Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 121 V 125



121 V 125

21. Auszug aus dem Urteil vom 15. Februar 1995 i.S. Allianz Continentale,
Allgemeine Versicherungs AG gegen S. und Versicherungsgericht des Kantons
Aargau Regeste

    Art. 15 Abs. 3 lit. c UVG, Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV, Art. 90
ff. ZGB. Der Begriff "mitarbeitende Familienglieder", wie er u.a. in
Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV verwendet wird, umfasst nur die Mitglieder
der Familie im familienrechtlichen Sinn des ZGB. Das Verlöbnis - als
quasifamiliäres Rechtsverhältnis - oder das Konkubinat begründet keine
Mitgliedschaft in der Familie.

Sachverhalt

    A.- S. (geboren 1966) arbeitete bis Ende Februar 1989, damals noch
ledig, als Bäckerin/Konditorin. Am 1. April 1989 trat sie eine Stelle als
Schaustellerin im Betrieb von E., ihrer späteren Schwiegermutter, an. Über
diese Arbeitgeberin war sie bei der Allianz Continentale, Allgemeine
Versicherungs AG (nachfolgend: Continentale), obligatorisch gegen Betriebs-
und Nichtbetriebsunfälle versichert. Am 18. April 1989 verunfallte S. beim
Standaufbau, als eine rund 600 kg schwere Holzkiste von einem Gabelstapler
kippte. Dabei zog sie sich ein Kontusionstrauma des linken Beines zu. Im
August 1989 heiratete sie den Sohn ihrer Arbeitgeberin. Die Continentale
zog zur Ermittlung des versicherten Taggeldes die AHV-Lohnabrechnung der
Arbeitgeberfirma für das Jahr 1989 bei, worin für S. für die Zeit vom
1. April bis 31. Dezember ein Bruttolohn von Fr. 9'240.-- ausgewiesen
war. Diesen Verdienst rechnete die Continentale auf ein ganzes Jahr um
(Fr. 12'320.--) und setzte das Taggeld auf Fr. 27.-- fest (= Fr. 12'320.--
: 365 x 80%), was sie der Versicherten mit Verfügung vom 3. Februar 1992
eröffnete. Diese Verfügung wurde mit Einspracheentscheid vom 11. März
1992 bestätigt.

    B.- S. liess Beschwerde erheben und die Festsetzung des Taggeldes
ausgehend von einem jährlichen Einkommen in der Höhe von Fr. 34'768.20,
eventualiter vom orts- und berufsüblichen Lohn einer Schaustellerin
beantragen. Subeventuell forderte sie die Ausrichtung eines auf einem
angemessenen Durchschnittslohn basierenden Taggeldes gemäss Art. 23
Abs. 3 UVV. Das angerufene Versicherungsgericht des Kantons Aargau
qualifizierte die Versicherte als "mitarbeitendes Familienglied" im Sinne
von Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV und hiess die Beschwerde deshalb in dem
Sinne gut, dass der Einspracheentscheid aufgehoben und die Sache an die
Continentale zurückgewiesen wurde, damit diese, nach Ermittlung des orts-
und berufsüblichen Lohnes als Schaustellerin, über den Taggeldanspruch
neu verfüge (Entscheid vom 23. November 1992).

    C.- Gegen diesen Entscheid erhebt die Continentale
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie beantragt dessen Aufhebung und die
Wiederherstellung der Verfügung bzw. des Einspracheentscheides.

    S. beantragt in ihrer Vernehmlassung die unentgeltliche Verbeiständung
im Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht sowie die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
schliesst in seiner Stellungnahme sinngemäss mit dem Begehren auf
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- ...

    c) Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der
dem Text zugrunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn,
der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und
unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden,
u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut
nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können
sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und
Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 119
Ia 248 Erw. 7a, 119 II 151 Erw. 3b, 355 Erw. 5, 119 V 126 Erw. 4, 204
Erw. 5c, 274 Erw. 3a, 429 Erw. 5a, 118 Ib 191 Erw. 5a, 452 Erw. 3c, 555
Erw. 4d, 118 II 342 Erw. 3e, je mit Hinweisen; IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN,
Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Nr. 21 B IV).

