen, den die
Parzelle als Baugrundstück durch die servitutsbedingte Beeinträchtigung
der unterirdischen Nutzung erleidet.

Sachverhalt

    A.- Die religiöse Gemeinschaft "First Church of Christ, Scientist"
ist Eigentümerin der rund 4000 m2 umfassenden Parzelle Nr. 2823 in
Zürich-Hottingen. Das nahezu rechteckige Grundstück liegt in der Wohnzone B
(4 Geschosse, Wohnanteil 75%) zwischen der Merkur-, der Kreuzbühl- und der
Kreuzstrasse und grenzt auf der vierten Seite an ein Schulhaus-Areal. Auf
der Parzelle stehen eine Kirche, die in den dreissiger Jahren erstellt
worden ist, sowie eine ebenfalls kirchlichen Zwecken dienende Anbaute.

    Die Liegenschaft der "First Church of Christ, Scientist" ist
für den Bau der - inzwischen erstellten und in Betrieb genommenen -
Zürcher S-Bahn bzw. der zwei von Stadelhofen nach Stettbach führenden
S-Bahn-Tunnels beansprucht worden. Die beiden in einem Abstand von rund
17 m verlaufenden Tunnelröhren durchqueren das Kirchengrundstück in einer
Tiefe von 7 bis 8 m von der Oberfläche bis zum Tunnelscheitel. In einem
Kubus von 6 m Breite ab Tunnelachse und 3,55 m Höhe ab Tunnelscheitel
besteht ein Bauverbot. Über diesen Kuben darf die - gleichmässige -
Baubelastung 1,5 kg/cm2 nicht überschreiten. Zwischen den beiden Röhren
verbleibt somit nur noch ein rund 12 m breiter baulich frei nutzbarer Raum.

    Da die für den Bau und den Betrieb der S-Bahn erforderlichen
Dienstbarkeiten nicht freihändig erworben werden konnten, liessen
die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), Kreisdirektion III, durch den
Präsidenten der Eidgenössischen Schätzungskommission, Kreis 10, gegen die
"First Church of Christ, Scientist" ein Enteignungsverfahren eröffnen. Nach
der Einigungsverhandlung, an der sich die Parteien nur zum Teil
verständigen konnten, sowie weiteren erfolglosen Vergleichsverhandlungen
verpflichtete die Eidgenössische Schätzungskommission, Kreis 10, die SBB
mit Urteil vom 16. Dezember 1991, der Enteigneten für die Einräumung
des Tunnelbau- und Eisenbahnbetriebsservituts eine Entschädigung von
Fr. 2'611'000.-- zu bezahlen, verzinsbar ab Datum der vorzeitigen
Besitzeinweisung.

    Die Schweizerischen Bundesbahnen, Kreisdirektion III, haben gegen
den Entscheid der Schätzungskommission Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erhoben und beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es
sei festzustellen, dass der Enteigneten für die Einräumung des Tunnelbau-
und Eisenbahnbetriebsservituts keine Entschädigung zustehe; eventuell
sei die Entschädigung gerichtlich neu festzusetzen. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde teilweise gut und legt die Entschädigung für die
Teilenteignung auf Fr. 2'400'000.-- fest.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Schätzungskommission ist bei der Entschädigungsbemessung
davon ausgegangen, dass die zwangsweise eingeräumten Dienstbarkeiten die
Enteignete daran hinderten, unter den bestehenden Kirchenbauten im Bereich
der Tunnelröhren weitere Untergeschosse - zwei Geschosse mit Parkflächen
und eines mit Lagerräumen, Archiven und technischen Einrichtungen
- zu errichten. Sie hat weiter angenommen, dass sich die jährliche
Miete für jeden Parkplatz auf Fr. 2'400.-- und für die Lagerflächen auf
Fr. 140.--/m2 belaufen hätte; daraus ergebe sich, kapitalisiert zu 6,5%,
ein Bruttoertragswert von Fr. 36'923.-- pro Autoabstellplatz sowie von Fr.
2'153.-- pro m2 Lagerfläche. Die Baukosten für den unterirdischen Kubus
veranschlagte die Schätzungskommission auf Fr. 390.--/m3 oder Fr. 25'272.--
für jeden Abstellplatz und Fr. 1'053.-- pro m2 Lagerfläche. Kapitalisiert
resultiere somit ein Ertragsverlust von Fr. 485.--/m2 für die Parkfläche
und von Fr. 1'100.--/m2 für die Lagerfläche, woraus ein (gewichteter)
Mittelwert von Fr. 690.--/m2 berechnet werden könne. Bezogen auf die
Gesamtfläche von 3784 m2, die infolge des Tunnelbaus eingebüsst werde,
ergebe sich demnach ein Schaden von Fr. 2'611'000.--. Einen weiteren
Minderwert der von der Enteignung nicht betroffenen Grundstücksteile
hat die Schätzungskommission verneint.

