Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 II 21



122 II 21

4. Urteil des Kassationshofes vom 24. Januar 1996 i.S. S. gegen
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 17 Abs. 1 SVG, Art. 33 Abs. 2 VZV; Dauer des Führerausweisentzugs,
Leumund als Motorfahrzeugführer.

    Bedeutung eines ungetrübten automobilistischen Leumunds bei der
Bemessung der Dauer eines Führerausweisentzugs (E. 1b).

Sachverhalt

    A.- Das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons
St. Gallen entzog S. am 23. August 1994 den Führerausweis wegen
Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (168 statt 120 km/h)
für die Dauer von vier Monaten. Einen Rekurs des Betroffenen hiess die
Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 5. September 1995
teilweise gut und setzte die Entzugsdauer auf drei Monate fest.

    S. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Entzugsdauer auf zwei
Monate herabzusetzen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer macht geltend, im Zeitpunkt der
Geschwindigkeitsüberschreitung hätten gute atmosphärische Verhältnisse
geherrscht, die Fahrbahn sei trocken und das Verkehrsaufkommen gering
gewesen; da ihm nur eine virtuelle Verkehrsgefährdung vorgeworfen werden
könne, sei sein Verschulden lediglich als mittelschwer einzustufen.

    Der Beschwerdeführer überschritt die nur unter günstigen
Verkehrsbedingungen erlaubte Höchstgeschwindigkeit (BGE 121 II 127
E. 4a) von 120 km/h um 48. Dass derartige Geschwindigkeitsexzesse immer
wieder zu schweren Unfällen auch mit tödlichem Ausgang führen, ist
allgemein bekannt. Da der Beschwerdeführer im Notfalldienst auch als
stellvertretender Chefarzt der Klinik für Chirurgie arbeitet, musste
er besonders um die zum Teil tragischen Folgen von Verkehrsunfällen
wissen. Zudem machte er mit seinem neuen Jaguar auf der Autobahn eine
Testfahrt und rechnete somit auch mit hohen Geschwindigkeiten. Unter
diesen Umständen ist die Beurteilung der Vorinstanz, sein Verschulden
wiege schwer, nicht zu beanstanden. Im übrigen kann auf ihre Ausführungen
zum Verschulden verwiesen werden (Art. 36a Abs. 3 OG).

    b) Der Beschwerdeführer rügt, er habe eine sanktionsfreie Fahrpraxis
von über 30 Jahren hinter sich, und dieser ausgezeichnete automobilistische
Leumund müsse eine Herabsetzung der Entzugsdauer zur Folge haben. Die
unterschiedliche Praxis der Vorinstanz, lediglich den getrübten Leumund
massnahmeverschärfend zu berücksichtigen, nicht jedoch einen tadellosen
massnahmeherabsetzend, sei durch nichts zu rechtfertigen und stelle einen
Ermessensmissbrauch dar.

    Gemäss Art. 33 Abs. 2 VZV richtet sich die Dauer des Entzugs
vor allem nach der Schwere des Verschuldens, dem Leumund als
Motorfahrzeugführer sowie nach der beruflichen Notwendigkeit, ein
Motorfahrzeug zu führen. Diese Bestimmung verlangt somit von der
Entzugsbehörde, dass sie das Element des automobilistischen Leumunds
bei der Bemessung der Entzugsdauer in die Waagschale legt. Dass ein
getrübter Leumund massnahmeverschärfend zu veranschlagen ist, wird
allgemein anerkannt. Ein ungetrübter automobilistischer Leumund ist
zwar Ausgangspunkt für die "normale" Entzugsdauer. Um dem bisherigen
Verhalten eines Verkehrsteilnehmers gerecht zu werden, bedarf es jedoch
einer differenzierten Betrachtungsweise. Die Bedeutung eines ungetrübten
Fahrerleumunds ändert je nach Fahrer insofern, als der effektiven
Fahrpraxis ein ganz anderes Gewicht zukommt, je nachdem wie gross diese
ist. Es gibt Fahrzeuglenker mit einem ungetrübten automobilistischen
Leumund, die erst seit wenigen Jahren im Besitz des Führerausweises
sind und nur eine geringe Fahrpraxis aufweisen, aber auch solche, die
seit vielen Jahren ein Motorfahrzeug lenken und jährlich sehr grosse
Strecken zurücklegen. Während eine relativ kleine regelkonforme Fahrpraxis
entsprechend wenig über die Massnahmebedürftigkeit des Lenkers aussagt,
hat ein solcher mit einer tadellosen, langjährigen und grossen Fahrpraxis
den Beweis erbracht, dass er zu einer regelkonformen Fahrweise nicht nur
grundsätzlich bereit, sondern auch fähig ist. Entsprechend drängen sich
bei ihm weniger einschneidende Massnahmen auf, was bei der Ermessensfrage
der Notwendigkeit einer Massnahme und gegebenenfalls deren Dauer ins
Gewicht fällt.

