Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 III 43



122 III 43

9. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. Januar 1996
i.S. Firma T. S.r.l. gegen Firma S. AG (Berufung) Regeste

    Gerichtsstand bei einem internationalen Kaufvertrag (Art. 1 IPRG,
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ, Art. 57 f. WKR).

    Der Erfüllungsort, der gemäss Art. 5 Ziff. 1 LugÜ den Gerichtsstand
bestimmt, befindet sich bei einem internationalen Kauf mangels anderer
Abrede am Ort der Niederlassung des Verkäufers oder bei einem Geschäft
Zug um Zug am Ort der Übergabe (Art. 1 Abs. 2 IPRG i.V.m. Art. 57 Abs. 1
WKR). Bedeutung des Begriffs Zug um Zug nach Art. 57 Abs. 1 lit. b WKR
(E. 3).

Sachverhalt

    A.- Nachdem die Firma S. AG, eine Gesellschaft nach schweizerischem
Recht mit Sitz in W., bereits am 28. Februar 1991 der Firma T.
S.r.l. mit Sitz in Italien ein schriftliches Angebot für eine
Abgasreinigungsanlage unterbreitet hatte, legte sie am 28. März 1991
ein revidiertes Angebot vor. Wie beim ersten Angebot verwies sie auf die
allgemeinen Lieferbedingungen, die eine Gerichtsstandsklausel enthalten;
strittig ist, ob diese Bedingungen der zweiten Offerte tatsächlich
beilagen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Angebot vom 28. März
1991 bestellte die Firma T. S.r.l. mit Schreiben vom 8. April 1991 die
offerierten Anlagenteile, was die Firma S. AG bestätigte.

    Nach der Lieferung und Montage der Anlage machte die Firma
T. S.r.l. eine Reihe von Mängeln geltend und erklärte mit Schreiben vom
3. März 1993 den Rücktritt vom Vertrag.

    Am 4. Mai 1994 reichte die Firma S. AG beim Handelsgericht des
Kantons Zürich Klage gegen die Firma T. S.r.l. ein und verlangte die
Zahlung von insgesamt Fr. 3'149'300.-- nebst Zinsen und Kosten. Die
Beklagte erhob die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit, worauf das
Handelsgericht das Verfahren einstweilen auf diese Frage beschränkte. Mit
Beschluss vom 29. Dezember 1994 wies das Handelsgericht die Einrede der
Unzuständigkeit ab.

    Die Beklagte gelangt mit Berufung ans Bundesgericht und beantragt,
den Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 29. Dezember
1994 aufzuheben und festzustellen, das Gericht sei örtlich unzuständig.

    Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung, eventuell auf
Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Das Handelsgericht hat auf die
Einreichung einer Stellungnahme verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz hat ihre Zuständigkeit mit zwei verschiedenen
Begründungen bejaht, die unabhängig voneinander bestehen und zum selben
Ergebnis führen. Beide Begründungen sind angefochten (siehe BGE 120 II
312 E. 2 S. 314 mit Hinweis). Ergibt sich der Gerichtsstand W. und damit
die Zuständigkeit des Handelsgerichts des Kantons Zürich bereits aus
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ (Lugano-Übereinkommen; SR 0.275.11), erübrigt sich
die Prüfung der Frage, ob allenfalls eine Gerichtsstandsvereinbarung
gültig zustande gekommen ist.

    a) Die Beklagte hat ihren Sitz in Italien, die Klägerin in der
Schweiz. Das Lugano-Übereinkommen ist für die Schweiz am 1. Januar und
für Italien am 1. Dezember 1992 in Kraft getreten. Die Klage auf Zahlung
der gelieferten Anlage ist erst später erhoben worden. Das Abkommen ist
somit anwendbar (Art. 54 Abs. 1 LugÜ; GERARDO BROGGINI, La Convenzione di
Lugano: introduzione ed interpretazione, la competenza giurisdizionale, in
La convenzione di Lugano - temi scelti e prime esperienze, S. 5 ff., 24).