    aa) Die Verordnung spricht von mitarbeitenden "Familiengliedern", "les
membres de la famille" de l'employeur travaillant dans l'entreprise und "i
familiari" del datore di lavoro collaboranti nell'azienda. Bei der Frage,
welcher Gehalt diesen Begriffen zukommt, ist der Grundsatz zu beachten,
dass das Familienrecht (und mithin seine Regelung über das Verlöbnis
[Art. 90-95 ZGB]) eine Ordnung darstellt, die von der Sozialversicherung
vorausgesetzt wird und dieser daher grundsätzlich vorgeht. Dabei
entspricht es konstanter Rechtsprechung, dass der Gesetzgeber, wenn er im
Sozialversicherungsrecht Regelungen mit Anknüpfung an familienrechtliche
Sachverhalte (beispielsweise an der Ehe, der Verwandtschaft oder der
Vormundschaft) trifft, von ihrer Bedeutung her, vorbehältlich gegenteiliger
Anordnung, diejenigen Institute - und nur diese - im Blickfeld hat, die
das Familienrecht kennt (BGE 119 V 429 Erw. 5b und 430 Erw. 6, 117 V 292
Erw. 3c, 112 V 102 Erw. 2b, 102 V 37 mit Hinweisen).

    bb) Anknüpfungen an familienrechtliche Begriffe kommen im
Sozialversicherungsrecht ausserordentlich häufig vor (vgl. hiezu
RIEMER, Berührungspunkte zwischen Sozialversicherungs- und Privatrecht,
insbesondere die Bedeutung des Privatrechts bei der Auslegung des
Sozialversicherungsrechtes durch das EVG, in Sozialversicherungsrecht im
Wandel, Festschrift 75 Jahre EVG, Bern 1992, S. 147 ff.). Der Begriff
"Familienglied" findet sich in Erlassen nahezu aller Sparten der
Sozialversicherung (vgl. z.B. Art. 3 Abs. 2 lit. d AHVG, Art. 5 Abs. 3
AHVG, Art. 14 AHVV [diese Bestimmungen sind über die Verweisnorm in Art. 2
IVG teilweise auch in der Invalidenversicherung gültig], Art. 9 ELV,
Art. 1 Abs. 1 lit. e BVV2, Art. 4 Abs. 1 UVG, Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV,
Art. 1 Abs. 2 FLG, Art. 3 Abs. 1 FLV, Art. 2 Abs. 2 lit. b AVIG). Die
französische Fassung dieser Gesetzesartikel spricht einheitlich von
"membres de la famille", in ihrer italienischen Fassung findet sich
neben dem Begriff "familiari" auch jener der "membri della famiglia". Im
Krankenversicherungsrecht werden Ausdrücke wie "Familienangehörige", "des
familles" und "appartenendo alla famiglia" verwendet (vgl. z.B. Art. 6bis
Abs. 3 KUVG, Art. 7 Abs. 1 lit. c KUVG). Wen der Begriff konkret anspricht,
lässt sich den Bestimmungen nicht entnehmen; vereinzelt (etwa in Art. 1
Abs. 2 lit. a und b FLG) werden - eigentlich zur Familie gehörende -
Personen(gruppen) davon ausgenommen.

