Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 III 5



122 III 5

2. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 27. Dezember 1995 i.S.
Edwin Lengweiler gegen Remzije Sadiki-Karimani sowie Arben und Sadik Sadiki
(Berufung) Regeste

    Unerlaubte Handlung; Genugtuung; Verjährung (Art. 41 ff., Art. 49
Abs. 1 sowie Art. 60 Abs. 2 OR).

    Anwendung der längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist von Art. 60
Abs. 2 OR auf selbständige Genugtuungsansprüche von Angehörigen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Ismaily Sadiki ist der Ehemann von Remzije Sadiki-Karimani
(Erstklägerin) und Vater von Arben und Sadik Sadiki (Zweit- und
Drittkläger). Er wurde in der Nacht vom 25. Mai 1985 anlässlich eines
Handgemenges mit Schussabgabe durch den Beklagten schwer verletzt. Seither
ist er irreparabel querschnittgelähmt.

    Der Beklagte wurde der vorsätzlichen schweren Körperverletzung
schuldig gesprochen und zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zwölf
Monaten verurteilt.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau sprach Ismaily Sadiki am 9. Februar
1993 Schadenersatz und Genugtuung im Umfang von Fr. 145'735.-- nebst Zins
zu. Dieses Urteil wurde vom Bundesgericht bestätigt.

    Die Ehefrau sowie die beiden Kinder von Ismaily Sadiki machten mit
Klage vom 16. November 1992 eigene Genugtuungsansprüche geltend. Sie
verlangten die Verpflichtung des Beklagten, der Erstklägerin Fr. 50'000.--
sowie den Zweit- und Drittklägern je Fr. 10'000.--, je nebst Zins,
als Genugtuung zu bezahlen. Das Bezirksgericht Arbon hiess mit
Urteil vom 8. November/14. Dezember 1993 die Klage teilweise gut und
sprach Genugtuungssummen von Fr. 30'000.-- für die Ehefrau sowie von
je Fr. 10'000.-- für die beiden Kinder zu. Das Obergericht des Kantons
Thurgau wies am 29. November 1994 eine Berufung des Beklagten ab und
bestätigte das angefochtene Urteil.

    Das Bundesgericht weist die Berufung des Beklagten ab, soweit es
darauf eintritt, und bestätigt das angefochtene Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz verwirft die Einrede der Verjährung des eingeklagten
Anspruchs. Sie legt Art. 60 Abs. 2 OR dahingehend aus, dass die längere
strafrechtliche Verjährungsfrist nicht nur auf seiten des Täters,
sondern auch auf seiten des Ansprechers zur Anwendung gelange. Der
Beklagte gibt diese Auffassung als bundesrechtswidrig aus: Einerseits
komme Art. 60 Abs. 2 OR nur bei identischen Ansprüchen zur Anwendung;
dies treffe im vorliegenden Fall jedoch nicht zu, da die Kläger eigene
Ansprüche im Sinne von Art. 49 OR geltend machten. Anderseits führe
die Ausdehnung der Verjährung auf seiten der Schädiger nicht auch dazu,
Drittgeschädigten eine Verlängerung der Verjährungsfrist im Sinne von
Art. 60 Abs. 2 OR zuzugestehen.

    a) Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, hat
Anspruch auf Leistung einer Genugtuung, sofern die Schwere der Verletzung
es rechtfertigt und diese nicht anders wiedergutgemacht worden ist
(Art. 49 Abs. 1 OR).

    In seiner neuesten Rechtsprechung hat das Bundesgericht einen
selbständigen Genugtuungsanspruch von Ehegatten und Nachkommen bejaht,
deren Partner bzw. Vater durch eine unerlaubte Handlung schwer invalid
geworden ist. Voraussetzung dafür ist, dass die Angehörigen gleich oder
schwerer betroffen sind, als im Fall der Tötung (BGE 117 II 50 E. 3 und
4, 112 II 220 und 226; vgl. SCHNYDER, Kommentar zum Schweizerischen
Privatrecht, Bd. I [Art. 1-529 OR], N. 1 zu Art. 47 OR; TERCIER,
L'évolution récente de la réparation du tort moral dans la responsabilité
civile et l'assurance-accidents, SJZ 80/1984, S. 51 ff., S. 55; TERCIER,
La réparation du tort moral, Strassenverkehrstagung 1988, S. 24 ff.; HÜTTE,
Genugtuungsrecht im Wandel, SJZ 84/1988, S. 169 ff.). Insoweit sind die
persönlichen Verhältnisse des klagenden Angehörigen absolute Rechte und
daher des selbständigen Schutzes fähig. Klagt der Angehörige aus Art. 49
OR, macht er eigene Rechte geltend und nicht solche des schwer verletzten
Ehepartners oder Elternteils. Vor diesem Hintergrund ist die Frage der
Verjährungsfrist zu betrachten.

