Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 V 234



121 V 234

36. Auszug aus dem Urteil vom 21. Dezember 1995 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Z. und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 52 AHVG, Art. 82 Abs. 1 AHVV, Art. 250 SchKG. Für die
Frage nach dem Zeitpunkt der Schadenskenntnis, welche die einjährige
Verwirkungsfrist auslöst, ist - im Falle der regelmässig massgeblichen
und im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) zu veröffentlichenden
Auflage des Kollokationsplanes und des Inventars - auf die tatsächliche
Einsichtnahme auf dem Konkursamt abzustellen oder - sofern auf diese
Vorkehr verzichtet wird - auf das Ende der Auflagefrist.

Sachverhalt

    A.- Über die Firma X-Bausystem AG, wurde am 10. Dezember
1991 der Konkurs eröffnet. Die Ausgleichskasse des Kantons Bern
meldete in diesem Verfahren am 10. März 1992 eine Forderung von
insgesamt Fr. 106'577.45, bestehend aus unbezahlt gebliebenen
paritätischen Sozialversicherungsbeiträgen (inkl. Verwaltungskosten,
Mahngebühren, Betreibungskosten und Verzugszinsen), zur Aufnahme in den
Kollokationsplan an. Die Mitteilung des Konkursamtes Y über die Auflage des
Kollokationsplans mit Frist bis 25. August 1993 wurde im Schweizerischen
Handelsamtsblatt (SHAB) sowie im kantonalen Amtsblatt publiziert. Die
Ausgleichskasse verzichtete, wie regelmässig, auf eine Einsichtnahme.

    Mit Verfügung vom 25. August 1994 verpflichtete die Ausgleichskasse Z.,
einen ehemaligen Verwaltungsrat der in Konkurs gefallenen und damit als
Schuldnerin ausgeschiedenen Firma, zur Leistung von Schadenersatz für nicht
mehr einbringbare paritätische bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge
(inkl. Verwaltungskosten, Mahngebühren, Betreibungskosten und
Verzugszinsen) in der Höhe von Fr. 93'563.15.

    B.- Nachdem der Belangte gegen diese Verfügung Einspruch erhoben hatte,
reichte die Ausgleichskasse am 5. Oktober 1994 beim Verwaltungsgericht
des Kantons Bern eine Schadenersatzklage mit dem Begehren ein, Z. sei
zur Leistung von Schadenersatz im erwähnten Betrag zu verurteilen. Dieser
verzichtete auf eine Klageantwort.

    Das Verwaltungsgericht führte am 10. Februar 1995 eine
Instruktionsverhandlung durch, an welcher die Parteien auf den neuen
rechtlichen Gesichtspunkt der Klageverwirkung hingewiesen und zur Sache
einvernommen wurden. Mit Entscheid vom 30. Mai 1995 wies das kantonale
Gericht die Klage zufolge Verwirkung des Anspruchs ab.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung bestreitet mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Verwirkung der Schadenersatzforderung. Es
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Zurückweisung
der Sache zur weiteren Behandlung an das Verwaltungsgericht.

    Während sich die Ausgleichskasse in ihrer Vernehmlassung
diesem Rechtsbegehren anschliesst, trägt Z. auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat im Urteil G. vom
25. Januar 1993 (BGE 119 V 89 ff.) erkannt, dass, wenn die Kenntnis
des Schadens mit Auflage des Kollokationsplanes und des Inventars im
Konkursverfahren eingetreten sei, die einjährige (Verwirkungs)-Frist
des Art. 82 Abs. 1 AHVV zur Geltendmachung des Schadenersatzes frühestens
mit der entsprechenden Publikation im SHAB zu laufen beginne, sofern das
Konkursamt an diesem Tag der Öffentlichkeit zugänglich sei (BGE 119 V 93
Erw. 4a mit Hinweis). Die Frage, ob für die fristauslösende Kenntnis auf
die öffentliche Bekanntmachung im SHAB, auf die tatsächliche Einsichtnahme
auf dem Konkursamt oder auf das Ende der Auflagefrist abzustellen sei,
hat das Gericht jedoch offengelassen (BGE 119 V 93 Erw. 4a i.f. mit
Hinweis auf die nachfolgenden Erw. 4b-d).

