Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 III 92



122 III 92

18. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. Januar 1996 i.S. B.
L. und A. L. gegen Erbengemeinschaft R. H. (Berufung) Regeste

    Mietvertrag; Ausweisungsverfahren (Art. 274g OR); Endentscheid
(Art. 48 Abs. 1 OG).

    Endentscheid im Ausweisungsverfahren (Art. 48 Abs. 1 OG). Wann
richtet sich das Ausweisungsverfahren nach der bundesrechtlichen
Verfahrensvorschrift von Art. 274g OR, wann nach kantonalem Recht (E. 2)?

Sachverhalt

    A.- Seit 1985 betreibt B. L. in der Liegenschaft K. in Luzern als
Mieterin ein Coiffeurgeschäft. Zum Mietobjekt gehören die Ladenlokalitäten
im Erdgeschoss, Räumlichkeiten im ersten und zweiten Obergeschoss sowie
ein Kellerraum.

    Im Jahre 1992 trat der Ehemann von B. L. dem Mietvertrag als
Solidarschuldner bei.

    Aufgrund verschiedener Vorkommnisse (Nachtruhestörungen,
Polizeieinsätze, Matratzenbrand) ermahnten die Vermieter die Mieter
mit Schreiben vom 30. März 1995 und forderten sie auf, Rücksicht auf
die Mitmieter zu nehmen, Störungen zu unterlassen sowie für Ruhe und
Ordnung zu sorgen. Nachdem am 20. April 1995 die Stadtpolizei Luzern
erneut ausrücken musste, kündigten die Vermieter am 25. April 1995 das
Mietverhältnis auf den 31. Mai 1995. Die Mieter fochten diese Kündigung
nicht an, verblieben aber weiterhin im Mietobjekt.

    Mit Gesuch vom 26. Juni 1995 verlangten die Vermieter vor
dem Amtsgerichtspräsidenten III von Luzern Stadt die Ausweisung der
Mieter. Mit Entscheid vom 31. Juli 1995 stellte der Amtsgerichtspräsident
die rechtsgültige Auflösung des Mietverhältnisses fest. Er wies die Mieter
unter Androhung der polizeilichen Vollstreckung an, das Mietobjekt innert
zehn Tagen seit Rechtskraft des Urteils zu verlassen. Auf Rekurs der
Mieter bestätigte die I. Kammer des Obergerichts des Kantons Luzern am
29. September 1995 das angefochtene Urteil. Sie wies die Mieter an, das
Mietobjekt bis zum 20. Oktober 1995 zu räumen. Gleichzeitig ermächtigte
sie die Vermieter, die Ausweisung polizeilich vollstrecken zu lassen,
sollten die Mieter die Räumlichkeiten nicht fristgemäss verlassen. Das
Bundesgericht ist auf die Berufung nicht eingetreten.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz haben die
Mieter die ausserordentliche Kündigung nicht selbständig innerhalb der
Fristen von Art. 273 OR angefochten, sondern den Einwand der Unwirksamkeit
erstmals im Ausweisungsverfahren erhoben. Die Mieter machen geltend, sie
seien nicht verpflichtet gewesen, die Kündigung anzufechten. Es genüge,
wenn sie deren Wirksamkeit im Ausweisungsverfahren bestritten. Der
Ausweisungsrichter habe den Einwand so oder anders umfassend zu
prüfen. Sein Entscheid sei daher berufungsfähig.

    a) Die Berufung ist - von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen
- erst gegen Endentscheide der oberen kantonalen Gerichte zulässig
(Art. 48 Abs. 1 OG). Ein berufungsfähiger Endentscheid liegt vor, wenn
das kantonale Gericht materiell in der Sache entscheidet. Ein solcher
Entscheid verbietet endgültig, dass der gleiche Anspruch zwischen den
gleichen Parteien nochmals geltend gemacht wird (BGE 111 II 463 E. 1a).

    b) Die Bezeichnung der Behörden und die Ausgestaltung des Verfahrens
fallen auch im Mietrecht grundsätzlich in die Zuständigkeit der Kantone
(Art. 64 Abs. 3 BV, Art. 274 OR). Dazu gehört ebenfalls die Regelung
des Ausweisungsverfahrens als Teil des Zivilprozessrechts (BGE 119 II
141 E. 4a). Die Kantone sind frei, die Ausweisung dem ordentlichen,
beschleunigten oder summarischen Verfahren zuzuweisen. Ebenso sind
sie frei, einem Ausweisungsbegehren definitiven oder nur vorläufigen
Rechtsschutz zu gewähren.

    Ob ein Ausweisungsentscheid berufungsfähig ist, hängt demnach von
der Ausgestaltung des kantonalen Verfahrens ab. Ein berufungsfähiger
Endentscheid im Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG liegt vor, wenn der
Ausweisungsrichter endgültig urteilt und der streitige Anspruch nicht
Gegenstand eines weiteren Verfahrens bilden kann (BGE 116 II 381 E. 2, 119
II 241 E. 3). Dies gilt etwa für den zürcherischen Ausweisungsentscheid
(§ 222 Ziff. 2 ZPO/ZH). Ihm kommt unbeschränkte Rechtskraftwirkung zu
(BGE 103 II 247 E. 1, 104 II 216 E. 2c und 3). Nicht berufungsfähig ist
demgegenüber der Ausweisungsentscheid, welcher - wie etwa im bernischen
Recht (Art. 326 ZPO/BE) - bloss als einstweilige Verfügung ergeht. Er hat
provisorischen Charakter. Der streitige Anspruch kann noch dem ordentlichen
Richter unterbreitet werden (BGE 104 II 216 E. 2).

    c) Die Rechtsetzungsbefugnis der Kantone wird indessen dort
eingeschränkt, wo das Bundesrecht selbst prozessuale Vorschriften
festsetzt. Eine solche Ausnahmebestimmung findet sich für das
mietrechtliche Verfahren namentlich in Art. 274g OR. Sie enthält für das
Ausweisungsverfahren prozessuale Sondervorschriften.

