Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 II 228



122 II 228

32. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. Juli 1996
i.S. Bundesamt für Polizeiwesen gegen S. (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 90 Ziff. 2, Art. 16 Abs. 3 lit. a und Art. 32 SVG; Art.  4a Abs. 1
lit. a VRV; obligatorischer Führerausweisentzug.

    Wer die Innerorts-Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 31 km/h
überschreitet, begeht objektiv immer eine schwere Verkehrsregelverletzung
im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 beziehungsweise Art. 16 Abs. 3 lit. a
SVG. Bejahung subjektiver Tatbestandselemente auf Grund örtlicher Situation
(E. 3c).

Sachverhalt

    A.- S. überschritt am 26. August 1994 um 16.14 Uhr auf der
Lukasstrasse in St. Gallen mit seinem Personenwagen die gesetzliche
Innerorts-Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 31 km/h (nach Abzug der
Sicherheitsmarge von 5 km/h). Das Untersuchungsrichteramt St. Gallen büsste
ihn deswegen am 10. November 1994 wegen einfacher Verkehrsregelverletzung
mit Fr. 600.--.

    Das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons St. Gallen
entzog S. am 13. Januar 1995 wegen desselben Vorfalls den Führerausweis
für die Dauer von drei Monaten. Einen Rekurs des Betroffenen hiess die
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 13. Dezember 1995
teilweise gut und setzte die Entzugsdauer auf zwei Monate fest.

    Das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben und S. sei der Führerausweis für die Dauer von sechs
Monaten zu entziehen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die Geschwindigkeit ist stets den Umständen anzupassen,
namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung sowie den
Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Wo das Fahrzeug den Verkehr
stören könnte, ist langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten,
namentlich vor unübersichtlichen Stellen, vor nicht frei überblickbaren
Strassenverzweigungen sowie vor Bahnübergängen (Art. 32 Abs. 1 SVG;
SR 741.01). Die allgemeine Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge beträgt
unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen 50 km/h in
Ortschaften (Art. 4a Abs. 1 lit. a der Verkehrsregelverordnung [VRV;
SR 741.11]). Abweichende signalisierte Höchstgeschwindigkeiten gehen den
allgemeinen Höchstgeschwindigkeiten vor (Art. 4a Abs. 5 VRV).

    Gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder mit Busse bestraft,
wer Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des
Bundesrates verletzt. Nach Art. 90 Ziff. 2 SVG wird mit Gefängnis oder
mit Busse bestraft, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine
ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt.

    Gemäss Art. 16 Abs. 2 SVG kann der Führer- oder Lernfahrausweis
entzogen werden, wenn der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch
den Verkehr gefährdet oder andere belästigt hat (Satz 1). In leichten
Fällen kann eine Verwarnung ausgesprochen werden (Satz 2). Der Führer-
oder Lernfahrausweis muss entzogen werden, wenn der Führer den Verkehr
in schwerer Weise gefährdet hat (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG).

    b) Art. 90 Ziff. 2 SVG ist nach der Rechtsprechung objektiv erfüllt,
wenn der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise
missachtet und die Verkehrssicherheit abstrakt oder konkret gefährdet
hat. Subjektiv erfordert der Tatbestand, dass dem Täter aufgrund eines
rücksichtslosen oder sonstwie schwerwiegend regelwidrigen Verhaltens
zumindest eine grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Eine ernstliche Gefahr
für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 90 Ziff. 2 SVG ist bereits
bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Die erhöhte abstrakte
Gefahr setzt die naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder
Verletzung voraus (BGE 121 IV 230 E. 2b/aa mit Hinweisen).

    Wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90
Ziff. 2 SVG eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft
oder in Kauf nimmt, gefährdet in schwerer Weise den Verkehr im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG. Diese beiden Vorschriften stimmen inhaltlich
miteinander überein (BGE 120 Ib 285).