    b) Das vorinstanzliche Verwaltungsgericht hat im angefochtenen
Entscheid erwogen, dass sich aufgrund der Akten keinerlei Anhaltspunkte
ergäben, gemäss welchen der Beginn der einjährigen Verwirkungsfrist nach
Art. 82 Abs. 1 AHVV ausnahmsweise auf einen späteren Zeitpunkt als die
Auflage des Kollokationsplans fallen würde. Die Ausgleichskasse habe
auf eine Einsichtnahme in den Kollokationsplan verzichtet, so dass zum
vornherein nicht auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Einsichtnahme
abgestellt werden könne. Es bleibe deshalb zu prüfen, wann die
Ausgleichskasse bei der ihr vernünftigerweise zumutbaren Aufmerksamkeit
frühestens hätte erkennen können, dass die finanzielle Lage der konkursiten
Firma eine Schadenersatzpflicht begründen könnte. Dazu führt das kantonale
Gericht aus (Erw. 3c und 4 des angefochtenen Entscheids):

    "In Anlehnung an die Praxis zum Beginn der einjährigen Verwirkungsfrist
   für die Wahrung eines Rückforderungsanspruchs gemäss Art. 47 Abs. 2
   AHVG beginnt die Frist in dem Zeitpunkt zu laufen, in welchem die

    Ausgleichskasse bei der gebotenen Aufmerksamkeit erstmals hätte merken
   können, dass die Voraussetzungen für eine Schadenersatzpflicht
   bestehen. Um diesen Punkt beurteilen zu können, müssen der
   Ausgleichskasse alle im konkreten Einzelfall erheblichen Umstände
   zugänglich sein, aus deren

    Kenntnis sich der Schadenersatzanspruch dem Grundsatze nach und
in seinem

    Ausmass gegenüber einem rückerstattungspflichtigen Organ der
konkursiten

    Firma ergibt (vgl. BGE 112 V 181 Erw. 4a mit Hinweisen)."

    "Fällt die fristauslösende Kenntnis des Schadens wie vorliegend mit der

    Auflage des Kollokationsplanes und des Inventars zusammen, so kann die

    Ausgleichskasse frühestens am ersten Tag nach der Bekanntgabe der
Auflage
   im SHAB in Erfahrung bringen, ob und in welchem Umfange ihre im Konkurs
   eingegebene Forderung möglicherweise nicht befriedigt werden kann. Der

    Beginn des Fristenlaufs setzt allerdings voraus, dass das Konkursamt an
   diesem Tag der Öffentlichkeit auch zugänglich ist. Die Frist des Art. 82

    Abs. 1 AHVV beginnt deshalb am ersten Werktag nach der öffentlichen

    Bekanntmachung der Auflage des Kollokationsplanes und des Inventars zu
   laufen, an welchem das Konkursamt, bei dem die Auflage stattfindet, dem

    Publikumsverkehr geöffnet ist. Vor diesem Zeitpunkt ist es der

    Ausgleichskasse in der Regel nicht möglich, sich Kenntnis vom
Inhalt des

    Kollokationsplanes zu verschaffen.

    Dagegen ist für den Beginn der Frist des Art. 82 Abs. 1 AHVV nicht auf
   das Ende der Auflagefrist des Kollokationsplanes abzustellen, da die

    Ausgleichskasse bei der gebotenen pflichtgemässen Sorgfalt - wozu
auch die
   tatsächliche Einsichtnahme in den Kollokationsplan mitsamt Inventar im

    Falle einer möglichen Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG gehört -
   bereits früher - entweder im Zeitpunkt der tatsächlichen Einsichtnahme
   oder aber im Zeitpunkt der frühest möglichen Einsichtnahme - vom Schaden

    Kenntnis hat bzw. haben konnte."

