Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 V 258



121 V 258

41. Auszug aus dem Urteil vom 21. Dezember 1995 i.S. H. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Aargau und Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Regeste

    Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG, Art. 2 Abs. 1 und 2 HVI, Ziff.  10.05 HVI
Anhang sowie Ziff. 10.05* HVI Anhang (in der bis 31. Dezember 1992 gültig
gewesenen Fassung), Rz. 10.05.1 der Wegleitung des BSV über die Abgabe von
Hilfsmitteln durch die IV (WHMI). Zu den Voraussetzungen, unter denen die
IV die Kosten für invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen
zu erstatten hat. Beurteilung der Verwaltungspraxis.

Sachverhalt

    A.- Die 1987 geborene H. ist seit Geburt körperlich und geistig
schwerstbehindert und bezieht deswegen von der Invalidenversicherung
die verschiedensten Leistungen, unter anderem Sonderschulbeiträge,
Pflegebeiträge wegen schwerer Hilflosigkeit, einen Treppenfahrstuhl mit
Sitzschale sowie einen Rollstuhl ohne motorischen Antrieb ("Rehabuggy").

    Wegen Schwierigkeiten bei Einlad und Transport des ungefähr 22 kg
schweren und auch zusammengeklappt noch grossen Kinderwagens tauschten
die Eltern der Versicherten ihr Fahrzeug gegen einen "Renault Espace"
ein. Um H., welche ziemlich schwer ist und den Kopf nicht selber
halten kann, im Kinderwagen mit dem Auto transportieren zu können,
liessen ihre Eltern den Renault Espace mit einer Teleskop-Rampe und einer
Rollstuhlbefestigung mit Spindel ausstatten. Ein entsprechendes Gesuch um
Übernahme der Kosten für diesen Motorfahrzeugumbau (Fr. 1'200.-) lehnte
die Invalidenversicherung nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
mit Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 24. Juni 1993
ab. Die Verwaltung verneinte insbesondere einen Anspruch auf Übernahme
dieser Ausstattung unter dem Titel invaliditätsbedingte Abänderungen
eines Motorfahrzeuges, da H. nicht Halterin des Fahrzeuges sei.

    B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau mit Entscheid vom 29. März 1994 ab.

    C.- Der Vater von H. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den
Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es seien
seiner Tochter die Kosten für die Motorfahrzeugabänderung zuzusprechen;
zudem sei eine angemessene Parteientschädigung auszurichten.

    Während die Ausgleichskasse eine auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde lautende Vernehmlassung der
Invalidenversicherungs-Kommission einreicht, enthält sich das Bundesamt
für Sozialversicherung (BSV) einer Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin zu Lasten
der Invalidenversicherung Anspruch auf Übernahme der Kosten für die
Ausstattung des Renault Espace ihrer Eltern mit einer Teleskop-Rampe
und einer Rollstuhlbefestigung mit Spindel hat. Diese Frage beurteilt
sich intertemporal nach den bei Verwirklichung des anspruchserheblichen
Sachverhaltes gültigen Rechtsnormen (BGE 118 V 110 Erw. 3 mit Hinweis).

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 21 IVG hat der Versicherte im Rahmen einer vom
Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren
er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in seinem
Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der
funktionellen Angewöhnung bedarf (Abs. 1). Der Versicherte, der infolge
seiner Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes
mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf,
hat ebenfalls im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne
Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel
(Abs. 2).

    b) Laut Art. 2 der Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch
die Invalidenversicherung (HVI), erlassen durch das Eidg. Departement des
Innern (EDI) gestützt auf Art. 21 Abs. 4 IVG und Art. 14 IVV, besteht
im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste Anspruch auf Hilfsmittel,
soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der
Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind (Abs. 1); Anspruch auf die
in dieser Liste mit * bezeichneten Hilfsmittel besteht, soweit diese für
die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich,
für die Schulung, die Ausbildung, die funktionelle Angewöhnung oder für
die bei einzelnen Hilfsmitteln ausdrücklich genannte Tätigkeit notwendig
sind (Abs. 2).