    b) Gemäss Art. 5 Ziff. 1 LugÜ besteht ein Gerichtsstand am
Erfüllungsort, wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den
Gegenstand eines Verfahrens bilden. Der Begriff des Vertrages bzw. der
vertraglichen Ansprüche ist aus der Systematik und Zielsetzung des
Abkommens selber, d.h. autonom auszulegen, während der Erfüllungsort
sich nach dem auf den Vertrag bzw. die Leistung anzuwendenden Recht
(lex causae) richtet (Botschaft betreffend das Lugano-Übereinkommen
über die gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, in BBl 1990 II 265 ff., S. 290
f.; OSCAR VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts und des internationalen
Zivilprozessrechts der Schweiz, 4. Aufl., 1995, 4. Kp. N. 45i ff.). Bei
synallagmatischen Verträgen hat der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ zur Folge, dass für jede Leistung ein gesonderter
Gerichtsstand besteht (VOGEL, aaO, 4. Kp. N. 45l). Streitgegenstand ist
vorliegend die Zahlung des Kaufpreises, was zweifellos unter den Begriff
des vertraglichen Anspruchs im Sinne des Lugano-Übereinkommens fällt. Zu
prüfen ist, wo diese Leistung zu erbringen ist. Gemäss dem Wiener
Kaufrecht (WKR; SR 0.221.211.1), das hier anwendbar ist (Art. 1 Abs. 2
IPRG; SR 291), ist die Kaufpreisschuld mangels anderer Vereinbarung am
Ort der Niederlassung des Verkäufers zu leisten oder, wenn die Zahlung
gegen Übergabe der Ware oder von Dokumenten zu leisten ist, an dem Ort,
an dem die Übergabe stattfindet (Art. 57 Abs. 1 WKR). Das Handelsgericht
ist davon ausgegangen, dass kein sogenanntes Zug-um-Zug-Geschäft vorliege
und deshalb die Zuständigkeit am Sitz der Verkäuferin und damit Klägerin
gegeben ist. Die Beklagte sieht darin eine falsche Auslegung des Wiener
Kaufrechts.

    c) Art. 57 Abs. 1 lit. b WKR verweist mit der Wendung "wenn die
Zahlung gegen Übergabe der Ware oder von Dokumenten zu leisten ist"
auf die in Art. 58 Abs. 1 zweiter Satz enthaltene Regel (HAGER, in:
Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 2. Aufl., München 1995,
N. 12 zu Art. 57 WKR), wonach der Verkäufer beim Zug-um-Zug-Geschäft
die Ware zurückbehalten kann, wenn der Käufer den Kaufpreis nicht sofort
bezahlt. Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt es nicht, dass bloss
die Fälligkeit des Kaufpreises vom Zeitpunkt der Lieferung abhängt. Der
Kauf mit Leistung Zug um Zug steht als Barkauf im Gegensatz zum Kauf mit
Vorausbezahlung des Kaufpreises (Pränumerandokauf) und zum Kreditkauf,
bei dem der Kaufpreis erst eine gewisse Zeit nach Lieferung der Kaufsache
zu bezahlen ist (GUHL/MERZ/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht,
8. Aufl., 1991, S. 346; PIERRE TERCIER, Les contrats spéciaux, 2. Aufl.,
1995, Rz. 222 ff.). Das Besondere bei der Leistung Zug um Zug besteht
darin, dass keine Partei vorleistungspflichtig ist (vgl. VON TUHR/ESCHER,
Allgemeiner Teil des Obligationenrechts, Bd. II, 3. Aufl., 1974, S. 58;
HAGER, aaO, N. 2 zu Art. 57 WKR). Die Abgrenzung hat - wie bei Art. 82 OR
(vgl. LEU, in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht
I, Art. 1-529 OR, N. 9 zu Art. 82) - danach zu erfolgen, ob einer Partei
Kredit gewährt werden soll oder nicht. Im Vordergrund steht die Frage,
ob - wie von der Beklagten behauptet - die Leistung der Klägerin nur Zug
um Zug mit der Bezahlung des Kaufpreises zu erbringen war oder nicht.

