Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 122 III 106



122 III 106

22. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. April 1996
i.S. Firma Y. A.S. gegen Firma O. und Konsorten (Berufung) Regeste

    Incoterms 1980. CIF-Klausel.

    Pflichten des Verkäufers bei Kaufverträgen mit CIF-Klausel (E. 4).

    Sonderfall der Vereinbarung einer CIF-Klausel in einem Kaufvertrag
über Waren, die mit der Eisenbahn transportiert werden (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Die Firma Y. A.S. in Istanbul schloss am 1. Oktober 1990 mit der
Firma O. in Vaduz und der Firma F. AG in St. Gallen einen - in türkischer
Sprache abgefassten - Vertrag über den Kauf von 5'000 Personenwagen FSM
650 polnischer Herkunft. Die Fahrzeuge waren "CIF Kapikule" zu liefern
(Kapikule ist ein bulgarisch-türkischer Grenzort). Für alle im Vertragstext
nicht geregelten Fragen wurde auf das liechtensteinische Recht und auf die
"Incoterms 1980" verwiesen.

    Die Firma Y. A.S. rief im Rahmen dieses Vertrags umgehend 640
Automobile ab, zum Stückpreis von US$ 2'430.-- einschliesslich Fracht
und Versicherung. Nachdem die Firma Y. A.S. bei der Schweizerischen
Bankgesellschaft ein Akkreditiv über US$ 777'600.-- gestellt
hatte, veranlasste die Verkäuferschaft eine erste Lieferung von 320
Automobilen. Mit der Spedition beauftragte sie die Firma T. AG. Diese
zog ihrerseits die Firma G. AG bei.

    Die in Bielsko-Biala (Polen) hergestellten Fahrzeuge wurden in Tychy
(Polen) auf Eisenbahnwaggons verladen. Daraufhin löste die Firma O. unter
Vorlage der benötigten Dokumente das Akkreditiv bei der Schweizerischen
Bankgesellschaft ein und nahm den Kaufpreis von US$ 777'600.-- in
Empfang. Der Bahntransport ging über die Tschechoslowakei, Ungarn,
Jugoslawien und Bulgarien. Zur Käuferin gelangten jedoch lediglich 16
Personenwagen; die übrigen 304 wurden an eine Firma C. Ltd. in Istanbul
geschickt und dort von Gläubigern dieser Firma verarrestiert. Der
Fehllieferung lag offenbar ein Irrtum der Firma G. AG und der von ihr
beauftragten Speditionsfirma D. in Sofia zugrunde, der dazu führte,
dass die in Bulgarien ausgestellten Frachtbriefe für die betreffenden
Bahnwaggons falsch adressiert wurden.

    Im November 1990 stellte die Firma Y. A.S. ein weiteres Akkreditiv
über US$ 291'600.-- für eine zweite Lieferung von 120 Automobilen. Erneut
wurde die Spedition der Firma T. AG übertragen, die auch diesmal die
Firma G. AG einschaltete. Nach Verlad der Fahrzeuge nahm die Firma F. AG
gegen Vorlage der Dokumente den Kaufpreis entgegen. Indessen trafen bei
der Käuferin im Dezember 1990 nur 112 Personenwagen ein; acht Fahrzeuge
wurden wiederum der Firma C. Ltd. in Istanbul zugestellt, weil der Firma
D. für den betreffenden Bahnwaggon nochmals der gleiche Adressierungsfehler
unterlaufen war.