    b) Nach Art. 60 Abs. 1 OR verjährt der Anspruch auf Schadenersatz oder
Genugtuung binnen Jahresfrist, gerechnet von der tatsächlichen Kenntnis des
Geschädigten von Schaden und Person des Ersatzpflichtigen an, jedenfalls
aber nach zehn Jahren seit der schädigenden Handlung. Wird die Klage aus
einer strafbaren Handlung hergeleitet, gilt die längere strafrechtliche
Verjährungsfrist (Art. 60 Abs. 2 OR). Sinn der Ausnahmeregelung von Absatz
2 ist die Harmonisierung der Vorschriften des Zivil- und Strafrechts im
Bereich der Verjährung. Denn es wäre unbefriedigend, wenn der Zivilanspruch
vor dem Strafanspruch verjähren würde (BGE 100 II 332 E. 2a; weitere
Hinweise bei BREHM, Berner Kommentar, N. 67 zu Art. 60 OR).

    Das Bundesgericht hat denn auch seine bisherige Praxis aufgegeben,
wonach Art. 60 Abs. 2 OR grundsätzlich nur auf die Forderung gegen den
Täter selbst, nicht aber auf den Ersatzanspruch gegen Dritte anwendbar
sei, die zivilrechtlich für den Schaden einzustehen haben (BGE 112 II
172 E. II/2c S. 189, 111 II 429 E. 2d S. 437 ff.). Namentlich hat es
die längere Frist auf juristische Personen ausgedehnt, weil diese für
Organe als Teil ihrer selbst haften (vgl. dazu BREHM, aaO, N. 96 ff. zu
Art. 60 OR; OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Band II/1,
4. Aufl. 1987, S. 113 Fn. 539; REY, Ausservertragliches Haftpflichtrecht,
Zürich 1995, S. 354 Rz. 1692; DOMENICO ACOCELLA, Die Verjährung in
der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts, SJZ 86/1990, S. 333 ff.,
S. 336 mit weiteren Nachweisen in Fn. 35). Im vorliegenden Fall stellt
sich die Rechtsfrage indessen anders. Hier geht es um die Anwendung der
strafrechtlichen Verjährungsfrist auf der Seite des Anspruchsberechtigten,
insbesondere der Angehörigen. Das Bundesgericht hatte die Frage bis anhin
nicht zu entscheiden.

    c) Voraussetzungen der längeren Verjährungsfrist von Art. 60 Abs. 2
OR sind das Vorliegen einer strafbaren Handlung einerseits sowie eines
adäquaten Kausalzusammenhangs zwischen der strafbaren Handlung und der
dem Zivilanspruch zugrundeliegenden Beeinträchtigung, insbesondere
der seelischen Unbill anderseits (vgl. TERCIER, Le nouveau droit de
la personnalité, S. 265 Rz. 2014; KURT JOSEPH STEINER, Verjährung
haftpflichtrechtlicher Ansprüche aus Straftat [Art. 60 Abs. 2 OR],
Diss. Freiburg 1986, S. 53; REY, aaO, S. 349 Rz. 1667). Dabei müssen
sich der zivil- wie der strafrechtliche Tatbestand auf dieselbe Handlung
beziehen (WERNER SCHWANDER, Die Verjährung ausservertraglicher und
vertraglicher Schadenersatzforderungen, Diss. Freiburg 1962, S. 27
f.). Weiter wird verlangt, dass das beeinträchtigte Rechtsgut zum Kreis
der durch die strafbare Handlung geschützten Objekte gehört (BGE 71 II
147 E. 7b S. 156; KURT JOSEPH STEINER, aaO, S. 54 mit weiteren Hinweisen
in Fn. 82). Insoweit wird vereinzelt in der Literatur gefordert, der
Zivilkläger müsse zum Kreis der durch den Straftatbestand geschützten
Subjekte gehören (GIRSBERGER, Die Verjährung der aus einer strafbaren
Handlung hergeleiteten Zivilansprüche, SJZ 58/1962, S. 213 ff., S. 216).

