Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 V 240



121 V 240

37. Auszug aus dem Urteil vom 28. Dezember 1995 i.S. T. gegen
Ausgleichskasse Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 52 AHVG, Art. 82 Abs. 1 AHVV. Zur zumutbaren Schadenskenntnis
der Ausgleichskasse im Zeitpunkt der 1. Gläubigerversammlung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- c) aa) Aufgrund der Akten steht fest, dass die Ausgleichskasse
an der 1. (wie übrigens später auch an der 2.) Gläubigerversammlung vom
2. Juni 1992 nicht teilgenommen hat. Daraus folgt, dass die Ausgleichskasse
darüber, was sich an der 1. Gläubigerversammlung vom 2. Juni 1992
abspielte, keine tatsächliche Kenntnis hatte. Auf eine solche kommt es
aber im Rahmen von Art. 82 Abs. 1 AHVV nach ständiger Rechtsprechung
nicht an, vielmehr auf die zumutbare Schadenskenntnis (vgl. NUSSBAUMER,
Die Ausgleichskasse als Partei im Schadenersatzprozess nach Art. 52 AHVG;
in: ZAK 1991 S. 383 ff. und 433 ff., insbesondere S. 389). Der Aspekt der
zumutbaren Schadenskenntnis fällt hier folglich mit der Frage zusammen,
ob es der Ausgleichskasse als Gläubigerin zumutbar gewesen wäre, einen
Vertreter an die 1. Gläubigerversammlung vom 2. Juni 1992 zu schicken.

    Diese Frage ist zu bejahen. Wiewohl im allgemeinen keine Verpflichtung
für die Gläubiger besteht, an den Gläubigerversammlungen im Rahmen
des Konkursverfahrens zu erscheinen, handelt es sich hiebei doch
um Obliegenheiten, deren richtige Erfüllung für die Wahrung privat-
oder öffentlichrechtlicher Ansprüche, welche sie gegen den Konkursiten
erheben, von Bedeutung sein kann. Hinzu kommt, dass die Ausgleichskasse
als Gläubigerin des Schadenersatzanspruchs nach Art. 52 AHVG verpflichtet
ist, diesen rechtzeitig durch Verfügung geltend zu machen. Deshalb wird
der Ausgleichskasse nach der Rechtsprechung insbesondere zugemutet,
dass sie den Gang des Konkursverfahrens verfolgt und von der Auflegung
des Kollokationsplans und des Inventars Kenntnis nimmt (BGE 116 V
75 Erw. 3b). Bei beiden Schritten handelt es sich um Etappen des
Konkursverfahrens, welche öffentlich angekündigt werden (Art. 232 und
249 SchKG). Es ist daher folgerichtig, wenn sich die Ausgleichskasse
im Rahmen derjenigen Konkurse ihrer angeschlossenen Arbeitgeberinnen,
in denen Gläubigerversammlungen durchgeführt werden, vertreten lässt
(vgl. auch AHI 1995 S. 163 f. Erw. 4c). Unter diesem Gesichtspunkt ist
die zumutbare Schadenskenntnis der Ausgleichskasse am 2. Juni 1992 ohne
weiteres zu bejahen.

    bb) Es fragt sich aber, ob der Schadenseintritt im Sinne der
Rechtsprechung (BGE 113 V 257 f. Erw. 3c, 109 V 92 Erw. 9, je mit
Hinweisen) am 2. Juni 1992 für die Ausgleichskasse, wenn sie an der
1. Gläubigerversammlung teilgenommen hätte, objektiv erkennbar gewesen
wäre.

    Diesbezüglich ergibt sich aus den Protokollen über die beiden
Gläubigerversammlungen im Vergleich,

    - dass gemäss dem als provisorisch bezeichneten Status vom 2. Juni 1992
   die Zweitklass-Gläubiger im günstigsten Fall noch eine ganz geringfügige

    Befriedigung ihrer Forderungen zu erwarten hatten;

    - wogegen sich die Situation aufgrund des Kollokationsplanes vom

    21. September 1992 dahingehend verbesserte, dass die
Zweitklass-Gläubiger
   wegen der bedeutend herabgesetzten Erstklassforderungen wieder eher
   mit einer Dividende rechnen konnten, was die 2. Gläubigerversammlung am

    11. November 1992 zur Kenntnis zu nehmen hatte.

    Eine volle Deckung der eingegebenen Beitragsforderung war weder im
Zeitpunkt der 1. noch in jenem der 2. Gläubigerversammlung zu erwarten,
mithin ein Teilschaden im Grundsatz objektiv eingetreten und ersichtlich.

    Damit stellt sich als nächstes die Frage, ob für die ausnahmsweise
Vorverlagerung des Zeitpunktes der zumutbaren Schadenskenntnis vor die
Öffentlichmachung von Kollokationsplan/Inventar feststehen muss, dass die
Ausgleichskasse vollumfänglich zu Verlust kommen wird, oder ob es genügt,
wenn dies nur teilweise der Fall sein wird.