    Vorliegend habe die Frist des Art. 82 Abs. 1 AHVV mit dem ersten
Werktag nach der Bekanntmachung der Auflage im SHAB - mithin am 16. August
1993 (Montag) - zu laufen begonnen. Die Schadenersatzverfügung der
Ausgleichskasse vom 25. August 1994 erweise sich damit als verspätet, so
dass die Klage zufolge Verwirkung des Schadenersatzanspruchs abzuweisen
sei. Im übrigen wäre der Anspruch auch verwirkt, so das kantonale
Gericht weiter, wenn für den Beginn des Fristenlaufs auf das Datum der
am Mittwoch, den 18. August 1993, erfolgten Publikation der Auflage des
Kollokationsplanes im Amtsblatt des Kantons Bern abgestellt würde.

    c) Das Bundesamt begründet die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im
wesentlichen damit, dass das Eidg. Versicherungsgericht - entgegen
dem Anschein - in BGE 119 V 89 ff. doch die beiden Extrempunkte für
die Fristauslösung festgelegt habe. Nachdem es für die Kenntnis des
Schadens grundsätzlich auf die Möglichkeit der Einsichtnahme (BGE 119 V 93
Erw. 4a) ankomme, sei für die Fristauslösung in der hier zur Diskussion
stehenden Konstellation auf die tatsächliche Kenntnisnahme während der
Kollokationsplanauflagefrist bzw. auf den letzten Tag dieses Zeitraumes
abzustellen. Mutatis mutandis solle für den Beginn der einjährigen
Verwirkungsfrist nach Art. 82 Abs. 1 AHVV das gleiche gelten wie für den
Start der Rechtsmittelfrist bei Zustellung eingeschriebener Postsendungen.
Diesbezüglich verweist die Verwaltung auf das nicht publizierte Urteil
B. vom 24. Juli 1995.

Erwägung 5

    5.- a) Die Rechtsprechung geht, was ebenfalls bereits die Vorinstanz
dargelegt hat und im übrigen von den Parteien nicht bestritten wird,
davon aus, dass in Haftungsfällen nach Art. 52 AHVG im Regelfall -
zumal bei Konkursen und Nachlassverträgen mit Vermögensabtretung - die
fristauslösende Kenntnis des Schadens mit der Eröffnung der Kollokation
der Forderungen bzw. mit der Auflage von Kollokationsplan und Inventar
zusammenfällt. Damit wurde der Zeitpunkt für den Beginn des Fristenlaufs
für eine rechtzeitige Geltendmachung des Schadenersatzanspruchs nur
dem Grundsatz nach festgelegt, was aus BGE 119 V 93 Erw. 4a i.f. klar
hervorgeht. Die in jenem Urteil offen gelassene Rechtsfrage nach
dem genauen Zeitpunkt der nach Art. 82 Abs. 1 AHVV fristauslösenden
Schadenskenntnis im genannten Regelfall, mithin ob dafür die öffentliche
Bekanntmachung im SHAB, die tatsächliche Einsichtnahme auf dem Konkursamt
oder das Ende der Auflagefrist massgebend ist, gilt es im folgenden
zu beantworten.