    d) Aus der Gesetzessystematik geht hervor, dass sich die Verjährung
der Ansprüche aus Art. 49 OR nach den für diesen Bereich geltenden
Verjährungsbestimmungen, mithin nach Art. 60 OR richtet (so die Botschaft
zur Änderung von Art. 49 OR vom 5. Mai 1982, BBl 1982 II 636 ff., 682;
PEDRAZZINI/OBERHOLZER, Grundriss des Personenrechts, 4. Aufl. 1993,
S. 160; HÜTTE, Die Genugtuung, 2. Aufl., Stand Juli 1994, 0/7 Ziff. 2.10).
Infolgedessen kommt allgemein bei sämtlichen Ansprüchen aus Art. 41 ff. OR,
die auf eine strafbare Handlung zurückzuführen sind und für welche der
Kausalzusammenhang zwischen dem Zivilanspruch sowie der strafbaren Handlung
gegeben ist, auch die längere Verjährungsfrist nach Art. 60 Abs. 2 OR zur
Anwendung. Dies muss konsequenterweise auch für Ansprüche von Angehörigen
gelten, die aus der Verletzung einer ihnen nahestehenden Person eigene
Ansprüche geltend machen.

    Diese Folgerung wird gestützt durch den engen Zusammenhang der Artikel
45 Abs. 3, 47 und 49 OR. Einerseits wird auf den Versorgerschaden,
der in Art. 45 Abs. 3 OR geregelt ist, ebenfalls Art. 60 Abs. 2 OR
angewendet (ZEN-RUFFINEN, La perte de soutien, S. 145 f., der die
Anwendbarkeit von Art. 60 Abs. 2 OR allerdings nicht weiter begründet);
insoweit beurteilen sich die Voraussetzungen des Haftpflichtanspruchs des
Angehörigen nach der Rechtslage des Unfallopfers gegenüber dem Schädiger
(OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Band I, 5. Aufl. 1995,
S. 335 Rz. 262). Anderseits wird Art. 47 OR als Sonderregel zu Art. 49 OR
betrachtet. Letztere Norm umschreibt generell die Voraussetzungen für die
Leistung einer Genugtuung, welche aus einer Verletzung in den persönlichen
Verhältnissen beansprucht wird (BGE 89 II 396; BREHM, aaO, N. 5 zu Art. 47
OR; SCHNYDER, aaO, N. 1 zu Art. 47 OR). Dass die beiden Bestimmungen von
Art. 47 und Art. 49 OR aufgrund ihrer Regelungsmaterie zusammengehören,
geht auch daraus hervor, dass im Rahmen der Revision des Haftpflichtrechts
erwogen wird, die heutigen Art. 47 und Art. 49 OR in einer einzigen Norm
zu vereinigen (Nachweise bei HAUSHEER, in ZBJV 130/1994, S. 286). Aus
dem Gesagten folgt für die zu beurteilende Verjährungsfrage, dass aus
Gründen der Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Praktikabilität sämtliche
Ansprüche aus unerlaubten, strafbaren Handlungen gleich zu behandeln
sind. Dies gilt unabhängig davon, ob der Angehörige eine Genugtuung bei
Tötung gestützt auf Art. 47 OR oder bei Körperverletzung nach Art. 49
OR geltend macht oder er infolge des Verlusts seines Versorgers den
Ersatz von Unterstützungsleistungen verlangt. Überdies rechtfertigt
sich auch aus Gründen des Gläubigerschutzes und der Harmonisierung der
verjährungsrechtlichen Bestimmungen, den Anspruch von Angehörigen aus
Art. 49 OR der gleichen Verjährungsfrist zu unterstellen wie jenen des
Direktgeschädigten. Dafür spricht schliesslich auch die Praxisänderung
des Bundesgerichts, mit welcher es die Anwendung der längeren Frist auf
der Täterseite auch auf juristische Personen ausgedehnt und die enge
Anwendung von Art. 60 Abs. 2 OR in verschiedener Hinsicht aufgegeben hat.

    Damit die längere strafrechtliche Verjährungsfrist zur Anwendung
gelangt, ist allerdings immer erforderlich, dass der zivil- und
strafrechtliche Tatbestand sich auf die gleiche Handlung beziehen sowie die
strafrechtliche Handlung kausal für die Verletzung der Persönlichkeit ist.