    Dazu hat das Eidg. Versicherungsgericht in dem von der kantonalen
Rekursinstanz erwähnten Urteil B. vom 18. September 1992 (ZAK 1992
S. 479 Erw. 3b) folgendes ausgeführt:

    "Die Praxis, wonach die Kenntnis des Schadens in der Regel mit der

    Auflage des Kollokationsplanes gegeben ist, beinhaltet aber auch keine
   feste Grenze in dem Sinne, dass eine Kenntnis des Schadens jedenfalls
   nicht vor Auflage des Kollokationsplanes und des Inventars gegeben
   sein kann. Wie das Bundesgericht in Zusammenhang mit der Verjährung von

    Ansprüchen aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gemäss Art. 760 OR
   (wo die den Lauf der fünfjährigen Verjährungsfrist auslösende
   Kenntnis des

    Schadens in der Regel angenommen wird, wenn der Kollokationsplan
und das

    Inventar zur Einsicht aufgelegt werden) entschieden hat, kann der
Gläubiger
   unter besondern Umständen die für die Geltendmachung des Anspruchs
   erforderliche Kenntnis des Schadens schon früher erlangen, so
   beispielsweise wenn er aufgrund von Äusserungen der Konkursverwaltung
   anlässlich von Gläubigerversammlungen vernimmt, dass seine Forderungen
   auf jeden Fall ungedeckt bleiben. Das Gericht stellte allerdings fest,
   dass es sich im Hinblick auf die Interessen der geschädigten Gläubiger
   verbiete, einen solchen früheren Beginn der Verjährungsfrist leichthin
   anzunehmen (BGE 116 II 158 ff.). Diese Erwägungen haben in gleicher
   Weise bei der

    Verwirkung von Schadenersatzforderungen der Ausgleichskassen gemäss
Art. 82

    Abs. 1 AHVV zu gelten. Auch im Rahmen dieser Bestimmung kann
ausnahmsweise
   bereits vor Auflegung des Kollokationsplanes eine im Sinne der

    Rechtsprechung ausreichende Kenntnis des Schadens bestehen, welche die

    Verwirkungsfrist in Gang setzt. Soweit mit der Feststellung in BGE
116 V

    77, wonach für den Zeitpunkt der Kenntnis des Schadens grundsätzlich
auf
   die Auflegung des Kollokationsplanes abzustellen sei und das

    Eidgenössische Versicherungsgericht eine Vorverlegung dieses
Zeitpunktes
   stets abgelehnt habe, etwas anderes gesagt wurde, kann daran nicht
   festgehalten werden."

    Diese Erwägungen lassen offen, ob ein Totalausfall verlangt wird
oder aber ob für die zumutbare Kenntnis ein Teilschaden genügt. Bloss
fallerledigend hat das Eidg. Versicherungsgericht in diesem Entscheid
darauf abgestellt, dass die Ausgleichskasse vor der Auflegung des
Kollokationsplanes habe erwarten müssen, mit ihrer Beitragsforderung
gänzlich zu Verlust zu kommen (ZAK 1992 S. 482 Erw. 4b letzter Absatz:
"... spätestens aber im Oktober 1989 nicht mehr annehmen, dass ihre
Forderungen gedeckt seien. Vielmehr musste sie ernstlich damit rechnen,
dass sie im Konkurs der V. SA mit ihrer Beitragsforderung gänzlich zu
Verlust kommen werde, weshalb sie im Sinne der Rechtsprechung Kenntnis
vom Eintritt des Schadens hatte"). Im bereits erwähnten Urteil H. vom
1. Februar 1995 hat es das Eidg. Versicherungsgericht für die zumutbare
Kenntnis des Schadens in einem Fall, wo ein versuchter Nachlassvertrag
mit Vermögensabtretung bei der Nachlassbehörde keine Zustimmung fand
(Art. 306 SchKG), indessen genügen lassen, wenn die Ausgleichskasse durch
Beizug des öffentlich bekanntgemachten Entscheides der Nachlassbehörde
(Art. 308 Abs. 1 SchKG) hätte in Erfahrung bringen können, dass ihre
Forderung durch die Dividende, die sie im Konkurs erwarten durfte, sehr
wahrscheinlich nicht voll gedeckt sein würde (AHI 1995 S. 164 Erw. 4d);
somit erachtete das Gericht schon die zumutbare Kenntnis eines Teilschadens
für ausreichend. Dies hat - im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanz
- auch für den vorliegenden Fall zu gelten. Denn es sind keine Gründe
ersichtlich, die es rechtfertigen würden, bei der ausnahmsweisen Vorlegung
des Zeitpunktes der zumutbaren Schadenskenntnis vor die Auflage des
Kollokationsplans, an den Schaden selbst masslich strengere Anforderungen
zu stellen, als dies im Regelfall nach konstanter Rechtsprechung (vgl. BGE
113 V 182 ff. Erw. 3a und b) getan wird.

    d) Nach dem Gesagten hatte die Ausgleichskasse am 2. Juni 1992
zumutbare Schadenskenntnis. Dies führt dazu, dass die einjährige
Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV an diesem Datum ausgelöst worden
ist. Die Schadenersatzverfügung vom 22. Juni 1993 erweist sich deshalb,
entgegen der Auffassung der Vorinstanz, als verspätet.