    b) Es trifft zu, dass es der Ausgleichskasse an sich möglich wäre,
frühestens am Tag der Bekanntmachung im SHAB oder - wenn das Konkursamt an
diesem Tag dem Publikum nicht zugänglich ist - am nächstfolgenden Werktag
in den Kollokationsplan Einsicht zu nehmen (BGE 112 III 42). Es wäre
daher nach den Grundsätzen über die Kenntnis oder die zumutbarerweise
mögliche Kenntnis des Schadens durchaus denkbar, die Einjahresfrist
an diesem Zeitpunkt zu eröffnen. Dies müsste dann aber logischer-
und konsequenterweise immer gelten; d.h. auch in jenen Fällen, wo die
Ausgleichskasse während der laufenden Auflagefrist tatsächlich in den
Kollokationsplan Einsicht nimmt oder wo sie, wie vorliegend, auf diese
Vorkehr verzichtet. Die Rechtsauffassung der Vorinstanz, entweder auf
den Zeitpunkt der tatsächlichen Einsichtnahme oder aber - so darauf
verzichtet wird - auf den Zeitpunkt der frühest möglichen Einsichtnahme
abzustellen, erscheint in sich widersprüchlich. Eine Praxis, welche der
wirklichen Einsichtnahme auf dem Konkursamt während der Auflagefrist
keinerlei Rechtswirkung für die Fristauslösung beimessen würde, wäre
weder sachgerecht noch vernünftig. Die Kenntnisnahme des Schadens - und
dies ist der springende Punkt der in BGE 119 V 92 Erw. 3 wiedergegebenen
Rechtsprechung - erfolgt durch die tatsächliche Einsichtnahme in den
Kollokationsplan. Kommt es aber in erster Linie darauf an, kann sich dann,
wenn dieses Recht nicht ausgeübt wird, rechtslogisch nur die Frage stellen,
wann die Ausgleichskasse durch die entsprechende Vorkehr spätestens vom
Schaden hätte Kenntnis nehmen können, und nicht, wann sie frühestens
diese Möglichkeit gehabt hätte. Der Ausgleichskasse muss zugestanden
werden, die Auflagefrist bis zum letzten Tag auszuschöpfen. Diese
Auffassung teilte auch das Bundesgericht im bereits erwähnten BGE 112
III 44 Erw. 3a deutlich, indem es ausführte: "Das Bundesgericht hat
(...) unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass in jedem Fall die
Einsicht in den Kollokationsplan gewährleistet sein muss und deshalb nicht
ausschliesslich auf das Datum der Publikation abgestellt werden kann. Das
versteht sich von selbst, lässt sich doch die ohnehin kurze Frist des
Art. 250 Abs. 1 SchKG nur rechtfertigen, wenn dem Gläubiger über die
ganze Frist hinweg die Möglichkeit zur Einsicht in den Kollokationsplan
angeboten wird". Dass gesetzte Fristen bis zu ihrem Ablauf genutzt
werden können, entspricht ausserdem einem allgemeinen und insbesondere
prozessualen Rechtsgrundsatz sowie der Zielsetzung und Handhabung solcher
Regelungen, wie sie gerade auch für Rechtsmittelfristen üblich sind
(vgl. MESSMER/IMBODEN, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen,
Zürich 1992, S. 23 ff. N 20). Im übrigen hat das Bundesgericht in besagtem
Entscheid festgehalten: "Ob ein Gläubiger aus Gründen, die in seiner Person
liegen, von dieser Möglichkeit (zur Einsichtnahme während der Frist)
wirklich Gebrauch macht oder nicht, spielt dann allerdings - mindestens
dem Grundsatz nach und unter Vorbehalt einer allfälligen Wiederherstellung
der Frist - keine Rolle" (BGE 112 III 44 Erw. 3a i.f.). Wieso dies für
den Fall, da es sich bei der Gläubigerin um eine Ausgleichskasse handelt,
im Rahmen von Art. 82 Abs. 1 AHVV nicht gleichermassen gelten sollte,
ist nicht einzusehen. Wenn sich die Vorinstanz an die Praxis für die
Wahrung eines Rückforderungsanspruchs gemäss Art. 47 Abs. 2 AHVG anlehnt,
scheint sie zu übersehen, dass dort in der Regel keine Fristen für die
Akteneinsicht mit der Möglichkeit der Kenntnisnahme des Schadens von
Belang sind.

Erwägung 6

    6.- Aus dem Gesagten folgt für den vorliegenden Fall, wo der
Kollokationsplan gemäss den unbestrittenen vorinstanzlichen Feststellungen
bis zum 25. August 1993 aufgelegt war, dass die Schadenersatzverfügung
vom 25. August 1994 gerade noch innerhalb der einjährigen Verwirkungsfrist
des Art. 82 Abs. 1 AHVV und somit rechtzeitig erlassen worden ist. Der
vorinstanzliche Entscheid ist daher aufzuheben und die Sache an das
kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es nach Prüfung der weiteren
materiellen Haftungsvoraussetzungen über die Schadenersatzklage neu
entscheide.