    Nach der neueren Rechtsprechung gilt auf richtungsgetrennten
Autobahnen, dass bei Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
von 120 km/h um wenig mehr als 30 km/h die konkreten Umstände zu prüfen
sind für die Beantwortung der Frage, ob Art. 90 Ziff. 2 beziehungsweise
Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG anwendbar ist. Ungeachtet der konkreten Umstände
sind diese Bestimmungen dagegen stets anwendbar, wenn die zulässige
Höchstgeschwindigkeit um deutlich mehr als 30 km/h überschritten wird (BGE
118 IV 188 E. 2b; 119 Ib 154 E. 2a, je mit Hinweis). Ebenfalls unabhängig
der konkreten Umstände ist objektiv eine schwere Verkehrsregelverletzung
gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG erfüllt, wenn auf nicht richtungsgetrennten
Autostrassen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h
oder mehr überschritten wird (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des
Kassationshofes vom 3. Mai 1996 i.S. P.).

    In BGE 121 II 127 wurde auf die besonderen Gefahren von
Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts hingewiesen. Die Zahl der vom
Lenker zu verarbeitenden Reize ist innerorts grösser als ausserorts und
auf der Autobahn, was eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert. Zudem
sind innerorts viele schwache Verkehrsteilnehmer vorhanden (Fussgänger,
Velofahrer), die - vor allem Kinder und ältere Menschen - einem besonderen
Risiko ausgesetzt sind. Darüber hinaus besteht eine erhöhte Gefahr
von Seitenkollisionen. In dem in BGE 121 II 127 zu beurteilenden Fall
schützte das Bundesgericht den Entscheid der kantonalen Behörde, die
einen mittelschweren Fall nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 SVG annahm bei einer
Fahrzeuglenkerin, welche die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um
27 km/h überschritten hatte. Es liess offen, ob nicht sogar ein schwerer
Fall nach Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG anzunehmen gewesen wäre, da eine
Erhöhung der Dauer des Führerausweisentzugs aus prozessualen Gründen
ausser Betracht fiel (E. 4d).

    c) Der Beschwerdegegner hat die signalisierte Höchstgeschwindigkeit
innerorts um 31 km/h überschritten. Da auf nicht richtungsgetrennten
Autostrassen bereits eine Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 30 km/h objektiv eine schwere
Verkehrsregelverletzung darstellt, ist auch hier von einer solchen
auszugehen.

    Im angefochtenen Entscheid äussert sich die Vorinstanz nur theoretisch
über Geschwindigkeiten, die im Innerortsbereich gefahren werden
dürfen, nicht aber über die besonderen Örtlichkeiten der Lukasstrasse
in St. Gallen. In ihrer Vernehmlassung fügt sie abschliessend bei,
die Lukasstrasse stelle keine typische Innerortsstrecke dar, da sie im
Messbereich nicht überbaut sei. Diese Aussage berichtigt die Vorinstanz
jedoch in der Duplik, weil sie früher irrtümlich davon ausgegangen
sei, die Messung habe im Bereich der Brücke stattgefunden. Die
Vorinstanz nimmt somit für den Bereich der Lukasstrasse 30, dem Ort der
Geschwindigkeitsmessung, eine dichte Überbauung und auch Innerortscharakter
an. Damit ist der Einwand des Beschwerdegegners gegenstandslos, das
Bundesgericht sei im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG an die vorinstanzliche
Feststellung gebunden, vorliegend handle es sich nicht um eine typische
Innerortssituation.

    Aus dem Polizeirapport vom 6. September 1994, den vom Beschwerdegegner
in der Vernehmlassung sowie der Duplik eingereichten Fotos und dem
von der Stadtpolizei St. Gallen gefaxten Ausschnitt des Stadtplanes mit
eingezeichneten Liegenschaften ergibt sich folgendes Bild: Die Radarmessung
erfolgte auf der Höhe Lukasstrasse Nr. 30. Bereits vor dieser Liegenschaft
steht linksseitig das Wohnhaus Nr. 34 mit einem Ausgang (Gartentor) auf
das Trottoir. Noch vor dieser Liegenschaft besteht links eine öffentlich
zugängliche Einfahrt und rechts - unmittelbar vor dem Trainingsplatz des FC
St. Gallen - eine private Zufahrt. Ab der Liegenschaft Nr. 30 ist die linke
Seite der Lukasstrasse dicht überbaut. Auf der rechten Seite erstreckt
sich noch auf etwa 20 m der Trainingsplatz; anschliessend folgt auch hier
eine dichte Überbauung mit überwiegend Gewerbe- oder Industriebetrieben
sowie dazugehörigen Ausfahrten und Parkplätzen. Die Lukasstrasse beschreibt
kurz vor der Liegenschaft Nr. 30 eine leichte Rechtskurve und ist auf
der ganzen Länge beidseitig mit Trottoirs versehen. Sie verbindet die
Ortsteile Neudorf und Heiligkreuz. Insbesondere aufgrund der dichten
Überbauung und den Einfahrten im Bereich der Geschwindigkeitsmessung
ist mit dem BAP und entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners der
Innerortscharakter der fraglichen Stelle zu bejahen.