    Die im HVI Anhang enthaltene Liste ist insofern abschliessend, als
sie die in Frage kommenden Hilfsmittelkategorien aufzählt. Dagegen ist
bei jeder Hilfsmittelkategorie zu prüfen, ob die Aufzählung der einzelnen
Hilfsmittel (innerhalb der Kategorie) ebenfalls abschliessend oder bloss
exemplifikatorisch ist (BGE 117 V 181 Erw. 3b mit Hinweis, 115 V 193
Erw. 2b mit Hinweisen).

    c) Der Versicherte hat in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen
Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber
auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren (BGE 110 V
102 Erw. 2). Denn das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit
sicherstellen, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist;
ferner muss der voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme
in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 115 V 198
Erw. 4e/cc, 206 oben; ZAK 1992 S. 210 Erw. 3a).

Erwägung 3

    3.- a) Ziff. 10 HVI Anhang regelt die Abgabe von Motorfahrzeugen
und Invalidenfahrzeugen und lautet in der vorliegend anwendbaren, seit
1. Januar 1993 gültigen Fassung wie folgt:

    10 Motorfahrzeuge und Invalidenfahrzeuge

    für Versicherte, die voraussichtlich dauernd eine existenzsichernde

    Erwerbstätigkeit ausüben und zur Überwindung des Arbeitsweges auf ein
   persönliches Motorfahrzeug angewiesen sind.

    10.01* Motorfahrräder, zwei- bis vierrädrig

    10.02* Kleinmotorräder und Motorräder

    10.03* ...

    10.04* Automobile

    10.05 Invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen

    Im Unterschied zu der bis 31. Dezember 1992 gültig gewesenen Regelung
verzichtet Ziff. 10 Ingress HVI Anhang auf das Erfordernis, dass der
Versicherte das Motorfahrzeug selbständig gefahrlos bedienen kann,
und es fehlt bei Ziff. 10.05 HVI Anhang das *, wodurch die gesetzliche
Zielrichtung dieser Hilfsmittelkategorie auf die Fortbewegung, die
Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt und die Selbstsorge gemäss Art. 21
Abs. 2 IVG und Art. 2 Abs. 1 HVI (Erw. 2a, b hievor) erweitert wird.

    b) aa) Nach Auffassung des kantonalen Gerichts ist das Erfordernis
der selbständigen gefahrlosen Bedienung des Motorfahrzeuges im Zuge
der Verordnungsänderung vom 9. Oktober 1992 lediglich für jene Fälle
preisgegeben worden, da das Automobil, dessen invaliditätsbedingte
Abänderung verlangt werde, zur Erzielung eines existenzsichernden
Erwerbseinkommens notwendig sei. Zur Begründung verweist die
Vorinstanz auf das in ZAK 1988 S. 180 veröffentlichte Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts, woraus hervorgehe, dass die Hilfsmittelabgabe
im Rahmen von Art. 21 Abs. 2 IVG die selbständige Fortbewegung des
Versicherten anstrebe und ermöglichen solle. Dementsprechend setze gemäss
Rz. 10.05.1 der Wegleitung des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln durch
die Invalidenversicherung (WHMI) der Anspruch auf Vergütung der Kosten
invaliditätsbedingter Abänderungen von Motorfahrzeugen alternativ voraus,
dass die Versicherten das Fahrzeug selber lenken können oder Anspruch
auf Leistungen gemäss Ziff. 10.01*-10.04* HVI Anhang haben.

