Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 III 316



122 III 316

57. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. September 1996 i.S.
F. gegen R. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR. Beginn des Laufs der dreissigtägigen
Klagefrist.

    Die Klagefrist beginnt zu laufen, sobald die Schlichtungsbehörde das
Nichtzustandekommen einer Einigung ausdrücklich festgestellt und diese
Feststellung den Parteien mündlich oder schriftlich eröffnet hat (E. 2).

    Folgt einer mündlichen Eröffnung eine schriftliche Mitteilung nach,
in der der Beginn des Fristenlaufs unrichtig angegeben wird, ist das
Vertrauen darauf zu schützen (E. 3).

    Zeitpunkt, in dem behördliche Mitteilungen als zugestellt zu gelten
haben (E. 4).

Sachverhalt

    A.- In einer Mietstreitigkeit zwischen F. als Vermieter und R. als
Mieter beraumte die Schlichtungsbehörde Uri auf Begehren des Vermieters
auf den 15. Dezember 1995 eine Schlichtungsverhandlung an. Zu dieser
Verhandlung erschien der Mieter nicht. In einer schriftlichen Mitteilung
an die Parteien vom 21. Dezember 1995 stellte die Schlichtungsbehörde
daraufhin das Nichtzustandekommen der Einigung fest.

    Am 24. Januar 1996 klagte F. beim Landsgerichtspräsidium Ursern
gegen R. auf Bezahlung von Fr. 2'371.80. In seinem Urteil vom 25. März
1996 hielt das Landgerichtspräsidium F. vor, die Klagefrist von 30 Tagen
gemäss Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR verpasst zu haben, und trat deshalb
auf die Klage nicht ein.

    B.- Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde von
F. gut und hebt das Urteil des Landgerichtspräsidiums auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Hat in einer Mietstreitigkeit die Schlichtungsbehörde das
Nichtzustandekommen der Einigung festgestellt, so muss nach Art. 274f
Abs. 1 Satz 2 OR die Partei, die auf ihrem Begehren beharrt, innert 30
Tagen den Richter anrufen. Eine entsprechende Vorschrift enthielt schon
Art. 28 Abs. 2 des inzwischen aufgehobenen Bundesbeschlusses vom 30. Juni
1972 über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen. Für die Auslegung
der Bestimmung können daher auch Rechtsprechung und Lehre zum früheren
Recht herangezogen werden.

    Nach dem SVIT-Kommentar zum Schweizerischen Mietrecht (N. 8 und 10
zu Art. 274f) bleibt es den kantonalen Verfahrensgesetzen überlassen,
festzulegen, wann die dreissigtägige Klagefrist zu laufen beginnt. Andere
Autoren gehen jedoch davon aus, dass es sich dabei um eine Frage des
Bundesrechts handelt (RAISSIG/SCHWANDER, Massnahmen gegen Missbräuche
im Mietwesen, 3. Aufl. 1984, S. 144; ROLF HUNZIKER, Das Verfahren in
Mietsachen, Diss. Zürich 1977, S. 138; RENÉ MÜLLER, Der Bundesbeschluss
über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen, Diss. Zürich 1977, S. 233;
ebenso das Obergericht TG, in: MP 1991, S. 203 ff., und das Kantonsgericht
VS, in: RVJ 1984, S. 143 ff.). Diese Auffassung verdient den Vorzug. Unter
welchen Voraussetzungen Mietstreitigkeiten zunächst der Schlichtungsbehörde
und bei Ausbleiben einer Einigung anschliessend dem Gericht unterbreitet
werden können, bestimmt das Bundesrecht. Im Interesse der einheitlichen
Handhabung dieses bundesrechtlichen Rechtsschutzanspruchs ist die Regelung
der Klagefrist in Art. 274f Abs. 1 OR als abschliessend aufzufassen
(vgl. auch BGE 121 III 266 ff.).