    Ficht der Mieter eine ausserordentliche Kündigung an und ist
ein Ausweisungsverfahren hängig, ist nach Art. 274g Abs. 1 OR der
Ausweisungsrichter auch zuständig, über die Wirkung dieser Kündigung
zu entscheiden. Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmung ist
unter anderem, dass zwei Verfahren hängig sind, nämlich einerseits
ein Anfechtungs- und anderseits ein Ausweisungsverfahren. Diesfalls
hat der Ausweisungsrichter beide Begehren umfassend zu beurteilen. Es
liegt insoweit eine bundesrechtliche Kompetenzattraktion vor. Diese
soll verhindern, dass mehrere Verfahren vor verschiedenen Behörden
durchgeführt werden müssen, und dient damit der beförderlichen Erledigung
von mietrechtlichen Auseinandersetzungen (BGE 117 II 554 E. 2c S. 557). Der
Entscheid des Ausweisungsrichters nach Art. 274g OR hat daher in einem
vollständigen Erkenntnisverfahren zu ergehen. Ihm kommt von Bundesrechts
wegen materielle Rechtskraft zu (BGE 117 II 554 E. 2d S. 559, 118 II 302
E. 4, 119 II 141 E. 4).

    d) Die Rechtsprechung des Bundesgerichts unterscheidet zwischen
nichtigen und unwirksamen Kündigungen einerseits sowie gültigen,
allenfalls aber missbräuchlichen anderseits. Die missbräuchliche
Kündigung ist innerhalb der Frist von Art. 273 OR anzufechten. Wird
ihre Missbräuchlichkeit nicht fristgemäss geltend gemacht, ist der
Einwand verwirkt. Demgegenüber ist eine Kündigung unwirksam, wenn ihre
materiellen Voraussetzungen fehlen. Dies ist etwa der Fall, wenn eine
Kündigung wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung ausgesprochen wird, die
tatsächlich nicht vorliegt. Eine unwirksame oder wirkungslose Kündigung
kann ebenfalls nach Art. 273 OR angefochten werden. Es besteht hiezu
jedoch keine Obliegenheit. Der unbenützte Fristablauf führt nicht zur
Wirksamkeit der Kündigung. Wer eine Kündigung für unwirksam hält, kann
sie folglich entweder nach Art. 273 OR anfechten oder mit dem Einwand
zuwarten, bis der Vermieter das Ausweisungsverfahren einleitet (BGE 121
III 156 E. 1c S. 160).

    Ob eine unwirksame Kündigung nach Art. 273 OR angefochten oder der
Einwand erst in einem allfälligen Ausweisungsverfahren erhoben wird,
hat indessen verfahrensrechtliche Konsequenzen. Im ersten Fall kommt
Art. 274g OR zur Anwendung. Der Ausweisungsrichter hat demzufolge sowohl
die Kündigungsanfechtung als auch das Ausweisungsbegehren endgültig und mit
voller Kognition zu beurteilen. Sein Entscheid ist von Bundesrechts wegen
materieller Rechtskraft fähig und daher berufungsfähig. Im zweiten Fall -
der Einwand der unwirksamen Kündigung wird erst im Ausweisungsverfahren
erhoben - richtet sich das Verfahren nach kantonalem Recht, doch kann
der Mieter im Ausweisungsfahren nicht mehr geltend machen, die Kündigung
sei missbräuchlich und verstosse gegen Treu und Glauben. Ob ein solcher
Ausweisungsentscheid sodann berufungsfähig ist, hängt nach dem Gesagten
(E. 2b hievor) von der Ausgestaltung des kantonalen Verfahrens ab.

    e) Die Luzerner Zivilprozessordnung stellt für die Mieterausweisung
bei gegebenen Voraussetzungen das Befehlsverfahren zur Verfügung (§
226 ZPO/LU). Solchen Entscheiden kommt nur beschränkte Rechtskraft zu
(§ 238 lit. b ZPO/LU).

    Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz haben die
Mieter die Kündigung nicht nach Art. 273 OR angefochten, sondern den
Einwand der Unwirksamkeit erstmals im Ausweisungsverfahren erhoben. Es
fehlt daher am Erfordernis zweier Verfahren, weshalb die bundesrechtliche
Verfahrensvorschrift von Art. 274g OR nicht zur Anwendung kommt. Folglich
richtet sich das Verfahren ausschliesslich nach kantonalem Recht.

    Das Obergericht lässt den Einwand der unwirksamen Kündigung im
Befehlsverfahren bundesrechtskonform zu, macht die Abweisung des
Ausweisungsbegehrens allerdings davon abhängig, dass die Mieter ihre
Vorbringen gegen die Kündigung glaubhaft machen können. Es verletzt damit
kein Bundesrecht, wenn es den Einwand nach Massgabe des kantonalen Rechts
nur mit beschränkter Kognition prüft. Da dem Ausweisungsentscheid nach
luzernischem Recht nur beschränkte Rechtskraft zukommt und der Anspruch
dem ordentlichen Richter unterbreitet werden kann (§ 238 lit. b ZPO/LU),
ist der angefochtene Entscheid somit kein Endentscheid im Sinne von
Art. 48 Abs. 1 OG. Auf die Berufung ist daher nicht einzutreten.