    Mit Klage vom 14. März 1992 erklärte die Firma Y. A.S., auf eine
nachträgliche Lieferung zu verzichten, und forderte statt dessen von
der Firma O. und der Firma F. AG Ersatz des ihr entstandenen Schadens in
der Höhe von US$ 1'538'404.-- nebst Zins. Das Handelsgericht des Kantons
St. Gallen wies mit Urteil vom 21. November 1994 die Klage ab.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung der Klägerin gegen diesen
Entscheid teilweise gut und weist die Streitsache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Die Bedeutung der CIF-Klausel ist zunächst aufgrund der von
den Parteien in ihrem Vertrag für anwendbar erklärten "Incoterms
1980" zu ermitteln, d.h. aufgrund der unter dieser Bezeichnung von
der Internationalen Handelskammer veröffentlichten standardisierten
Lieferbedingungen. Die "Incoterms 1980" sehen vor, dass der Verkäufer beim
CIF-Kauf unter anderem auf eigene Rechnung den Vertrag über die Beförderung
der Ware in einem Seeschiff bis zum vereinbarten Bestimmungshafen
abzuschliessen (Ziff. A.3), die Ware im Verschiffungshafen an Bord des
Schiffes zu verladen (Ziff. A.4) und bis zur Verladung alle Gefahren
zu tragen hat (Ziff. A.6). Im weiteren hat der Verkäufer dem Käufer
unverzüglich auf eigene Kosten ein sogenanntes Konnossement, d.h. ein
Warenpapier zu beschaffen, das auf die vereinbarte Ware lautet, deren
Verschiffung bestätigt, den vereinbarten Bestimmungshafen nennt und
mittels Indossament übertragen werden kann (Ziff. A.7). Der Käufer trägt
die Warengefahr vom Zeitpunkt an, in dem die Ware die Reling des Schiffes
tatsächlich überschritten hat (Ziff. B.3).

    Aus diesen Bestimmungen geht zunächst hervor, dass der CIF-Vertrag
grundsätzlich einen Seetransport voraussetzt (CAROL XUEREF, Les Incoterms
1990, in: Les contrats de vente internationale de marchandises, hrsg. von
François Dessemontet, S. 140). Sodann ergibt sich aus den "Incoterms",
dass die CIF-Klausel beim Verkäufer eine Bringschuld bis zum Verlad und
von dort eine Schickschuld bis zum Bestimmungsort begründet (SCHÖNLE,
Zürcher Kommentar, N. 77 zu Art. 185 OR). Die Versendungspflicht
des Verkäufers ist eine selbständige Nebenpflicht, deren Nicht- oder
Schlechterfüllung, soweit die "gehörige Bewirkung" nicht mehr möglich ist,
Schadenersatzansprüche des Käufers nach Art. 97 Abs. 1 OR auslöst (aaO,
N. 76-78 zu Art. 184 OR). Zur Erfüllung seiner Versendungspflicht muss der
Verkäufer unter genauer Angabe der Empfängeranschrift einen Frachtvertrag
mit einem Frachtführer abschliessen (aaO, N. 93 zu Art. 185 OR). Bedient
er sich zur Erfüllung dieser Pflicht eines Spediteurs, so hat er für dessen
Verhalten nach Art. 101 OR einzustehen (vgl. aaO, N. 98 zu Art. 185 OR).

    Zur Versendungspflicht tritt beim CIF-Vertrag die Pflicht des
Verkäufers, ein Konnossement ausstellen und dem Käufer unverzüglich
zukommen zu lassen. Dem Konnossement kommt bei der Vertragsabwicklung
zentrale Bedeutung zu (vgl. FRÉDÉRIC EISENMANN, Die Incoterms heute
und morgen, 2. Aufl. 1980, S. 176 ff.; FRÉDÉRIC EISENMANN/YVES DÉRAINS,
La pratique des incoterms, 3. Aufl. 1988, S. 145 ff.; JOSEPH BRÄNDLE,
Die Überseeklauseln cif und fob, Diss. Bern 1936, S. 94 ff.). Es dient
insbesondere auch dazu, den Käufer - oder dessen Rechtsnachfolger - bei der
Ankunft der Ware als deren berechtigten Empfänger auszuweisen und ihn auf
diese Weise in die Lage zu versetzen, unangefochten in den Besitz der Ware
zu gelangen (EISENMANN/DÉRAINS, aaO, S. 145 f. N. 3; BRÄNDLE, aaO, S. 96).

Erwägung 5

    5.- a) Im vorliegenden Fall sahen die Parteien keinen Seetransport,
sondern einen Eisenbahntransport vor. Es stellt sich die Frage, welche
Bedeutung der vereinbarten CIF-Klausel unter diesen Umständen beizumessen
ist. Da der eigentliche CIF-Vertrag nur für Waren, die mit Seeschiffen
befördert werden, in Betracht kommt, ist vorweg festzuhalten, dass die
Meinung der Parteien zum vornherein bloss auf eine analoge Anwendbarkeit
der "Incoterms" gegangen sein kann.

