Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 III 249



122 III 249

44. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 21. Februar 1996
i.S. B. gegen K. (Berufung) Regeste

    Gerichtsstand des Erfüllungsortes nach Art. 5 Ziff. 1 LugÜ;
selbständiger Zuständigkeitsentscheid; Abstellen auf die Behauptungen
der klagenden Partei.

    Ist die von der klagenden Partei behauptete, aber von der Gegenpartei
bestrittene Vereinbarung eines Erfüllungsortes nur relevant für den
Entscheid über die Gerichtszuständigkeit und nicht für die Beurteilung
der Begründetheit der Klage, so darf nicht einfach auf die Darstellung
der klagenden Partei abgestellt werden, sondern es ist darüber - soweit
nötig - ein Beweisverfahren durchzuführen.

Sachverhalt

    A.- Im April 1993 machte Frau K. beim Bezirksgericht Zürich eine
Klage gegen Herrn B. anhängig, mit der sie ein Feststellungs- und ein
Leistungsbegehren (Rückzahlungsforderung) stellte, die sich auf zwei dem
Beklagten angeblich im Jahre 1982 gewährte Darlehen im Betrag von US$
63'000.-- und US$ 111'750.-- bezogen. Die örtliche Zuständigkeit des
Bezirksgerichts war nach Auffassung der Klägerin gegeben, weil Zürich
als Erfüllungsort zu betrachten sei und der Beklagte Wohnsitz in Rom oder
London habe. Der Beklagte bestritt sowohl die örtliche Zuständigkeit des
Gerichts wie auch das Bestehen von Darlehensverträgen. Er behauptete
insbesondere, der Wohnsitz der Klägerin befinde sich nicht in Zürich,
sondern in Italien.

    Mit Beschluss vom 17. Februar 1994 wies das Bezirksgericht die Einrede
der örtlichen Unzuständigkeit ab. Am 2. August 1994 wies das Obergericht
des Kantons Zürich einen Rekurs des Beklagten ab und bestätigte den
erstinstanzlichen Entscheid. Diesen Entscheid focht der Beklagte mit
Berufung an, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Im kantonalen Verfahren war streitig, ob die Klägerin in Zürich
oder in Italien Wohnsitz habe. Bestritten war vom Beklagten zudem, dass
er mit der Klägerin Darlehensverträge geschlossen und hinsichtlich der
Rückzahlung Zürich als Erfüllungsort vereinbart habe.

    a) Ausgehend von der Anwendbarkeit des LugÜ (Übereinkommen über die
gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen
in Zivil- und Handelssachen; SR 0.275.11) prüfte die Vorinstanz, ob es für
die Bestimmung des Erfüllungsortes gemäss Art. 5 Ziff. 1 LugÜ genüge, auf
die Sachvorbringen der Klägerin abzustellen, oder ob diese angesichts der
Bestreitungen des Beklagten durch ein Beweisverfahren zu erhärten seien. Im
Einklang mit den Erwägungen des Bezirksgerichts hielt die Vorinstanz
fest, der Gerichtsstand bestimme sich grundsätzlich nach der Natur des
eingeklagten Anspruchs. Die Zuständigkeit eines Gerichts könne nicht davon
abhängen, ob der eingeklagte Anspruch auch begründet sei. Andernfalls
würde der Nachweis der Zuständigkeit mit dem Beweis in der Sache selbst
zusammenfallen, was nicht der Sinn der Zuständigkeitsvorschriften sein
könne. Für die Zuständigkeit eines Gerichts müsse demgemäss genügen,
dass ein Anspruch behauptet werde, der in dessen Zuständigkeit falle,
möge er sich als begründet erweisen oder nicht.

    Die Vorinstanz übernahm sodann die Erwägungen des Bezirksgerichts,
wonach die Rückzahlung der Darlehenssummen als Bringschuld gemäss
Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1 OR am Wohnsitz der Klägerin in Zürich zu erfolgen
habe. Dazu komme, dass die Parteien nach den Vorbringen der Klägerin
vereinbart hätten, der Beklagte habe das Darlehen am Geschäftsdomizil
des Rechtsvertreters der Klägerin in Zürich zurückzuzahlen. Nach den
Darlegungen der Klägerin sei einstweilen davon auszugehen, dass der
Erfüllungsort im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ in Zürich liege. Die Frage,
ob überhaupt Darlehensverträge bestünden, bilde Gegenstand der später
vorzunehmenden materiellen Anspruchsprüfung.