    Das Landgerichtspräsidium und der Beschwerdeführer nehmen
übereinstimmend an, dass für den Beginn der Klagefrist die schriftliche
Mitteilung der Feststellung der Nichteinigung massgebend ist. Dieser
Standpunkt wurde zwar vereinzelt auch in der Literatur vertreten
(GUINAND/KNOEPFLER, SJK 359 (1979), S. 15). Die herrschende Meinung geht
heute jedoch dahin, dass die Frist bereits am Tag nach der gescheiterten
Schlichtungsverhandlung zu laufen beginnt (JEAN-MARC RAPP, Autorités et
procédure en matière de bail à loyer, in: 8ème séminaire sur le droit
du bail, Neuchâtel 1994, S. 15; JEANPRÊTRE PITTET/GUINAND/WESSNER,
SJK 362B (1993), S. 15; SVIT-Komm. zum Schweizerischen Mietrecht, N. 10
zu Art. 274f; ebenso bereits HUNZIKER, aaO; MÜLLER, aaO; unentschieden
RAISSIG/SCHWANDER, aaO), was im übrigen auch der Rechtsprechung
verschiedener kantonaler Gerichte entspricht (Obergericht TG, aaO;
Kantonsgericht VS, aaO; ebenso offenbar die Zürcher Praxis, auf die
GMÜR/CAVIEZEL, Mietrecht - Mieterschutz, 2. Aufl. 1979, S. 81 hinweisen).
Dieser Betrachtungsweise ist grundsätzlich zuzustimmen. Präzisierend
ist allerdings festzuhalten, dass die Tatsache des Scheiterns einer
Schlichtungsverhandlung für sich allein nicht genügt, um die Frist
auszulösen. Wie sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut ergibt,
bedarf es dazu vielmehr zusätzlich der in der Verhandlung von der
Schlichtungsbehörde zumindest mündlich getroffenen Feststellung, dass keine
Einigung zustandegekommen ist (im gleichen Sinne RAPP, aaO; JEANPRÊTRE
PITTET/GUINAND/WESSNER, aaO; anders wohl SVIT-Komm., aaO). Entgegen
MÜLLER (aaO, Fn. 115) kann blosses "konkludentes Verhalten, z.B. die
Entlassung der Parteien" nicht genügen. Die Frist beginnt erst zu laufen,
wenn die Schlichtungsbehörde den Parteien bewusst gemacht hat, dass das
Schlichtungsverfahren abgeschlossen ist, indem sie das Nichtzustandekommen
der Einigung ausdrücklich festgestellt hat. Fristauslösend ist stets die -
mündliche oder schriftliche - Eröffnung dieser Feststellung. Eröffnet die
Schlichtungsbehörde den Parteien mündlich in der Schlichtungsverhandlung,
dass das Schlichtungsverfahren ohne Einigung beendigt ist, so löst
dies den Lauf der Klagefrist grundsätzlich unbesehen darum aus, ob
die verfahrensbeendigende Feststellung den Parteien später auch noch
schriftlich mitgeteilt wird. Stellt die Schlichtungsbehörde dagegen -
aus welchen Gründen auch immer - das Nichtzustandekommen der Einigung
nicht bereits in der Schlichtungsverhandlung, sondern erst in einer
späteren schriftlichen Mitteilung an die Parteien ausdrücklich fest,
so beginnt die dreissigtägige Frist erst mit deren Zustellung zu laufen.

Erwägung 3

    3.- Aus den Akten geht nicht hervor, ob die Schlichtungsbehörde
bereits an der Verhandlung vom 15. Dezember 1995 das Nichtzustandekommen
der Einigung festgestellt hat oder ob sie diese Feststellung erst
in der schriftlichen Mitteilung vom 21. Dezember 1995 ausdrücklich
getroffen hat. Aufgrund der besonderen Umstände kann die Frage jedoch
im vorliegenden Fall offen bleiben. Entscheidend ist nämlich, dass die
Schlichtungsbehörde in der schriftlichen Mitteilung vom 21. Dezember 1995
festgehalten hat, der Beschwerdeführer könne seine Forderung, wenn er sie
durchsetzen wolle, innert 30 Tagen beim Präsidium des Landgerichts Ursern
geltend machen. Diesen Hinweis durfte der Beschwerdeführer nach Treu und
Glauben dahin verstehen, dass die Frist mit der Mitteilung, in der er auf
sie aufmerksam gemacht wurde, zu laufen begann. Er durfte daher in guten
Treuen davon ausgehen, er habe vom Zeitpunkt der Zustellung der Mitteilung
an gerechnet 30 Tage Zeit, um die Klage anzuheben. Und darauf durfte
er sich selbst dann verlassen, wenn die Angabe der Schlichtungsbehörde
falsch gewesen sein sollte, weil die Feststellung des Nichtzustandekommen
der Einigung bereits an der Schlichtungsverhandlung erfolgt war und die
Frist gemäss Art. 274f Abs. 1 Satz 2 OR deshalb eigentlich bereits
am auf die Verhandlung folgenden Tag zu laufen begonnen hatte. Denn
diesfalls könnte sich der Beschwerdeführer jedenfalls darauf berufen,
dass ihm aus der unrichtigen behördlichen Auskunft über die Klagefrist
kein Nachteil entstehen darf (BGE 117 Ia 421 E. 2a S. 422, mit Hinweisen;
vgl. ferner auch RVJ 1984, S. 145 ff.).