    bb) Der Auslegung von Ziff. 10.05 HVI Anhang durch das kantonale
Gericht kann im Hinblick auf Wortlaut und Systematik des Anhangs zur
HVI nicht beigepflichtet werden. Fehl geht zunächst die Berufung der
Vorinstanz auf ZAK 1988 S. 180 (und den in diesem Zusammenhang ebenfalls
zitierten ZAK 1983 S. 447). Denn in jenem Entscheid ging es um die - vom
Eidg. Versicherungsgericht in der Folge bejahte - Frage, ob die Regelung
der Abgabe von Elektrofahrstühlen gemäss Ziff. 9.02 HVI Anhang (in der
bis 31. Dezember 1992 gültig gewesenen Fassung), soweit sie lediglich
Versicherte für anspruchsberechtigt erklärte, welche dieses Hilfsmittel
bedienen und sich damit selbst fortbewegen könnten, gesetzmässig war
(ZAK 1988 S. 181 Erw. 2a). Diese Verordnungsbestimmung stipulierte
somit selber das Erfordernis der selbständigen Fortbewegung durch einen
Fahrstuhl mit elektromotorischem Antrieb. Genau diese Voraussetzung
hat das zuständige Departement im Rahmen der dem Bundesrat im Gesetz
(Art. 21 Abs. 4 IVG) delegierten Kompetenzen in Ziff. 10 Ingress HVI
Anhang und damit gesetzessystematisch für sämtliche Hilfsmittel nach
Ziff. 10.01*-10.05 HVI Anhang gestrichen, indem es das Erfordernis
der selbständigen gefahrlosen Bedienung fallengelassen hat. Hätte der
Verordnungsgeber, wie die Vorinstanz annimmt, Ziffer 10.05 davon ausnehmen
wollen, hätte er eine entsprechende abweichende Anordnung getroffen,
und zwar um so mehr als die gleichzeitige Erweiterung der gesetzlichen
Zielrichtung dieses Hilfsmittels (Erw. 3a) ganz auf der Linie der mit den
Verordnungsänderungen vom 9. Oktober 1992 angestrebten Verbesserung der
sozialen Integration behinderter Menschen liegt (vgl. Soziale Sicherheit
2/1993 S. 23). Ziff. 10.05 HVI Anhang kommt somit im Rahmen der auf den
1. Januar 1993 in Kraft getretenen Änderungen des Hilfsmittelrechts
in zweifacher Hinsicht ein neuer Rechtssinn zu: Der Anspruch auf
invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen kann weder
mit dem Hinweis verneint werden, der Versicherte sei nicht imstande,
selber das Motorfahrzeug zu führen, noch mit dem Einwand, er verwende
das Auto nicht zur Ausübung einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit
(oder zu einem der andern erwerblich orientierten Eingliederungsziele
nach Art. 21 Abs. 1 IVG), dies unter dem Vorbehalt, dass im einen oder
anderen Bereich ein erheblicher Eingliederungserfolg in einfacher und
zweckmässiger Weise angestrebt wird (Erw. 4 hienach). Das kantonale
Gericht hat daher den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Übernahme der
Kosten der invaliditätsbedingten Abänderung des Fahrzeuges ihrer Eltern
zu Unrecht mit der Begründung verneint, sie könne das abgeänderte Fahrzeug
nicht selber lenken. Die sonst im Hilfsmittelrecht regelmässig beachtliche
Funktion, die Autonomie des Versicherten zu erhöhen (vgl. etwa ZAK 1988
S. 180), kommt im vorliegenden Regelungszusammenhang nicht zum Zuge.

    c) Der streitige Hilfsmittelanspruch scheitert sodann auch nicht
daran, dass die Versicherte nicht Halterin des Fahrzeuges ist, an dem
die invaliditätsbedingten Abänderungen vorgenommen worden sind.