    Mit der Berufung wird gerügt, die Betrachtungsweise der Vorinstanz
verstosse allgemein gegen Sinn und Zweck des LugÜ sowie speziell gegen
dessen Art. 5 Ziff. 1. Nach Auffassung des Beklagten hätte die Vorinstanz
nicht einfach auf die bestrittenen Behauptungen der Klägerin abstellen
dürfen, sondern darüber ein Beweisverfahren durchführen müssen. Diese
Rüge ist im Berufungsverfahren zulässig, denn sie betrifft die Anwendung
der bundesrechtlichen Normen des internationalen Zivilprozessrechts.

    b) Gemäss Art. 5 Ziff. 1 LugÜ kann eine Person, die ihren Wohnsitz
in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates hat, in einem anderen
Vertragsstaat verklagt werden, und zwar vor dem Gericht des Ortes, an
dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, wenn ein
Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag Gegenstand des Verfahrens bilden.

    aa) Der Erfüllungsort kann durch Parteivereinbarung festgelegt
werden und vermag die Zuständigkeit nach Art. 5 Ziff. 1 LugÜ zu
begründen, wenn die massgebliche lex causae solche Vereinbarungen
zulässt. Die Einhaltung der für die Gerichtsstandsvereinbarung in
Art. 17 LugÜ vorgesehenen Form bildet dabei kein Gültigkeitserfordernis
(KROPHOLLER, Europäisches Zivilprozessrecht, 5. Auflage, N. 22 zu Art. 5;
kritisch BROGGINI, Zuständigkeit am Ort der Vertragserfüllung, in: Das
Lugano-Übereinkommen, S. 127 f.). Um der Umgehung der Schutzfunktion von
Art. 17 LugÜ nicht Tür und Tor zu öffnen, hat die Vereinbarung freilich
auf die materiellrechtliche Begründung eines tatsächlichen Leistungsortes
abzuzielen, was die klagende Partei gegebenenfalls gleich wie andere
Zuständigkeitsvoraussetzungen zu beweisen hat (KROPHOLLER, aaO, N. 23 zu
Art. 5).

    bb) Was die für die Beweislast massgebliche Ausgangslage anbelangt,
ist primär auf den vom Kläger eingeklagten Anspruch und dessen Begründung
abzustellen; die diesbezüglichen Einwände der Gegenpartei sind in diesem
Stadium grundsätzlich nicht zu prüfen (BGE 119 II 66 E. 2a S. 68, 91
I 121 E. 5 S. 122, 66 II 179 E. 2 S. 183 f.; GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. Auflage, S. 106; STRÄULI/MESSMER, Kommentar zur
Zürcherischen Zivilprozessordnung, 2. Auflage, N. 4 zu § 17).

    Der Grundsatz, wonach das Vorliegen der Zulässigkeitstatsachen
unterstellt wird, gilt indessen nur, wenn der Gerichtsstand von der Natur
des eingeklagten Anspruchs abhängt, wenn sich Zulässigkeitstatsachen
und Begründetheitstatsachen decken. Ist eine Tatsache doppelrelevant,
das heisst sowohl für die Zulässigkeit der Klage als auch für deren
Begründetheit, wird sie nur in einer einzigen Prüfungsstation untersucht,
und zwar erst in der Begründetheitsstation (so die Formulierung von
SCHUMANN, Internationale Zuständigkeit: Besonderheiten, Wahlfeststellungen,
doppelrelevante Tatsachen, in: Beiträge zum internationalen Verfahrensrecht
und zur Schiedsgerichtsbarkeit, FS Heinrich Nagel, S. 415; kritisch
HARTMANN, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung,
54. Auflage, N. 15 zu Grundz § 253; vgl. auch BGE 121 III 495 E. 6d S. 503:
betreffend Zuständigkeitsentscheid eines Schiedsgerichts). Zwar ist der
von HARTMANN (aaO) erhobene Einwand methodischer Unsauberkeit nicht von
der Hand zu weisen. Denn es besteht die Möglichkeit, dass eine vorerst als
zulässig betrachtete Klage nach Prüfung der Begründetheit für unzulässig
erklärt werden muss. Indes ist der Schutz der beklagten Partei schwerer zu
gewichten und ein Interessenausgleich dafür zu schaffen, dass dem Kläger
unter Umständen mehrere Wahlgerichtsstände zur Verfügung stehen. Weil
die beklagte Partei der Behauptung einer doppelrelevanten Tatsache
ohnehin begegnen muss, sei es unter dem materiellen, sei es unter dem
prozessualen Aspekt, soll sie zumindest einer zweiten identischen Klage
die Einrede der abgeurteilten Sache entgegenhalten können. Darin liegt
die innere Rechtfertigung des Vorrangs der materiellen Prüfung (SCHUMANN,
aaO, S. 421 ff.).