    Das Handelsgericht hat keinen übereinstimmenden inneren Willen der
Parteien über den konkreten Inhalt ihrer Vereinbarung festgestellt, wie er
nach Art. 18 Abs. 1 OR in erster Linie massgebend wäre; es hat vielmehr -
mit der Einvernahme des Zeugen H. - lediglich Beweis darüber erhoben, wie
eine der an den Vertragsverhandlungen beteiligten Personen die CIF-Klausel
rückblickend interpretiert. Im nachhinein lässt sich wohl auch kaum mehr
mit hinreichender Gewissheit feststellen, was die Parteien mit der Klausel
"CIF Kapikule" im Zusammenhang mit dem vorgesehenen Bahntransport im
einzelnen zum Ausdruck bringen wollten. Bei dieser Sachlage ist für die
Vertragsauslegung auf den Vertrauensgrundsatz zurückzugreifen. Danach
ist massgebend, wie die Parteien die vereinbarte CIF-Klausel aufgrund
der gesamten Umstände nach Treu und Glauben verstehen durften und mussten
(BGE 119 II 449 E. 3a S. 451, mit Hinweisen).

    b) Das Handelsgericht geht davon aus, dass die Gefahr auf die Klägerin
überging, sobald sich die Automobile auf den Bahnwaggons befanden; Liefer-
bzw. Erfüllungsort sei für die Beklagten die polnische Abgangsstation
Tychy gewesen. Die Frage des Gefahrenübergangs ist jedoch für die
Beurteilung der Streitsache nicht entscheidend. Vielmehr ist zu prüfen,
ob die Beklagten ihre vertragliche Nebenpflicht zur Versendung der Ware
an die Klägerin erfüllt haben. Das aber ist nicht der Fall. Nach den
Feststellungen der Vorinstanz haben die von der Beklagten beauftragten
Spediteure die Automobile in Sofia zum Teil mit falscher Angabe des
Empfängers in die Türkei verfrachtet. Für dieses Fehlverhalten ihrer
Erfüllungsgehilfen haften die Beklagten nach dem Gesagten gemäss Art. 101
Abs. 1 OR.

    Im weiteren ist die in den "Incoterms" vorgesehene Pflicht
des Verkäufers zu beachten, dem Käufer unverzüglich ein - korrekt
ausgestelltes - Konnossement zu beschaffen. Im Eisenbahnverkehr entsprechen
dem Seekonnossement am ehesten die Frachtbriefe bzw. ihre dem Absender
ausgehändigten Doppel, obschon sie dem Empfänger, wenn sie ihm übergeben
werden, nicht die gleiche Stellung zu verleihen vermögen wie ein
Seekonnossement (vgl. JÄGGI, Zürcher Kommentar, N. 15, 19, 31 ff. und
46 f. Vorbem. vor Art. 1153 OR). Gestützt auf eine analoge Anwendung der
CIF-Bestimmungen auf das vorliegende Handelsgeschäft ist deshalb davon
auszugehen, dass die Beklagten als Verkäuferinnen verpflichtet waren,
für die korrekte Ausstellung der Frachtbriefe zu sorgen und deren Doppel
unverzüglich der Klägerin weiterzuleiten. Dieser Pflicht aber sind sie
jedenfalls insofern nicht nachgekommen, als die Frachtbriefe für die
letzte Etappe des Transportes zum Teil mit falscher Adresse ausgestellt
worden sind. Dahingestellt bleiben kann, ob die Beklagten überhaupt befugt
waren, die Frachtbriefe länderweise ausstellen zu lassen, oder ob sie
der Klägerin - wie es deren Prozessstandpunkt entspricht - bereits im
Anschluss an den Verlad in Tychy unverzüglich Doppel von Frachtbriefen
für den ganzen Transport hätten beschaffen müssen.

    c) Haben die Beklagten somit ihre vertraglichen Nebenpflichten
mangelhaft erfüllt, so sind sie zum Ersatz des der Klägerin daraus
entstandenen Schadens verpflichtet (E. 4 hievor). Zur Ermittlung der Höhe
dieses Schadens und zur Bemessung des Ersatzanspruchs der Klägerin fehlen
die tatbeständlichen Grundlagen im angefochtenen Urteil. Die Streitsache
ist deshalb zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OR).