    b) In ihrer Beschwerde kritisieren die SBB nicht in erster Linie die
von der Schätzungskommission angestellten Berechnungen, sondern die diesen
zugrundeliegenden Annahmen. Einerseits heben sie hervor, dass Parkhäuser
kaum noch bewilligt würden und für Lager- und Archivräume angesichts der
kirchlichen Nutzung der Liegenschaft kein Bedarf bestehe. Andererseits
machen die Enteignerinnen geltend, dass die Kosten für die unterirdische
Erweiterung der bestehenden Überbauung ein Mehrfaches des von der
Schätzungskommission angenommen Betrages von Fr. 390.--/m3 ausmachen würden
und daher ein solcher Ausbau ein Verlustgeschäft wäre. Im übrigen dürfe
ohnehin nicht von einer kommerziellen Nutzung als sog. besseren Verwendung
im Sinne von Art. 20 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Enteignung (EntG,
SR 711) des fraglichen Grundstücks ausgegangen werden, da eine solche
nach den eigenen Erklärungen der Enteigneten höchst unwahrscheinlich sei.

    Die SBB kommen daher zum Schluss, dass der Kirche für die ihr auf dem
Enteignungswege auferlegten Servitute keine Entschädigung zuzusprechen sei,
und sie betonen, dass die teilenteignete Liegenschaft durch die Zürcher
S-Bahn und die dadurch verbesserte Erreichbarkeit als überkommunale
Begegnungsstätte der Kirchgemeinschaft wesentlich aufgewertet worden sei.

Erwägung 3

    3.- Die SBB beanstanden die von der Schätzungskommission angestellte
Schadensberechnung mit gutem Grund. Nach einhelliger Auffassung der
bundesgerichtlichen Experten ist es tatsächlich ausgeschlossen, unter
den bestehenden Gebäuden die ins Auge gefassten Untergeschosse zu einem
Kostenaufwand von bloss Fr. 390.--/m3 zu errichten. Zu diesen Kosten
könnte das unterirdische Bauvolumen bei den gegebenen geologischen
Verhältnissen nur erstellt werden, wenn das fragliche Grundstück noch
frei von Bauten wäre. Die Schätzungskommission hat also übersehen,
dass die bestehenden Gebäude nicht nur hätten unterfangen, sondern auch
neu abgestützt werden müssen. Der für den Erweiterungsbau erforderliche
finanzielle Aufwand hätte sich daher auf das Zwei- bis Dreifache des von
der Schätzungskommission eingesetzten Betrages belaufen und jede Rendite
illusorisch werden lassen. Den Annahmen der Schätzungskommission ist somit
nicht zu folgen. Das heisst allerdings, wie sich aus dem folgenden ergibt,
noch nicht, dass der Enteigneten kein Entschädigungsanspruch zustehe.

Erwägung 4

    4.- Dienstbarkeiten sind keine Marktgüter, keine Handelsware und weisen
daher keinen Verkehrswert im Sinne von Art. 19 lit. a EntG auf. Werden,
wie hier, Dienstbarkeiten auf dem Enteignungswege auf einem Grundstück
errichtet, oder wird ein bestehendes Servitut zwangsweise aufgehoben oder
eingeschränkt, so gelangen für die Bemessung der Entschädigung die Regeln
über die Teilenteignung gemäss Art. 19 lit. b EntG zur Anwendung. Nach
der sog. Differenzmethode hat der Enteignete im ersten Fall Anspruch
auf Ersatz der Wertdifferenz, die sich zwischen dem Verkehrswert des
unbelasteten und jenem des belasteten Grundstücks ergibt; im zweiten Fall
ist ihm der Unterschied zu vergüten, die sich aus der Gegenüberstellung
des Wertes des servitutsbegünstigten Grundstücks und jenem des Bodens
ohne Dienstbarkeitsberechtigung ergibt. Neben diesem Minderwert sind
allfällige weitere Nachteile zu ersetzen, die sich nach dem gewöhnlichen
Lauf der Dinge als Folge der Enteignung voraussehen lassen (Art. 19 lit. c
EntG). Massgebend ist in jedem Fall die Vermögenslage des Enteigneten
(BGE 102 Ib 173 E. 2, 121 II 436 E. 8a; s.a. BGE 114 Ib 321 E. 3, 106 Ib
241 E. 3 S. 245, je mit Hinweisen).

    Aus diesen Grundsätzen ergibt sich hier folgendes:

    a) Der Verkehrswert der enteigneten Liegenschaft entspricht dem
Erlös, der bei Veräusserung im freien Handel am massgebenden Stichtag
objektiverweise hätte erzielt werden können (BGE 106 Ib 223 E. 3a;
HESS/WEIBEL, Das Enteignungsrecht des Bundes, Bd. I, N. 50 zu Art. 19
EntG). Bei der Bestimmung des Preises, den irgendein Käufer für die
Liegenschaft bezahlt hätte, ist zunächst davon auszugehen, dass es nach
den Darlegungen der Experten ausgeschlossen ist, das Kirchengebäude
und die Anbauten einem Umbau zu unterziehen, der eine nach Bauordnung
zulässige und gewinnbringende Nutzung erlauben würde. Die bestehenden
Kirchenbauten müssen daher - ungeachtet der bemerkenswerten Bauart und
der keineswegs billigen Ausführung - wirtschaftlich als Abbruchobjekte
betrachtet werden, für die ein Erwerber nichts oder höchstens einen
symbolischen Preis bezahlen würde. Unter diesen Umständen besteht
der Wert der Liegenschaft allein im Wert des Bodens als Bauland. Als
Baugrundstück weist die umstrittene Parzelle eine nahezu ideale Form und
Fläche auf und befindet sich zudem an günstiger Geschäftslage in Nähe des
Stadtzentrums. Ihr Wert darf daher nach Meinung der Experten im Vergleich
mit den im bundesgerichtlichen Urteil vom 6. November 1991 i.S. Staat
Zürich gegen Erben de Stoutz (E. 2b) genannten Preisen, die den Parteien
bekannt sind, auf insgesamt 16 Millionen Franken festgesetzt werden,
was ungefähr einem Quadratmeterpreis von Fr. 4'000.-- entspricht.

    b) Die Errichtung der für den Bau und Betrieb der Eisenbahnanlagen
notwendigen Servitute hat zur Folge, dass die durch die Bauordnung an
sich nicht begrenzte unterirdische bauliche Nutzung der Parzelle auf ein
einziges Untergeschoss beschränkt wird. Weiter müsste ein Neubau wegen
der Belastungsbeschränkung auf eine Fundamentplatte gestellt werden,
die zwischen und neben den Tunnelröhren abgestützt werden müsste. Der
Bau eines solchen Fundamentes verursacht beträchtliche Mehrkosten. Diese
Verteuerung der Baukosten sowie die geschilderte Einschränkung der
unterirdischen Nutzung führen zu einem Minderwert der Liegenschaft, der
nach Auffassung der bundesgerichtlichen Experten die Höhe von 15% des
Verkehrswertes erreicht, sich also auf 2,4 Millionen Franken beläuft. Das
Bundesgericht hat keinen Anlass, von dieser Schätzung seiner Gutachter
und der hiezu vorgebrachten Begründung - die weder auf einem Irrtum beruht
noch Widersprüche enthält oder lückenhaft wäre - abzuweichen.

    c) Die Enteignerinnen wenden gegen diese Betrachtungsweise ein, die
Enteignete beabsichtige nach ihrer eigenen Darstellung nicht, die heutige
Nutzung ihres Grundstücks aufzugeben, dieses zu verkaufen oder selbst
neu zu überbauen. Es dürfe daher nicht von einer besseren Verwendung im
Sinne von Art. 20 Abs. 1 EntG ausgegangen werden. Dieser Einwand ist
jedoch unbehelflich. Ausschlaggebend ist hier wie dargelegt allein, dass
die heutigen Bauten auf dem enteigneten Grundstück rein wirtschaftlich
betrachtet keinen Wert aufweisen, dass sich der Wert des Grundstücks in
dessen Baulandqualität konzentriert und dass dieser Baulandwert durch
das Werk der Enteignerinnen beeinträchtigt worden ist. Die Enteignete hat
dadurch eine wirtschaftliche Einbusse erlitten, für die sie entschädigt
werden muss.

    Im weiteren kann der Umstand, dass das Kirchengebäude als Werk
von Architekt Hans Hofmann im kommunalen Inventar der allenfalls
schützenswerten Bauten verzeichnet ist, ebenfalls nicht zu einer Reduktion
oder zur Streichung der Enteignungsentschädigung führen. Die Aufnahme
in das Inventar hat nur zur Folge, dass am fraglichen Objekt ohne
Bewilligung der zuständigen Behörde keine tatsächlichen Veränderungen
vorgenommen werden können. Dieses Veränderungsverbot fällt jedoch
dahin, wenn innert Jahresfrist keine endgültige Schutzmassnahme
angeordnet wird (vgl. § 209 des Zürcher Gesetzes über die Raumplanung
und das öffentliche Baurecht vom 7. September 1975). Eine solche
Unterschutzstellung ist bisher nicht erfolgt. Sollte die Kirche in Zukunft
tatsächlich einmal zum Denkmalschutzobjekt erklärt werden, so wird
im dannzumaligen Entschädigungsverfahren wegen materieller Enteignung
den Eisenbahn-Dienstbarkeiten und der dadurch bewirkten Entwertung der
Liegenschaft Rechnung getragen werden müssen. Würde also der eingetretene
Schaden heute nicht ersetzt, so hätte die Eigentümerin auch keine
Möglichkeit, sich in einem späteren Verfahren schadlos zu halten.

    Schliesslich liesse es sich entgegen der Meinung der Enteignerinnen
nicht rechtfertigen, die Enteignungsentschädigung im Hinblick
auf die durch den Bahnbau bewirkte Verbesserung der Verkehrs- und
Erschliessungsverhältnisse zu mindern. Der Betrieb der S-Bahn bringt
keinen Sondervorteil für die Enteignete, sondern kommt allen Anwohnern
zugute und kann daher nicht an die Enteignungsentschädigung angerechnet
werden (vgl. Art. 22 EntG; HESS/WEIBEL, aaO, N. 4 zu Art. 22 EntG).