    d) Im vorliegenden Fall handelt es sich insofern um einen atypischen
Kauf, als die Verkäuferin und jetzige Klägerin sich nicht nur zur
Übertragung des Eigentums und Übergabe des Besitzes an einer Sache
verpflichtet, sondern gleichzeitig auch die Montage der gelieferten Anlage
bei der Käuferin übernommen hat. Damit erschöpft sich die klägerische
Verpflichtung nicht in einer einmaligen Handlung. Die Umschreibung des
Geschäfts Zug um Zug in Art. 58 WKR ist demgegenüber auf den typischen
Kaufvertrag zugeschnitten, bei dem die Leistungspflicht grundsätzlich in
einer einmaligen Handlung besteht. Gesetzliche Umschreibungen sind nach
dem Zweck der entsprechenden Norm auszulegen. Art. 57 Abs. 1 WKR sieht bei
Zug-um-Zug-Geschäften als Erfüllungsort für den Kaufpreis den Ort vor, an
dem der Kaufgegenstand übergeben wird; die gleichzeitige Erfüllung beider
Leistungen ist möglich, wenn nicht nur der Zeitpunkt der Erfüllung,
sondern auch der Ort der Erfüllung für Leistung und Gegenleistung
identisch ist. Anderenfalls kann eine Partei nicht sofort feststellen,
ob die Gegenpartei ihre Leistung tatsächlich gleichzeitig erbringt,
und deshalb nicht von ihrem Recht Gebrauch machen, ihre eigene Leistung
bis zur Leistung der Gegenseite zurückzuhalten (Art. 58 Abs. 1 WKR).
Art. 57 Abs. 1 lit. b WKR ist mit Blick auf diesen Zweck auszulegen. Bei
mehreren Erfüllungshandlungen kann insoweit nicht mehr von einem Geschäft
Zug um Zug gesprochen werden, wenn die Gegenleistung für die einzelne
Teilleistung nicht sofort erbracht werden muss, sondern eine Kreditierung
erfolgt. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass der nächste Teilakt
der Erfüllung verweigert werden kann, solange die Gegenleistung für die
vorhergehende Leistung nicht erbracht worden ist. Der Zeitunterschied
zwischen den einzelnen Leistungsteilen erlaubt es ohne weiteres, die
Gegenleistung an einem anderen Ort erfüllen zu müssen.

    e) Gemäss den vereinbarten Zahlungsbedingungen hatte die Beklagte je
30% des Kaufpreises bei Bestellung, bei Montagebeginn sowie bei Montageende
und die restlichen 10% nach erfolgter Inbetriebsetzung zu zahlen. Die
Parteien hatten somit gegenseitige Kreditierung vorgesehen. Zuerst
war die Käuferin vorleistungspflichtig, indem sie bei der Bestellung
bereits eine Anzahlung zu leisten hatte; danach hatte die Verkäuferin
die bestellte Anlage zu liefern und mit der Montage zu beginnen, demnach
ihre eigene Leistung zu erbringen. Der Montagebeginn löste wiederum
die Leistungspflicht der Beklagten aus, wobei nicht vorgesehen war,
die zweite Zahlung habe gleichzeitig mit dem Beginn der Montage zu
erfolgen. Ebensowenig erlaubte der Vertrag der Klägerin, den Beginn der
Montage im Sinne von Art. 58 Abs. 1 WKR von der Zahlung der zweiten 30%
des Kaufpreises abhängig zu machen. Weitere 30% des Kaufpreises waren
sodann nach Beendigung der Montage fällig, so dass insoweit eindeutig die
Verkäuferin vorleistungspflichtig war. Das galt auch für die verbleibenden
10% des Kaufpreises, die erst mit der Inbetriebnahme der Anlage fällig
wurden.

    Die Staffelung der Kaufpreisschuld führt zur Minderung des Risikos
der Kreditierung und zur Möglichkeit für die Verkäuferin und jetzige
Klägerin, einzelne Leistungen bis zur Zahlung der vorgängig fälligen Teile
des Kaufpreises zurückzubehalten. Insofern nähert sich die vereinbarte
Leistungsweise einem sogenannten Zug-um-Zug-Geschäft. Der zu beurteilende
Warenkauf unterscheidet sich von einem solchen im Sinne von Art. 57
Abs. 1 lit. b WKR aber dennoch wesentlich, weil in keiner Phase der
Leistungsabwicklung die (Teil-)Leistung einer Partei gleichzeitig mit
jener der Gegenpartei zu erfolgen hatte.

Erwägung 4

    4.- Nach dem Gesagten hat das Handelsgericht zu Recht angenommen, es
liege kein Zug-um-Zug-Geschäft im Sinne von Art. 57 Abs. 1 lit. b WKR
vor, so dass der Kaufpreis am Ort der Niederlassung der Verkäuferin,
hier der Klägerin zu entrichten ist (Art. 57 Abs. 1 lit. a WKR). Die
Zuständigkeit des Handelsgerichts des Kantons Zürich ist somit gegeben,
und die Berufung ist abzuweisen.