    Allerdings stösst diese differenzierte Betrachtungsweise heute auf
praktische Grenzen. Gestützt auf Art. 104 SVG und verwaltungsinterne
Weisungen des EJPD werden seit 1987 sämtliche Administrativmassnahmen -
die Verwarnungen seit 1993 (vgl. die Schlussbestimmungen der Änderung
vom 13. November 1991 zur VZV) - im automatisierten Datensystem
für Administrativmassnahmen (ADMAS; vgl. Art. 118 Abs. 4 VZV)
registriert. Zweimal jährlich wird das Register auf den neuesten
Stand gebracht, indem sämtliche Massnahmen, die fünf Jahre und länger
zurückliegen - bei Sicherungsentzügen und Warnungsentzügen wegen
Fahrens in angetrunkenem Zustand sowie Vereitelung der Blutprobe nach
zehn Jahren - im System gelöscht werden, wenn in der Zwischenzeit keine
neue Massnahme angeordnet worden ist. In einem solchen Fall erscheint
der automobilistische Leumund als ungetrübt, obwohl früher vielleicht
sogar mehrere Administrativmassnahmen angeordnet worden waren. Dieser
Umstand verunmöglicht eine differenzierte Betrachtungsweise des länger
zurückliegenden automobilistischen Leumunds. Doch selbst wenn ausnahmsweise
lückenlos eine langjährige regelkonforme Fahrweise nachgewiesen werden
kann, ist folgendes zu bedenken: Weit zurückliegenden Massnahmen kann
ebensowenig Aussagekräftiges entnommen werden wie länger zurückliegendem
korrektem Verhalten, wenn die Notwendigkeit und Intensität einer heute
anzuordnenden Massnahme zu beurteilen sind.

    Trotz dieser Einschränkung muss der ungetrübte automobilistische
Leumund der letzten fünf Jahre (und soweit nachgewiesen auch für eine
längere Zeit) im Rahmen der Massnahmedauer zugunsten des Betroffenen
berücksichtigt werden. Ob dieses Element für sich allein oder nur
im Zusammenhang mit anderen Beurteilungsmerkmalen im konkreten Fall
eine Herabsetzung der Entzugsdauer rechtfertigt, kann nicht generell
festgelegt werden. Vielmehr wird diesem Punkt je nach Gewicht der übrigen
wesentlichen Umstände bei der Gesamtbeurteilung des Einzelfalles mehr oder
weniger Bedeutung zukommen. Die Auffassung der Vorinstanz, das bisherige
klaglose Verhalten eines Betroffenen im Strassenverkehr begründe keinen
Anspruch auf Reduktion der Entzugsdauer, ist in dieser Form zu absolut
und findet auch im zitierten BGE 120 Ib 312 E. 4d keine Stütze. In jenem
Fall war der Fahrzeuglenker erst gerade seit zwei Jahren im Besitz des
Führerausweises (E. 1b), und diese bloss kurze massnahmeunauffällige
Fahrpraxis rechtfertigte kein Unterschreiten der "normalen" Entzugsdauer.

    Der Beschwerdeführer hat den Führerausweis im Jahre 1964 erworben und
ist in der eidgenössischen Administrativkontrolle nicht verzeichnet. Er
kann sich somit - soweit sein Verhalten registermässig erfasst war -
über ein langjähriges klagloses Verhalten ausweisen. Dieser Umstand ist
bei der Bestimmung der Massnahmedauer zu berücksichtigen.

    c) Im Zusammenhang mit der beruflichen Angewiesenheit auf den
Führerausweis wirft der Beschwerdeführer der Vorinstanz vor, sie
habe offensichtlich den Sachverhalt unrichtig festgestellt. Wenn
sie festhalte, dass neben dem Beschwerdeführer noch weitere Ärzte im
Chefarzt-Bereitschaftsdienst eingesetzt werden könnten, übersehe sie
die gerichtsnotorische Tatsache, dass eine Klinik für Chirurgie nur über
einen Chefarzt sowie einen stellvertretenden Chefarzt verfüge.

    Wie es sich damit verhält, kann vorliegend offenbleiben wie auch
die Frage, ob die Vorinstanz diesbezüglich von Amtes wegen weitere
Untersuchungen hätte durchführen müssen. Sie verneinte eine berufliche
Angewiesenheit des Beschwerdeführers auf den Führerausweis nicht nur wegen
des zeitlich beschränkten Bereitschaftsdienstes; sie wies auch darauf
hin, dass er die fraglichen Nächte in Spitalnähe verbringen oder sich
durch Familienangehörige oder einen anderweitigen Fahrdienst ins Spital
fahren lassen könne. Dagegen bringt er nichts Wesentliches vor. Dass eine
derartige Organisation, die ein rechtzeitiges Eintreffen am Arbeitsort
gewährleistet, mit Umtrieben und auch finanziellem Mehraufwand verbunden
ist, gehört zu den möglichen Folgen eines Führerausweisentzugs, begründet
aber noch keine berufliche Angewiesenheit auf den Führerausweis.

    d) Nach dem Gesagten trifft den Beschwerdeführer ein schweres
Verschulden. Der ungetrübte automobilistische Leumund ist zu seinen
Gunsten zu gewichten, nicht jedoch eine berufliche Angewiesenheit
auf den Führerausweis. Selbst wenn entgegen dem vorinstanzlichen
Vorgehen der ungetrübte automobilistische Leumund des Beschwerdeführers
massnahmemindernd berücksichtigt wird (E. b), liegt angesichts seines
schweren Verschuldens die Anordnung eines dreimonatigen Entzugs im Rahmen
des vorinstanzlichen Ermessens, weshalb im Ergebnis eine Verletzung von
Bundesrecht zu verneinen ist.

Erwägung 2

    2.- (Kostenfolgen).