    cc) Das Eidg. Versicherungsgericht hat dem erwähnten (Erw. 2c/aa)
Grundsatz, wonach das Familienrecht für das Sozialversicherungsrecht
Voraussetzung ist und diesem daher - vorbehältlich anderer Regelung -
grundsätzlich vorgeht, in seiner Rechtsprechung stets Rechnung getragen
(BGE 119 V 491 Erw. 4, 118 V 32 Erw. 4b, 116 V 237 Erw. 4a, 115 V 13
Erw. 3a, 115 V 320 Erw. 1b). Hievon abzuweichen besteht vorliegendenfalls
kein Anlass. Der Begriff "Familie" kann familienrechtlich enger oder weiter
verstanden werden, beispielsweise im Sinne einer Kleinfamilie (bestehend
aus Ehefrau, Ehemann und ihren Kindern im gemeinsamen Haushalt) oder,
ganz anders, im Sinne der Sippe (bestehend aus einer eine Vielzahl solcher
Kleinfamilien umfassenden Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Abstammung
[Verwandtschaft, Schwägerschaft]). Das ZGB regelt die Familie über das ihre
Grundlage bildende Element der Ehe und das diese erweiternde Element der
Verwandtschaft, welche sich insbesondere im Hinzutreten von gemeinsamen
Kindern (allenfalls Adoptions- und Pflegekindern) in den Haushalt der
Ehegatten verwirklicht (TUOR/SCHNYDER, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch,
10. Aufl., Zürich 1986, S. 141; MAHON, Kommentar BV, Art. 34quinquies,
N. 35 ff.; LÜCHINGER, Begriff und Bedeutung der Familie im schweizerischen
Recht, Diss. Zürich 1987, S. 3). Die eheähnliche Lebensgemeinschaft, das
Konkubinat, ist im ZGB nicht geregelt. Sie wird, sofern aus ihr Kinder
hervorgegangen sind, einzig über das Kindesverhältnis familienrechtlich
erfasst. Das Kindesverhältnis aber ist, wegen der fehlenden Ehe der Eltern,
kein gemeinschaftliches (LÜCHINGER, aaO, S. 13). Indessen findet sich
das Verlöbnis im ZGB geregelt. Nach schweizerischer Rechtsauffassung
stellt es einen familienrechtlichen Konsensualvertrag dar, welcher
allerdings keinen einklagbaren Anspruch auf Erfüllung, also auf den
Abschluss der Ehe einräumt, immerhin aber einen "rapport quasi familial"
begründet (TUOR/SCHNYDER, aaO, S. 143 ff., DESCHENAUX/TERCIER, Le mariage
et le divorce, 3. Aufl., Bern 1985, S. 33 f.). Abgesehen von gewissen
prozessrechtlichen Folgen (z.B. Ausschliessungsgrund [Art. 22 Abs. 1 lit. a
in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 OG], Zeugnisverweigerungsgrund [Art. 75
BStP], Amtshandlungsverbot [Art. 10 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG]) entfaltet das
Verlöbnis rechtsverbindliche Wirkungen - nach unumstrittener Auffassung
und nur unter bestimmten Voraussetzungen - lediglich für den Fall, dass
es gebrochen wird. Es zielt zwar auf den Eheschluss ab, stellt aber
insbesondere keine Ehe dar und kann für sich allein nicht als Familie
bezeichnet werden (LÜCHINGER, aaO, S. 14).

    dd) Seitens des Familienrechts ist nach dem Gesagten für den Begriff
"Familie" der formelle Eheschluss qualitativ entscheidend, sei es, um sie
selbst zu begründen, sei es, um verwandtschaftlich rechtsverbindliche
Beziehungen zu ihr zu knüpfen. Mit diesem familienrechtlichen Gehalt
ist der Familienbegriff für das Sozialversicherungsrecht vorausgesetzt
und für dieses - immer vorbehältlich anderslautender Regelung -
verbindlich. Findet im Sozialversicherungsrecht, wie eben beispielsweise im
Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV ein dem Familienrecht entstammender Begriff
("Familienglieder", "les membres de la famille", "i familiari")
Verwendung, kann bei dessen Auslegung der familienrechtliche Gehalt
nicht unberücksichtigt bleiben. Deshalb geht es nicht an, eine mit einem
Familienglied verlobte oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Person
sozialversicherungsrechtlich als der Familie zugehörig zu betrachten, wenn
dies in der anzuwendenden Regelung nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Der
Auslegung zugänglich sind somit lediglich Fragen, welche den mit dem
Begriff "Familienglieder", "les membres de la famille" bzw. "i familiari"
abgedeckten Verwandtschafts- oder Verschwägerungsgrad betreffen, oder ob
er beispielsweise auch Pflegekinder umfasst oder nicht. Eine solche Frage
stellt sich indessen im vorliegenden Fall nicht. Da die Versicherte im
Zeitpunkt des Versicherungsfalls weder als Konkubinatspartnerin noch als
Verlobte ein Familienglied der Versicherungsnehmerin war, verbietet sich
eine Anwendung von Art. 22 Abs. 2 lit. c UVV. Dies führt zur entsprechenden
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.