Erwägung 4

    4.- Damit bleibt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Frist von
30 Tagen seit der Zustellung der Mitteilung der Schlichtungsbehörde
gewahrt hat, indem er die Klage am 24. Januar 1996 eingereicht
hat. Das Landgerichtspräsidium verneint dies, weil es davon ausgeht,
die Zustellung der Mitteilung sei bereits am 21. Dezember 1995, dem Datum
ihrer Postaufgabe, erfolgt. Der Beschwerdeführer rügt diese Auffassung als
willkürlich; massgebend sei, dass ihm die Mitteilung erst am 27. Dezember
1995 ausgehändigt worden sei.

    a) Ein Verstoss gegen das aus Art. 4 BV abgeleitete Willkürverbot
liegt nach der Rechtsprechung nicht bereits dann vor, wenn eine andere
als die vom kantonalen Gericht gewählte Lösung ebenfalls vertretbar
oder gar vorzuziehen ist. Das Bundesgericht schreitet erst ein, wenn
der angefochtene Entscheid nicht nur unrichtig, sondern schlechthin
unhaltbar ist, insbesondere wenn er eine Norm oder einen unumstrittenen
Rechtsgrundsatz krass verletzt (BGE 120 Ia 369 E. 3a S. 373; 119 Ia 113
E. 3a S. 117, je mit Hinweisen).

    b) Die kantonalen Verfahrensgesetze regeln gewöhnlich nicht
ausdrücklich, in welchem Zeitpunkt eine Gerichtsurkunde als zugestellt
gilt. Auch die Zivilprozessordnung des Kantons Uri enthält darüber
keine ausdrückliche Regelung. Art. 65 Abs. 5 ZPO/UR bestimmt jedoch
immerhin, dass die Zustellung auch dann als erfolgt gilt, wenn der
Empfang schuldhaft verhindert wird. Daraus ergibt sich, dass die
Zustellung im Normalfall erst vollendet ist, wenn der Adressat die
Sendung empfangen hat. Dies entspricht denn heute auch allgemeiner
schweizerischer Rechtsauffassung (siehe dazu etwa GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 253; LEUCH/MARBACH/KELLERHALS,
Kommentar zur Zivilprozessordnung des Kantons Bern, N. 1 zu Art. 98;
HAUSER/HAUSER, Komm. zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich,
3. Aufl. 1978, S. 635, N. 2 IV/1/a zu § 190; JEANPRÊTRE, L'expédition
et la réception des actes de procédure et des actes juridiques, SJZ
69/1973, S. 349 ff.; RIO KAMBER, Das Zustellungswesen im schweizerischen
Zivilprozess, Zürcher Diss., Winterthur 1957, S. 16; vgl. ferner auch
BGE 111 V 99 E. 2b S. 101; 83 III 92 E. 1 S. 95 f.; Kantonsgericht SG,
in: SJZ 62/1966, S. 275 f.). Massgebend für den Beginn von Fristen, die
durch die Zustellung einer Gerichtsurkunde ausgelöst werden, ist daher
der Zeitpunkt des Eintreffens im Machtbereich des Adressaten. Diesen
in Art. 65 Abs. 5 ZPO/UR stillschweigend vorausgesetzten und zudem
heute in der Schweiz allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz verletzt das
Landgerichtspräsidium krass, wenn es den Zeitpunkt der Postaufgabe der
Mitteilung zum Ausgangspunkt seiner Fristberechnung macht, statt auf den
Zeitpunkt ihres Empfangs durch den Beschwerdeführer abzustellen.

    Wie der Beschwerdeführer mit einer Nachforschung bei der Post
nachgewiesen hat, ist ihm die Sendung der Schlichtungsbehörde erst am
27. Dezember 1995 ausgehändigt worden. Die dreissigtägige Klagefrist begann
somit erst tags darauf, d.h. am 28. Dezember 1995 zu laufen, weshalb der
Beschwerdeführer sie mit der Einreichung der Klage am 24. Januar 1996
gewahrt hat. Der gegenteilige Standpunkt des Landesgerichtspräsidiums
ist offensichtlich unhaltbar. Das führt zur Gutheissung der Beschwerde
und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.