    cc) Ergibt sich die Zuständigkeit nicht bereits aus den von der
Klägerpartei vorgebrachten anspruchsbegründenden Tatsachen, sondern
bedarf es hiezu einer zusätzlichen Sachbehauptung und stellt die
Gegenpartei (auch) diese in Abrede, so ist darüber Beweis zu führen. Die
Beweislast für diese besonderen kompetenzbegründenden Tatsachen trägt die
Klägerpartei (ROSENBERG/SCHWAB/GOTTWALD, Zivilprozessrecht, 15. Auflage,
S. 191; LEUCH/MARBACH/KELLERHALS, Die Zivilprozessordnung für den
Kanton Bern, 4. Auflage, N. 3 der Bem. vor Art. 20, N. 2 zu Art. 193;
differenzierend für Anhörung beider Parteien gleichermassen SCHWANDER,
Zwei Entscheidungen zur Tragweite und zur intertemporalrechtlichen
Behandlung von Zuständigkeitsvereinbarungen. IPRG 5, 196, in: AJP 1993,
S. 268). Nichts anderes lässt sich aus der von der Vorinstanz zitierten
Literaturstelle ableiten (GULDENER, aaO, S. 106). Dieser Autor hält
einleitend fest, der Gerichtsstand bestimme sich vielfach nach der Natur
des eingeklagten Anspruchs, und er behandelt in der Folge ausschliesslich
die Frage, wie diesfalls zu verfahren sei, nicht jedoch, was beweismässig
zu gelten habe, wenn die örtliche Zuständigkeit auf einer anderen
Anknüpfung beruht. Eine unterschiedliche Handhabung der Beweiserhebung
vor Fällung des Zuständigkeitsentscheids, je nach dem, ob die von der
Klägerpartei vorgetragenen Tatsachen das Gericht zu einem Eintretens-
oder Nichteintretensentscheid führen, wie sie SCHWANDER vorschlägt
(aaO, S. 269), fällt sodann aus prozessualen Gründen ausser Betracht. Zu
berücksichtigen ist, dass ein selbständiger Zwischenentscheid über die
Zuständigkeit, der notwendig eine Entscheidung über die massgeblichen
Tatsachen mitenthält, in Rechtskraft erwächst und mit dem Endentscheid
nicht mehr angefochten werden kann (Art. 48 Abs. 3 OG). Überdies
verbietet der Grundsatz der perpetuatio fori (vgl. zum Beispiel §
16 ZPO/ZH; KROPHOLLER, aaO, N. 14 vor Art. 2) eine neue Überprüfung
der Zuständigkeit durch das kantonale Gericht, selbst wenn sich die
Verhältnisse geändert haben sollten. Aus all diesen Gründen muss beim
Vorliegen des eingangs umschriebenen Sachverhalts vor der Fällung des
selbständigen Zuständigkeitsentscheids ein Beweisverfahren durchgeführt
werden, das heisst, es darf nicht einfach auf die entsprechenden
Behauptungen der Klägerpartei abgestellt werden.

    c) Die Klage auf Feststellung und Rückzahlung der Darlehen
kann im vorliegenden Fall materiell entschieden werden, ohne dass
es auf die Richtigkeit der Behauptung ankommt, es sei vereinbart
worden, die Rückzahlung habe in Zürich zu erfolgen. Für die Frage,
ob ein Zahlungsanspruch besteht, ist ein allfälliger Erfüllungsort
irrelevant (vgl. dazu die Beispiele bei SCHUMANN, aaO, S. 416 ff.,
insbes. S. 418). Bei der Behauptung einer Erfüllungsortsvereinbarung
handelt es sich klarerweise um eine allein mit Bezug auf die Zuständigkeit
relevante Tatsache, über die nach dem Gesagten im Bestreitungsfall Beweis
zu führen ist. Indem sie die Vorinstanz als richtig unterstellte, bejahte
sie zu Unrecht das Vorliegen eines Gerichtsstandes am Erfüllungsort nach
Art. 5 Ziff. 1 LugÜ.

    Die Vorinstanz hat mithin eine Vorschrift des internationalen
Zivilprozessrechts verletzt, was zur Gutheissung der Berufung führt und zur
Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Prüfung und beweismässigen
Abklärung der Frage, ob eine Vereinbarung über den Erfüllungsort,
wie sie die Klägerin behauptet, abgeschlossen worden ist. In diesem
Prozessstadium braucht vorläufig nicht geklärt zu werden, wo die
Klägerin ihren Wohnsitz hat, denn sowohl das schweizerische wie auch das
italienische, nach den Parteivorbringen als lex causae in Frage kommende
Recht lassen Vereinbarungen über den Erfüllungsort zu (Art. 74 Abs. 1
OR; Art. 1182 CCI). Sollte indessen der Beweis über den Abschluss einer
Erfüllungsortsvereinbarung scheitern, wird abzuklären sein, ob der Klägerin
aufgrund von Art. 5 Ziff. 1 LugÜ in Verbindung mit Art. 74 Abs. 2 Ziff. 1
OR Zürich als Gerichtsstand des Erfüllungsortes zur Verfügung steht. Das
bedingt die beweismässige Ermittlung ihres Wohnsitzes vorab, um gemäss
Art. 117 Abs. 3 lit. b IPRG (SR 291) über die den Erfüllungsort bestimmende
lex causae der behaupteten Darlehen und deren Zuständigkeitsregeln Klarheit
zu gewinnen und alsdann die Subsumtion vornehmen zu können.