    Diesen Verhältnissen hat der Beschwerdegegner mit seiner massiv
übersetzten Geschwindigkeit in krasser Weise nicht Rechnung getragen. Er
musste - da die Lukasstrasse zwei Ortsteile miteinander verbindet -
insbesondere mit Fussgängern und Zweiradfahrern rechnen. Zudem musste
er gewärtigen, dass Fahrzeuge aus verschiedenen Einfahrten vor und nach
der Liegenschaft Nr. 30 auf die Lukasstrasse einbiegen würden. Diese
anderen Verkehrsteilnehmer durften sich, auch soweit sie wartepflichtig
waren, auf den Vertrauensgrundsatz berufen (BGE 120 IV 252 E. 2d/aa). Sie
mussten sich nicht darauf einstellen, dass ein Fahrzeug mit einer derart
übersetzten Geschwindigkeit herannahen würde (vgl. BGE 118 IV 277, wonach
auf Hauptstrassen ausserorts, wo die allgemeine Höchstgeschwindigkeit nach
Art. 4a Abs. 1 lit. b VRV 80 km/h beträgt, generell mit Geschwindigkeiten
von über rund 90 km/h nicht gerechnet werden muss). Unter diesen Umständen
ist das Verhalten des Beschwerdegegners mindestens als grobfahrlässig zu
bezeichnen, weshalb auch subjektiv eine schwere Verkehrsregelverletzung
vorliegt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass das Verkehrsaufkommen
im Zeitpunkt der Widerhandlung gering war und eine konkrete Gefährdung
anderer Verkehrsteilnehmer nicht aktenkundig ist. Denn die Anwendung von
Art. 90 Ziff. 2 beziehungsweise Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG setzt keine
konkrete Gefahr voraus. Eine erhöhte abstrakte Gefahr genügt. Diese lag
hier vor.

    d) Die Ausführungen des Beschwerdegegners sowohl in Vernehmlassung
als auch in der Duplik befassen sich hauptsächlich mit den örtlichen
Gegebenheiten im Bereich der Brücke, nicht aber auf der Höhe der
Lukasstrasse 30, dem hier entscheidenden Standort. Ausgehend von
dieser falschen Annahme gehen denn auch seine rechtlichen Erwägungen
an der Sache vorbei. Soweit der Beschwerdegegner geltend macht, der
Strafrichter habe ihn nur wegen Art. 90 Ziff. 1 SVG verurteilt, woran die
Administrativbehörde gebunden sei, kann auf die zutreffenden Ausführungen
der Vorinstanz verwiesen werden (Art. 36a Abs. 3 OG). Schliesslich
hilft dem Beschwerdegegner auch der Hinweis auf die Teilrevision des
Bundesgesetzes über die Ordnungsbussen vom 6. Oktober 1995 nicht weiter.
Denn auch nach der neuen Ordnungsbussenverordnung vom 4. März 1996 werden
Geschwindigkeitsüberschreitungen innerorts um 16 und mehr km/h wie bisher
im ordentlichen Strafverfahren geahndet (Bussenliste 303.1; AS 1996, 1088).

Erwägung 4

    4.- Nach dem Gesagten hat der Beschwerdegegner einen obligatorischen
Entzugsgrund gesetzt (Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG). Da er die neuerliche
Verfehlung zudem innert zwei Jahren seit dem letzten Führerausweisentzug
begangen hat, beträgt die Entzugsdauer mindestens sechs Monate (Art. 17
Abs. 1 lit. c SVG; BGE 119 Ib 154 E. 2b).