    Die gegenteilige, der angefochtenen Verfügung zugrunde liegende
Auffassung stimmt zwar mit Rz. 10.05.1 WHMI (gemäss Nachtrag vom 1. August
1993) überein, wonach ein Anspruch gestützt auf Ziff. 10.05 HVI Anhang
die Haltereigenschaft voraussetzt. Dies ist jedoch im Rahmen der Kompetenz
des Sozialversicherungsrichters zur Überprüfung von Verwaltungsweisungen
(vgl. dazu BGE 119 V 259 Erw. 3a mit Hinweisen) insofern ohne Belang,
als die französische und italienische Version von Rz. 10.05.1 WHMI im
Unterschied zum deutschen Text nicht verlangen, dass der Versicherte
Halter des abzuändernden oder bereits abgeänderten Motorfahrzeuges ist
(vgl. BGE 121 V 24 Erw. 4b mit Hinweisen). Zudem ist eine Anknüpfung an
den Eigentumsverhältnissen dem Hilfsmittelrecht fremd. Dies ergibt sich
allgemein daraus, dass (kostspielige) Hilfsmittel in der Regel leihweise
abgegeben werden (vgl. Art. 21 Abs. 3 IVG in Verbindung mit Art. 3
HVI). Mit Bezug auf invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen
(Ziff. 10.05 HVI Anhang) im besonderen sodann zeigt ein Blick in die
Liste, dass die Invalidenversicherung viele Hilfsmittel abgibt (oder
Amortisationsleistungen daran zuspricht), die in nicht dem Versicherten zu
Eigentum gehörenden Mobilien oder Immobilien installiert werden (vgl. Ziff.
13.01* HVI Anhang [Invaliditätsbedingte Zusatzgeräte und Anpassungen für
die Bedienung von Apparaten und Maschinen] oder Ziff. 14.04 HVI Anhang
[Invaliditätsbedingte bauliche Änderungen in der Wohnung]).

    d) Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Übernahme der Kosten
für invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen nach Ziff. 10.05
HVI Anhang (gültig ab 1. Januar 1993) durch die Invalidenversicherung
nicht voraussetzt, dass der Versicherte das Fahrzeug selber lenken
kann. Dabei ist unerheblich, ob ein Anspruch auf Motorisierung nach
Ziff. 10.01*-10.04* HVI Anhang besteht oder nicht. Insoweit Rz. 10.05.1
WHMI die Abgabe dieses Hilfsmittels an die Haltereigenschaft knüpft und
alternativ verlangt, dass der Versicherte das Fahrzeug selber lenken
kann oder Anspruch auf Leistungen gemäss Ziff. 10.01*-10.04* HVI hat,
ist die Weisung verordnungswidrig.

Erwägung 4

    4.- Die Ausstattung des den Eltern der Beschwerdeführerin gehörenden
Renault Espace mit einer Teleskop-Rampe und einer Rollstuhlbefestigung mit
Spindel kann noch als invaliditätsbedingte Abänderung von Motorfahrzeugen
im Sinne von Ziff. 10.05 HVI Anhang und der Hilfsmittelbegriff somit als
erfüllt betrachtet werden (vgl. BGE 115 V 194 Erw. 2c, 101 V 269 Erw. 1b),
weil nicht der Mehrkomfort gegenüber dem seriellen Ausrüstungsstand in
Frage steht, sondern die behinderungsbedingt erforderliche Anpassung. Die
dabei angefallenen Kosten gehen somit zu Lasten der Invalidenversicherung,
wenn und soweit diese Vorkehr zur Erreichung eines der in Art. 21 Abs. 1
und 2 IVG umschriebenen Zwecke während längerer Zeit notwendig ist und die
Erfordernisse der Einfachheit und Zweckmässigkeit des Hilfsmittels gegeben
sind (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG und Art. 21 Abs. 3 IVG). Dies ist zu bejahen.

    Die streitige Abänderung ist für die soziale Integration der schwer und
mehrfach behinderten Beschwerdeführerin notwendig, weil eine Fortbewegung,
sei es zur Aufsuchung der Eingliederungsstätte, sei es im privaten
Bereich, praktisch nur möglich ist, wenn sie im Reha-Kinderwagen
mit dem Auto transportiert wird. Mit der Teleskop-Rampe und der
Befestigungsvorrichtung kann das Eingliederungsziel der Fortbewegung auf
einfache und zweckmässige Weise erreicht werden. Es handelt sich dabei
um behindertengerechte Vorkehren, welche sich in solchen Verhältnissen
bewährt haben. Schliesslich ist auch das für eine nichterwerbliche
Hilfsmittelabgabe spezifische Kriterium der Kostspieligkeit erfüllt,
belaufen sich doch die Abänderungskosten auf Fr. 1'200.-.